Kante

In der Zuckerfabrik

Hook Music/Indigo

Die von der Popszene verschwundenen Hamburger versammeln ihre Theatermusik der letzten acht Jahre.

Falls Sie die Rubrik „Lange nichts gehört von“ in  der ME-Ausgabe 11/2014 verpasst haben sollten: Die große, schmerzlich vermisste Band Kante, deren letztes reguläres Album DIE TIERE SIND UNRUHIG 2006 von uns zur „Platte des Jahres“ erkoren wurde, hat sich nicht etwa aufgelöst – sie hat sich vielmehr in den letzten acht Jahren weitestgehend aus dem Pop-Kontext ausgeklinkt, um stattdessen in einem anderen Kontext aufzugehen: dem Theater.

Denn was mit einigen Songs für die Revue „Rhythmus Berlin“ am Berliner Friedrichstadtpalast begann (zu finden auf KANTE PLAYS RHYTHMUS BERLIN von 2007), nahm bald darauf im Rahmen einer Inszenierung von Peter Handkes „Spuren der Verirrten“ am Wiener Burgtheater Fahrt auf – und entwickelte sich für das Quintett um Peter Thiessen schließlich zu einer langjährigen Obsession: Als Bühnenband fügten sich Kante in Stücke am Dresdner Staatsschauspiel, an der Berliner Schaubühne und am Münchner Residenztheater ein, vertonten Texte, Gedichte und Partituren zu Inszenierungen nach Sophokles, Goethe, Voltaire, Dostojewski und Bertolt Brecht. Entsprechend stellen die 15 Stücke auf IN DER ZUCKERFABRIK ein eher heterogenes Sammelsurium dar.

Man hört einiges an Musik, die ganz offensichtlich nicht für den häuslichen Hörgenuss entwickelt wurde, wie etwa die etwas sperrigen Stücke zu Brechts „Der gute Mensch von Sezuan“ nach der Partitur von Paul Dessau, in denen mal schräg zu jazzigen Versatzstücken gequäkt („Das Lied vom Sankt Nimmerleinstag“), mal zu düsteren Klangatmosphären rezitiert („Arioso der Shen Te“), mal das proletarische Protestlied musikalisch upgedatet wird („Lied vom achten Elefanten“). Andererseits sind da nicht wenige Songs, die uns endlich, endlich diesen typisch satten Kante-Sound zurückbringen. Der eröffnende Titelsong zu Voltaires Romanparodie „Candide oder der Optimismus“ (in welchem Thiessen in die Rolle eines entflohenen Sklaven schlüpft) ist so ein Stück, das mit seinem wuchtigen Drive, seinen Bottleneck-Gitarrensounds, seinen erhabenen Bläserarrangements für all das steht, was das Klangbild dieser Band auszeichnet: Kraft, Opulenz, stilis­tische Beweglichkeit, Innovationslust, Liebe zum Detail.

Im Folgenden wird mit „Morgensonne“ aus Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ der Hochkultur-Muff aus dem Theatersaal gerockt, dass es nur so eine Art hat; wird mit „Das Erdbeben von Lissabon“ ein Langgedicht Voltaires mittels eines derart lässigen Mali-Grooves vertont, dass man schon mal ein Interesse an Langgedichten aus dem 18. Jahrhundert entwickeln kann; werden mit „Donaudelta“ aus dem Handke-Stück die großen Flussdeltas dieser Welt zu einer Musik besungen, die einen auf sanften Harmoniegesangswellen davonträgt; findet sich mit „Wenn ich dich begehre gegen jede Vernunft“ eine Ballade auf diesem Album, die man bereits jetzt guten Gewissens zu den ergreifendsten Liebesliedern dieses Jahres zählen darf. In naher Zukunft soll übrigens ein reguläres Kante-Album folgen.