Locas In Love

Kalender

Staatsakt/Caroline VÖ: 20. November 2015

Sechs Minuten lange Walzer, 16 Seiten Aufsatz, Vonnegut-Zitate: Der Schlaumeisenpop der Kölner erreicht eine neue Dimension.

Björn Sonnenberg hat zum neuen Album seiner Band Locas In Love einen Aufsatz verfasst, der fast so lang ist wie Ursula von der Leyens – in Teilen mutmaßlich auch noch zusammengeklaute – Dissertation. Die Worte fließen, die Musik auch: Erst im Frühjahr veröffentlichten die Kölner ihr genial betiteltes Doppelalbum USE YOUR ILLUSIONS 3&4, nun also noch im selben Jahr KALENDER: Zeit ist ein seltsames Symptom.

Auch darüber schreibt Sonnenberg im Essay zur Platte, den man gut lesen kann – aber nicht zwingend studieren muss, denn die Lieder selbst sagen mehr als genug. „All meine Großeltern“ beschreibt das definitive Ende der Jugend als den Moment, an dem es keine Omas und Opas mehr gibt. Der normale Gang der Dinge, „andererseits werde ich mich nie daran gewöhnen, dass alles ständig stirbt“. Gehört hat man bis zu dieser Zeile nur eine trockene Gitarre, ein Cello und Sonnenbergs Gesang, der genervt und oberschlau zugleich klingt, wie der Monolog eines jungen Professors, dem die Studenten schon nach dem ersten Proseminar auf den Sack gehen.

Funktionieren die Stücke nicht, können Locas In Love daher auch mal unerträglich werden. Aber auf KALENDER passt alles. Die Stimmung ist wolkenverhangen: „Alphabet“ und „Ultraweiß“ handeln von Neuanfängen und Unschuld, jedoch so reflektiert und nachdenklich, dass für so Naivitäten wie Euphorie kein Raum bleibt. Spätestens mit dem sechsten und besten Stück „35 Tausend Millionen“ hat die Band die Stimmungslage dieser Platte etabliert: ein humanistischer Walzer gegen den Neoliberalismus, im Titel die kaum noch vorstellbare Zahl, die Vizekanzler Gabriel im Sommer als Volumen des Rettungspakets für Griechenland genannt hat. Toll, wie nahe Locas In Love hier den von der Band sehr geschätzten Walkabouts oder den Krefelder Walzerkönigen M. Walking On The Water kommen. Später fordert Sonnenberg in seinem „Gebet“ einen Leistungsnachweis von Jesus, zieht zu vertrackten Rhythmen in die „Ruinen“ und wünscht schließlich „Gute Nacht“, um selbst noch etwas wach zu bleiben – was bei diesem schlaftrunkenen Vortrag kaum vorstellbar ist.

Vergessen dürfen wir nicht die abstrakteren, kühleren, elektronischen Lieder, für die Stefanie Schrank zuständig ist. Ein großes Album, schon das zweite von Locas In Love in diesem Jahr, beinahe absurd, aber Sonnenberg zitiert korrekterweise Kurt Vonnegut: „As an earthling, I had to believe whatever clocks said – and calendars“.