Finest Worksongs – die R.E.M.-Discografie Das Gesamtwerk der vielleicht beweglichsten Dinosaurier der Rockgeschichte im Schnelldurchlauf. text peter felkel und albert koch

I ChronicTownIEP, 1982)

I.R.S. [nicht lieferbar) Der Pop erobert die Garage. Ein paar Monate bevor die EP I CHRONIC TOWN erscheint, haben sich R.E.M. mit ihrer Debütsingle „Radio Free Europe“ schon einen Namen im Untergrund gemacht. Und plötzlich steht der Gitarren-Pop wieder auf dem Zettel, neben Punk und Hardcore. Die frühen Songs von R.E.M.tragen das Echo von The Velvet Underground in sich. Die Musik hört sich 22 Jahre später seltsam verhuscht und zeittypisch an, mit dem hektisch klöppelnden Post-Wave-Schlagzeug und der dünnen 80er-Jahre-Produktion – damals wirkte sie anheimelnd natürlich wie ein Lagerfeuer, chro-NIC TOWN mit dem frühen Klassiker „Gardening At Night macht deutlich: R.E.M. gehen den dritten Weg. Mit einem Gegenentwurf zu den grellbunten, kreischenden Pop-8oer-Jahren, aber auch einem Gegenentwurf zum Gegenentwurf der Pop-80er-Jahre, dem Hardcore, der damals im Untergrund blühte. R.E.M. waren auf dem Weg in die neunziger Jahre: straight into Alternative Rock.

Murmur 1983

I.R.S./Capitol Michael Jackson und Duran Duran waren gerade dabei, die Popwelt unter sich aufzuteilen, Madonna veröffentlichte ihre ersten Singles, The Police ihr letztes Album – und irgendwo abseits, weit, weit weg vom Herzschlag des Rock-Biz brachten Michael Stipe, Peter Bück, Bill Berry und Mike Mills ihren ersten Longplayer heraus, murmur hört sich auch heute, über 20 Jahre später, irgendwie seltsam Sepiafarben an, altersweise, aus der Zeit gefallen und ganz gewiss nicht wie ein Debütalbum. Vielmehr verbinden sich hier Sixties-Harmonieseligkeit und 80s-Düsternis auf das Schönste zu einem so melodiösen wie mysteriösen Folkpop-Werk, wobei mindestens das Remake der allerersten R.E.M.-Single.“.Radio Free Europe“. sowie“.Talk About The Passion“ als Klassiker im Band-Katalog gelten dürfen. Von welchen Dämonen Michael Stipe in seinen eher gemurmelten denn gesungenen Texten spricht, wollen wir gar nicht wissen.

Reckoning (1984

.R.S./Capitol Den düsteren Beschwörungen von murmur folgte der rosarote Jinglejangle-Morgen: Wenn der so häufig bemühte Vergleich zwischen R.E.M. und den Byrds jemals zutraf, dann bei diesem in schwelgerischen Melodien geradezu badenden, von filigransten Gitarrenarabesken ornamentierten und einem leichtfüßigen Folk-Groove getragenen Werk, das übrigens – so viel Selbstlob muss sein – vom ME in der Juniausgabe 1984 mit dem begehrten“.Platte des Monats‘-Lorbeer geadelt wurde. „Harborcoat“, „So. Central Rain“,“.Pretty Persuasion“,“.Seven Chinese Brothers“, „Don’t Go Back To Rockville“ und all die anderen schimmernden Songperlen klingen auch heute noch so klar und erfrischend wie ein Gebirgsbach. Als“.Ourroad record“. bezeichnete Gitarrist Peter Bück das Album Jahre später, und tatsächlich ist auf RECKONING oft die Rede von Abschied, Einsamkeit und Briefen, die nie abgeschickt wurden.

FablesOfThe Reconstruction (1985)

I.R.S./Capitol Das Cover erratisch, die Texte – so weit überhaupt zu verstehen – desperat, die Musik komplex, hermetisch, klaustrophobisch beinahe: R.E.M. nahmen ihr drittes Album während eines eisigen Londoner Winters auf, und entsprechend dunkel, düster und dräuend klingen ihre Lieder diesmal. Keine Spur mehr von der fast schon nonchalanten Zugängüchkeit des Vorgängerwerkes, Und doch: Das dritte Album der Band. r-ABLES OF THE RECONSTRUC-TION. ist das. was man einen „grower nennt. Unter Leitung der britischen Produzentenlegende Joe Boyd entstand eine Platte, die einem mit jedem Hören mehr ans Herz wächst. Wer erst einmal hinter die Finesse von „Maps And Legends“,“.Driver 8″ und“.Feeling Gravity Pulls“ gekommen ist, möchte am liebsten immer dann, wenn die Schatten durchs Fenster kriechen und die Welt da draußen kälter wird, diese Musik auflegen. Denn sie wärmt.

Lifes Rieh Pageant (1984)

I.R.S./Capitol Fast metallen die Gitarre, das Schlagzeug mit mehr Bums, Stipes Gesang so präsent wie nie zuvor: „Begin The Begin‘ klingt wie nichts, was R.E.M. zuvor gemacht haben – und das ist erst der Anfang, lifes rich pageant darl als erste Zäsur in der Karriere des Quartetts aus Athens, Georgia, gelten: als Abkehr vom Introspektiven, vom Mysteriösen, vom Chiffrierten. Selbstbewusst und muskulös tönt die Band hier, ohne dass man deshalb gleich eine Hinwendung zum Götzen Mainstream oder gar zum Popanz Stadionrock beklagen müsste. Leider hält das Songmaterial auf LI-FES rich pageant – vom Ehrfurcht gebietenden „Fall On Me“ einmal abgesehen – mit diesen Ambitionen nicht so ganz Schritt, auch nicht mit den zunehmend „politischer“ werdenden Texten Stipes. Nennen wir es also: ein Übergangswerk. Oder: ein Dokument der Suche nach neuen Möglichkeiten.

Dead Letter Office

R.S./Capitol (1987) Die Nummer eins in einer Reihe von zahlreichen Raritäten-, Singles- und Hit-Kopplungen der ersten R.E.M.-Jahre, dead Letter Office, eine Sammlung von Outtakes und B-Seiten, gibt eine Ahnung davon, wie die frühen Auftritte von R.E.M. ablaufen mit Spontanimprovisationen, seltsamen Coverversionen, Instrumentenwechseln und, ähem, Span. Die Compilation, die sich aus immerhin fünf Jahren R.E.M. speist, klingt homogen wie ein reguläres Album. DEAD LETTER OF-FICE hat wurzelbehandelnde Coverversionen L.There She Goes Again “ und“.Pale Blue Eyes“ von The Velvet Underground,“.Toys In The Attic“ von Aerosmith, Roger Millers „King Of The Road“), eine frühe Version von“.Ages Of You“ LBurning Down“] plus das Surf-Instrumental“.White Tornado“. Die CD-Version der Platte enthält die fünf Tracks der chronic town EP als Bonus,

Document (1987)

I. R.S./Capitol Der Quantensprung: Angesichts dieses Meisterwerkes wird einem auch die Bedeutung von LIFES rich PAGEANT bewusst – es ist die einer Skizzensammlung, einer Spielwiese, auf der die Ideen und Entwürfe erprobt wurden, die jetzt, nur ein Jahr später zu diesem farbenprächtigen, wahrhaft atemberaubenden Panorama verarbeitet werden. Und was sind das auch für großartige Songs: „It’s The End Of The World As We Know 1t“.“.The One I Love‘. definitiv kein Liebeslied. ..Welcome To The Occupation“. „Disturbance AtThe Heron House“. „Exhuming McCarthy“. Subversive Klassiker. Eine verdammte Hymne an der anderen. Poesie! Energie! Ekstase! Rock’n’Roll! Bück. Mills und Berry musizieren wie im Rausch, Stipe singt, als ginge es um sein Leben. Scott Litt hat wunderbar transparent produziert. „LennyBruce is not afraid“ – wir auch nicht mehr Endlich. Ein Wunder.

Green (1988)

WEA Vom Indiezum Major-da sind Unkenrufe wohlfeil. Natürlich gingen die vier Aufrechten dem Big Biz nicht auf den Leim, aber so ganz verleugnen lässt sich das ungleich größere Studiobudget nicht. Pete Bück – um Vergleiche nie verlegen – sah, der Mischung aus folkiger Lakonie und rockigem Bombast wegen, später gar Parallelen zu Led Zeppelin. Richtig ist: Beizeiten fühlt man sich hier ins „Wall Of Sound‘-Universum von Phil Spector versetzt. Die Songs indes sind erneut über jeden Zweifel erhaben. Der mild ironische Opener“.Pop Song 89″, dazu „Stand“ und „Orange Crush “ werden heute noch sehr gerne live gegeben. Am schönsten indes kommen das zärtliche, von Mandolinenklängen getragene“.You Are The Everything“ (vergleiche: Led Zeps „Going To California“) und das sanft fließende „World LeaderPretend“. (PFI 4,5 Eponymous IRS/Capitol[i988) Und noch ein Singles- und Raritäten-Samplerderl. R.S.-Jahre. Wer unbedingt die Originalaufnahme der Single „Radio Free Europe“ braucht, die R.E.M. für das Minilabel-Hiptone aufgenommen hatten, und eine alternative Version von „Gardening At Night“ und den 12-lnch-„Mutual Drum Hörn Mix „von „Finest Worksong“ und das unveröffentlichte „Romance“, der muss zugreifen bei dieser Zusammenstellung.

OutOfTime(1991)

WEA Das soll ihnen mal einer nachmachen: erst drei Jahre Plattenpause, die bis dato längste in der Bandgeschichte, und dann mit einem Album reüssieren, das in allen Ländern des Erdballs, die über Elektrizität verfügen, auf Platz 1 rauscht. Ein Erfolg auch noch, behaupten zumindest die Beteiligten, der völlig unerwartet kam. Naja. So viel Mainstream war jedenfalls nie bei Stipe, Bück, Mills und Berry: „Radio Song“ – feat. Rapper KRS-1 groovt, „Losing My Religion“ ist ein wunderbar schillerndes Kleinod, „Shiny Happy People“ klingt auch 13 Jahre später dämlich, der Rest mittelmäßig bis okay. Ein R.E.M.-Album auf dem kleinsten Nenner. Aber wer mag schon gegen Chartsplatzierungen und Verkaufszahlen argumentieren? That’s tbem in the Spotlight.

Automatic For The People [1992]

WEA Der Meilenstein. Das Wunderwerk. Die Platte, auf der jede Note, jedes Wort, jede Nuance stimmt.“.Hey. kids, Rock’n’Rolt“, aber auf eine ganz sachte, sanfte, fließende Art – wie mit einer Kerze in eine neblige Novembernacht gezeichnet. Die Gitarre in „Drive‘! Die Poesie von „Man On The Moon“! Der Schmerz in „Everybody Hurts“! Die Sehnsucht in „Try Not To Breathe“! Die Streicherarrangements! Stipes Gesang! Berühren Bück, Mills und Berry überhaupt ihre Instrumente? Diese Lieder verfügen über eine lyrische und melodische Kraft, die einem den Atem raubt, ihre Grandezza und Eleganz lassen sie wie einen Leuchtturm aus dem grauen Meerder populären Musik ragen. Natürlich ist das Pop und Folk und Rock, aber in dem Sinn, wie auch Van Morrisons astral weeks. Nick Drakes five LEAVES LEFT, Bob Dylans blonde on BLONDE oderdas Debüt derTindersticks Pop und Folk und Rock sind. Pure Magie. Nicht weniger.

Singles Collected

I.R.5./Capitol [1994] Anfang der 90er Jahre kommen auch Friseusen auf den Geschmack an R.E.M. Dank „Losing My Religion“. Da hatten Stipey und Co. schon längst ihre Plattenfirma gewechselt. Was den alten Vertragspartner allerdings nicht daran hindert, in schöner Regelmäßigkeit mehr oder wenig lieblose Zusammenstellungen auf den Markt zu werfen. Singles collected ist die Ausnahme von der Regel, weil bei dieser Compilation der thematische Zusammenhang zu erkennen ist: Die frühen Singles und ihre B-Seiten von „Radio Free Europe“ bis“.Finest Worksong „. Allein die Gänsehaut-Akustikversion von „Maps And Legends . im Mai 1987 in „McCabesGuitarShop“ in Santa Monica. Kalifornien, mit einem Cassettenrekorder aufgenommen, ist ihr Geld wert. Auf die“.Best Of“ mit „The One I Love“ und „Losing My Religion “ müssen die Friseusen leider immer noch warten.

Monster [1994)

WEA Eine Band in der Midlife-Crisis. ein Album, das ums Haar das Ende eingeläutet hätte, und ein richtig schlechtes noch dazu: Als wollten sie nachträglich automatic for the people ungeschehen machen, lassen sie die Gitarren dröhnen, die Drums rumpeln, ergötzen sich an einem Krawall, der Punk sein soll, aber doch nur die Pose von vier Intellektuellen ist, die nicht wissen, wohin. Immerhin: „What’s The Frequency, Kenneth funktioniert noch relativ gut. Aber danach wird’s dann ganz schnell ganz finster, wird unausgegorenes Songmaterial undifferenziert herausgebolzt. Und wenn sich R.E.M. für eines zu schade sein sollten, dann dafür: unausgegorenes Songmaterial undifferenziert herauszubolzen. Diese Platte dürfen Sie getrost auslassen.

NewAdventures In Hi-Fi [1994)

WEA tine bemerkenswerte Kuckkehr zu alter Form und damit ein so wichtiger wie leider heillos unterschätzter Bestandteil des R.E.M.-Kataloges, haben die „neuen Abenteuer“ mehr mit – sagen wir mal – DOCUMENT gemein als mit den stilistisch und qualitativ so unterschiedlichen Vorgängern. Es ist dies ein weiteres „road record“, die-trotz einer Gesamtlaufzeit von 65 Minuten – fast durchgehend großartigen Songs wurden auf Tour eingespielt: in Garderoben, bei Soundchecks oder auch mal auf die Schnelle im Studio. „How The West Was Won And Where It Got Us“, „Undertow“ und „Leave“ gehören definitiv zum Besten, was R.E.M. je geschrieben haben, „E-Bow The Letter“ wird durch Patti Smiths Stimme veredelt. „Electrolite“ weist in die Zukunft. Auch diese hier: „Platte des Monats“ im ME.

Up 1998

WEA Überraschungen ohne Ende.

Die böse: Bill Berry hat seinen Hut genommen. Die gute: UP ist wieder ein sehr feiner, dabei untypischer R.E.M.-Longplayer geworden. „Airportman“ schwebt mit flächigen Soundscapes und Stipes weit hinten im Mix gemurmelten Sentenzen irgendwo zwischen Track und Song und bildet den Auftakt für ihr … -ja. für was? Experimentellstes? Krautigstes? Elektronischstes 7 Postrockigstes Album gar? Hört sich jedenfalls verdammt nach einem „Wenn schon alles anders, dann richtig anders „-Statement an und hat definitiv mehr mit Radiohead zu tun als mit RECKONING oder MON-STER. Komplexe Klangskulpturen sind das. die sich indes bei intensivem Hören zu kapitalen Ohrwürmern entwickeln, obwohl sie der konventionellen Strophe-Refrain-Strophe-Struktur entsagen. Besonders gelungen: „You re In The Air . Und „Daysleeper ist ein fernes Echo aus alten Zeiten. Das einzige.

Reveal(2001)

A vun Konsolidierung auf hohem Niveau könnte man reden oder von „Elder statesman -Pop. klänge das nicht 50 sehr nach abgezocktem Profitum, vulgo: nach gepflegter Langeweile- Solches würde diesem bemerkenswert austarierten Album nicht gerecht. Die Band-Statik ist vier Jahre nach Bill Berrys Abgang wieder in Ordnung, die Song-writing-Skills sind so ausgeprägt wie eh und je: Das Ergebnis klingt wie eine Synthese aus dem unaufgeregten Laissez-faire von NEW ADVENTURES IN HI-FI und der Grenzen auslotenden Abenteuerlust von UP. Ob man, wie Peter Bück, reveal darob gleich einen ähnlichen Stellenwert wie Automatic for the people beimessen muss. sei dahingestellt. Tatsache ist. dass es gewiss nicht viele Bands gibt mit der Gabe, nach einer über 20-jährigen Karriere und nach zwölf Alben derart famose Songs wie „All The Way To Reno“ oder „Summer Turns To High“ zu schreiben, ohne sich dabei selbst zu plagiieren.

In Time – The Best Of R.E.M. 1988-2003(2003)

WEA Nicht völlig überflüssig, aber sicherlich auch nicht die erste Wahl, um einem Unbedarften die Magie von R.E.M. nahe zu bringen. Was man mit IN TIME – THE BEST OF R.E.M. 19882003 erhält, ist ein weitgehend überraschungsarmer Querschnitt aus den Alben von GREEN bis reveal, zwei neue Songs [„Bad“,“.Animal“l. die okay, aber nicht unbedingt essenziell sind, und allerdings nur bei der Erstauflage – eine Bonus-CD mit Live-, Demo- und alternativen Versionen sowie anderen Raritäten. Das ist phasenweise recht interessant, vereinzelt sogar grandios, etwa die Konzertmitschnitte von „Drive“ und“.The One I Love“. Allein: Wer braucht’s? Fans haben eh Ifast] alles, R.E.M.-Novizen sind für den Anfang mit document, AUTOMATIC FOR THE PEOPLE und NEW AOVEN-TURES IN Hi-Fl auf jeden Fall besser bedient.