Platten

„Ihr wollt Retro, immer nur Retro. Denn ihr seht doch, es geht nicht ohne Retro. Voller Sehnsucht schreit ihr Retro“

„Retro“, Peter Schilling, 2004

Betr.: Retromania. Simon Reynolds hätte seine helle Freude am diesmonatigen Plattenteil. Es retromaniert an allen Ecken und Enden. Der einstige Smiths-Gitarrist Johnny Marr veröffentlicht nach einem Jahrzehnt wieder ein Album, auf dem sein Name steht (und irgendwann wird Morrissey doch „ja“ sagen zur Smiths-Reunion, und wir werden ihn verfluchen dafür). Huber & Dorfmeister aka Tosca reviveln den Wiener Downbeat-Sound, circa 1995, Kavinsky tut dergleichen mit dem Ed-Banger-Sound, circa 2005, Dawn McCarthy und Bonnie „Prince“ Billy covern die Songs der Everly Brothers und Jamie Lidell liefert mit chirurgischer Präzision ein fast schon ärgerliches Funk-Kopisten-Album ab. Wem das alles zu rückwärtsgewandt ist, dem empfehlen wir EXAI, das elfte Album von Autechre. An der Musik des Techno-Avant-Duos kann man sich auch nach mehr als 20 Jahren noch abarbeiten, meint Plattenmeister Koch

A$AP Rocky

Long.Live.A$AP

A$AP Worldwide/RCA/Sony Music

Auf seinem offiziellen Albumdebüt nähert sich der 24-jährige Rapper Rakim Mayers aus Harlem vorsichtig dem HipHop-Mainstream.

Mit nur einer Handvoll Songs wurde Rakim Mayers im Sommer 2011 zum Superstar einer post-regionalen Rapwelt. Der damals 22-Jährige borgte sich den zähflüssigen Screw-Sound aus Texas, flowte mit der Arroganz eines waschechten New Yorkers und kokettierte mit einem im HipHop eher ungewöhnlichen Männerbild: Ich bin jung, dürr, „pretty“ und gebe die Kohle, die andere in Drogen investieren, am liebsten bei Modedesignern wie Thom Browne und Raf Simons aus. A$AP Rocky verkaufte den Gangsta-Rap an die Indie-Ideologen und die Hipster-Kids und lebte den Traum von einer vollends vernetzen Popwelt: Die Musik war mehr Grimes als Grime, so als wäre A$AP nicht von den Straßen Harlems, sondern von einem kranken Tagtraum des Tumblr-Gottes hervorgebracht worden. Mit seinem offiziellen Debütalbum Long.Live.A$AP gelingt A$AP Rocky nun Erstaunliches. Er löst sich von dem trendigen Blog-Sound, der ihn vor zwei Jahren großgemacht hat, öffnet sich vorsichtig dem HipHop-Mainstream, spielt nach dessen Regeln (Majorlabel, Hitsingles, massig Gäste auf dem Album) – und reüssiert dennoch auf ganzer Linie. Egal ob A$AP über wachsweiche New-Age-Flächen rappt oder über knüppelharte Drums; egal ob er gemeinsam mit Skrillex das Diskothekeninventar („Wild For The Night“) oder zusammen mit Kendrick Lamar und Danny Brown einen klassischen 90er-Jahre-Beat auseinandernimmt („1 Train“): Long.Live.A$AP mag vielleicht wie eine Compilation klingen, wie eine Sammlung von Hits aus den unterschiedlichsten Welten und Epochen. Aber das Album wird vortrefflich zusammengehalten von A$AP Rockys Wunderkind-Aura, der schneidenden Präsenz seiner Stimme und nicht zuletzt von seinem Talent als MC. Ganz klassisch eben.

***** Davide Bortot

Ellen Allien

LISm

BPitch Control/Rough Trade (VÖ: 22.2.)

Techno-informierte Avantgarde: Der „Soundtrack“ zu einer Tanzperformance.

Es dauert schon ein bisschen, nämlich fast 27 Minuten, bis die Bassdrum einsetzt. Die Bassdrum, das signifikanteste Merkmal des Techno ist unerheblich geworden auf dem ungewöhnlichsten Album von Ellen Allien. LISm besteht aus dem gleichnamigen, fast 45-minütigen Track, der als musikalische Untermalung für die Tanzperformance „Drama per Musica“ konzipiert war – im März 2011 im Centre Pompidou in Paris unter der künstlerischen Leitung von Alexandre Roccoli und Sevérine Rième, aufgeführt. Das Urmaterial hat die Berliner Produzentin im Lauf des vergangenen Jahres ausgearbeitet, Elemente weggelassen, andere hinzugefügt. Auf diese Weise entstand eine der wohl erstaunlichsten musikalischen Entwicklungen der vergangenen Jahre – vom Techno hin zu einer techno-informierten Avantgarde-Musik. Musique Concrète, minimalistische Gitarrenloops, Soundscapes, Pop-noir-Gesang, Orchester-Ambient, Piano-Impressionismus. Jeder darf für sich das persönliche Referenzköfferchen öffnen und Ähnlichkeiten mit Claude Debussy, frühen Tangerine Dream, Brian Eno, Harold Budd oder Godspeed! You Black Emperor heraushören. Musik, die sich manchmal nur über ein fast unhörbares Feedback definiert, die eine Geschichte erzählt, über die Strecke von einer Dreiviertelstunde den Weg von abstrakt bis konkret geht, bis sie sich schließlich in einer Art Novelty-Elektronik kathartisch auflöst. Ziemlich großartig.

***** Albert Koch

Apparat

Krieg und Frieden (Music For Theatre)

Mute/Good To Go (VÖ: 22.2.)

Techno-informierte Avantgarde II: Der „Soundtrack“ zu einem Theaterstück nach Leo Tolstoi.

Die Fakten im Schnelldurchlauf: „Krieg und Frieden“, historischer Roman von Leo Tolstoi von 1868/69, Klassiker der Weltliteratur, Thema: der russische Widerstand gegen den Einmarsch Napoleons aus der Sicht von Aristokraten. Sebastian Hartmann: bedeutender, sehr innovationsfreudiger Theaterregisseur, inszeniert „Krieg und Frieden“ als Theaterstück für die Ruhrfestspiele in Recklinghausen. Sascha Ring alias Apparat: elektronischer, in letzter Zeit auch nicht-elektronischer Musiker, der die Musik zu Hartmanns Inszenierung beisteuern soll. Wir wollen keine alten Wunden aufreißen, müssen aber konstatieren, dass Sascha Ring nach dem wirklich nicht so tollen THE DEVIL’S WALK von 2011 mit KRIEG UND FRIEDEN (MUSIC FOR THEATRE) ein ziemliches Pfund in die Waagschale wirft. Es beginnt mit „44“, einem wehmütigen Stück neoklassizistischer Kammermusik. In der sich anschließenden „Noise Version“ verschmelzen die Streicher zu einem brodelnden Amalgam aus Ambientflächen. Und so geht das weiter: Klangflächen, deren Texturen schwer dechiffrierbar sind, bauen sich auf, ebben ab, erzeugen Spannung und deren Auflösung, vereinzelte Bläser und Streicher werden an die Oberfläche dieses musikalischen Flusses gespült und irgendwann (bei „PV“) kommt Apparat sogar in die Nähe des klassischen Popsongs.

**** Albert Koch

The Asphodells

Ruled By Passion, Destroyed By Lust

Rotters Golf Club/Rough Trade

Mit neuem Adlatus erkundet Andrew Weatherall frühen elektronischen Pop.

Man darf nicht den Fehler machen und denken, er habe nachgelassen. Andrew Weatherall ist heute nicht jeden Tag an einer neuen heißen Sache dran. Er weiß aber sehr wohl, wo Neuartiges gärt. Das zeigen seine Remixe für The Horrors, Wooden Shjips und Cut Copy. Besonders gut versteht er sich derzeit mit Tim Fairplay von der englischen Elektro-Band Battant. Der ist sein musikalischer Partner bei The Asphodells, die für eine Kurskorrektur stehen. In letzter Zeit beschäftigte sich Weatherall mit steinalten Einflüssen, die bis zum Rockabilly zurückgingen. Jetzt setzt er da an, wo er im Jahr 2000 schon mal mit der Compilation Nine O’Clock Drop auf dem Nuphonic-Label war. Gesänge und Gitarrenspiel orientieren sich an den frühen OMD und New Order, die funktionale Unterkühltheit in der Performance haben sich The Asphodells bei Kraftwerk abgeguckt, das Insistieren auf stets dieselben Beats ist man von anderen Kraut-Pionieren gewohnt. Auf dieser Basis zieht sich ein gleichmäßiger Flow durch das Album. Ein paar markante Stellen gibt es trotzdem.

**** Thomas Weiland

Vom blues nur noch ein loop

Nick Cave & The Bad Seeds

Push the Sky away

Bad Seed Ltd./Rough Trade (VÖ: 15.2.)

Der mittelalte Mann und seine mittelalte Meute wagen Experimente. Gehört das nun noch zum Alten oder endlich zum Neuen Testament des Rock?

Grinderman war eine Bestie. Alt und räudig, und doch ein Alphatier, gezielte Bisse setzend. Wer über dieses Nebenerwerbsgewolfe von Nick Caves Bande schmunzeln wollte, tat dies besser aus sicherem Abstand. Aber auch auf Dig!!! Lazarus Dig!!!, dem letzten Album der Bad Seeds von 2008, blies Cave zur Hatz: Rocksoul, Soulrock, fieser Blues. Push The Sky Away scheint nun seine Rückkehr ins Balladenfach zu markieren. Ein Wechselspiel, das sich durch die 30-jährige Seeds-Geschichte zieht: Einmal tost die Gang, dann schwelgt sie wieder usw. Senken wir also die Stimme, wie Cave es hier tut, und fragen: Ist das jetzt das Alterswerk des Ü-50-Musikers samt Ü-50-Musikantenverein?

Kollege Pilz schreibt vorn in diesem Heft: ganz klar Alterswerk! Doch wer diesen Begriff mit den entsprechenden Klischees gleichsetzt, die es sich sogleich im Ohrensessel und an der Kuchentafel gemütlich machen, kriegt nicht mal die halbe Wahrheit. Stimmt schon, Push The Sky Away ist die Arbeit eines Künstlers, der dank der Weisheit seines Alters sich einen größeren Abstand gestattet zu dem, was um ihn herum hektisch Kreise zieht. Und der durch den Abstand, den er sich genehmigt, wiederum zu Schlüssen größerer Weisheit gelangt. Doch gleichzeitig wagt Cave mit dieser Platte Experimente: Er schreibt sich nicht mehr als Geschichtenerzähler wund, sondern zieht sich auf die Beobachterposition zurück, schaut den Geschichten gewissermaßen beim Entstehen zu, staunt Begriffen und Bedeutungen durch die unergründlichen Weiten des Internets hinterher, erlaubt sich Spielereien, Leichtigkeiten, altersgeile Albernheiten – und reimt zur Krönung des „Higgs Boson Blues“ „Hannah Montana“ auf „African Savannah“. Auch wenn drum herum natürlich wie seit ehedem das Unheil herangrollt und der Protagonist kaum zehn Schritt weit kommt ohne Dämonenbefall oder wenigstens einen ordentlichen Taumel.

Noch auffälliger ist freilich das musikalische Experiment, für das diese Platte steht. Nach dem Abschied des langjährigen, auf Formvollendung bedachten Band-Arrangeurs Mick Harvey kehrt Waren Ellis mit eisernem Besen. Der ewige Blues bleibt allgegenwärtig, aber oft wird er nur als dunkler Loop durch den Song geschleift. Eine Gitarre glüht auf einer einzigen Saite vor sich hin. Zwei Akkorde genügen für die Ewigkeit. Und vier Noten auf dem Rhodes-Piano zum Verlieben. Oft sind es kaum mehr als Zustände, aus denen erst Caves Gesang einen Song macht. Und ein kurzer Aufzug eines Streichquartetts reißt hier gleich den ganzen Himmel auf. Das erinnert im Ergebnis nicht nur an Caves und Ellis Soundtrack-Arbeiten, sondern auch an das sprödere Frühwerk der Bad Seeds. Der Kreis schließt sich. Ganz klar Alterswerk!

****1/2 Oliver Götz

Titelstory S. 28

Autechre

Exai

Warp/Rough Trade (VÖ: 1.3.)

Nach all den Jahren immer noch Elektronik-Avantgarde: das elfte Album von Autechre.

Ein paar Beispiele, mit welchen Begriffen die Musik von Autechre in den vergangenen 20 Jahren in diesem Magazin beschrieben wurde: „verrückt“, „Wahnsinn“, „zersplittert“, „avantgardistisch“, „gehäckselt“, „Dekonstruktion“, „Chaos“, „komplex“, „Unkenntlichkeit“, „Antithese zur digitalen Tanzmusik“, „atonal“, „abstrakt“. Und immer wieder gerne: „unanhörbar“. Das Duo Autechre, 1987 von Rob Brown und Sean Booth in Rochdale bei Manchester gegründet, veröffentlicht seit 1991 seine Musik. Ab dem 1995er-Album TRI REPETAE wurden Autechre mit den oben genannten Begriffen beschrieben. Seitdem hat keine nennenswerte Entwicklung mehr stattgefunden. Muss auch nicht sein. Wem die anderen dermaßen weit hinterherhinken, der darf sich gerne ein paar Jahrzehnte lang entwicklungsresistent zeigen. Das gilt auch für andere fordernde U- und E-Musiken: Free Jazz, freie Improvisation, Neue Musik. Autechre machen – auch auf ihrem elften Album EXAI – im Grunde Avantgardemusik, weil sie sich dabei der gleichen Produktionsmittel bedienen wie everybody’s Konsens-Elektronik-Act, werden sie aber seit zwei Jahrzehnten im Techno verortet. Viele Avantgardemusiken haben gemein, dass sie beim ersten ungeübten Hören den Eindruck von Chaos hinterlassen – wir empfehlen als Einstieg das Album Free Jazz von Ornette Coleman aus dem Jahr 1961. Wer sich darauf einlässt, wird nach einer Gewöhnungsphase plötzlich die Strukturen und die innere Logik erkennen. Das gleiche gilt für EXAI. Die Musik wird im Verlauf von zwei Stunden (auf zwei CDs) scheinbar anhörbarer. Aber genau das ist das Ergebnis dieses Gewöhnungsprozesses. Wer sich innerhalb des Koordinatensystems Autechre bewegt, blendet andere Formen von Musik aus. Für die Dauer eines Albums existieren nur Autechre. Die Stolperfallen in den Tracks lösen sich auf, ungerade Beats klingen tanzbar, Atonales wird zur Melodie. Musterbeispiel für dieses Phänomen ist „Cloudline“. Im Verlauf von zehn Minuten bilden die gegenläufigen Knusper-Beats zusammen mit den fragmentierten Melodieeinschüben einen nahezu funky Track. Nur eines geschieht bei Autechre nicht: Auch wenn man sich noch so sehr anstrengt, wenn man sie immer wieder liest, die Titel der Tracks wollen einfach nicht verständlicher werden: „T Ess Xi“, „vekoS“, „Flep“, „Spl9“, „Yjy Ux“, „Jatevee C“.

**** Albert Koch

Beach Fossils

Clash The Truth

Captured Tracks/Cargo (VÖ: 22.2.)

Es kann nur eine geben? Blödsinn. Beach Fossils mögen die drölfzigtausendste LoFi/Dreampop-Band sein, die unser Ohr bevölkert, sie ist aber eine für das Regal.

Im Lauf der Zeit sind Dustin Payseur so einige Bandmitglieder abhanden gekommen. Unter anderem verließ Zachary Cole Smith die Band, um sich ab dem Jahr 2011 vermehrt um sein erfolgreiches Projekt DIIV zu kümmern, außerdem soll auf clash the truth der mittlerweile 13. Schlagzeuger der Beach Fossils zu hören sein. Eine Fluktuation, die natürlich Fragen aufwirft. Wie muss die Zusammenarbeit mit Payseur sein, wenn ihm andauernd die Drummer davonrennen? Denn, und das beweist auch der Nachfolger zum Debüt beach Fossils und der EP „What A Pleasure“, eine wahnsinnig schweißtreibende Aufgabe scheint das nicht zu sein, auch wenn dieses Album flotter daherkommt. Die Musik gliedert sich erwartungsgemäß perfekt in den Captured-Tracks-Katalog ein. Mit Leichtigkeit dargebotener Dream-Pop mit verhalltem Gesang, vielen kleinen Ideen und prominenteren Gitarren. Diese sind besonders im Hit „Careless“ zu finden, der mit einem akustischem Outro in das Ambient-Skit „Modern Holidays“ überleitet, nur damit man sich von den wunderschönen Klingel-Gitarren in „Taking Off“ erklären lassen muss, dass man wohl nie genug von Platten wie diesen haben kann. Im zackigen „Shallow“ spielen Beach Fossils dann fast schon mit der „Class Of 2005“ um den Platz der begehrtesten „England brennt“-Kapelle.

**** Christopher Hunold

The Bony King Of Nowhere

The Bony King Of Nowhere

Helicopter/Cargo

Der Belgier Bram Vanparys ist ein Singer-Songwriter zum Knuddeln.

Bram Vanparys soll, so lässt der belgische Singer-Songwriter zumindest verbreiten, seine Freizeit mit Bio-Landwirtschaft zubringen. Tatsächlich klingt das dritte Album von The Bony King Of Nowhere, seines Singer-Songwriter-Alter-Egos, als müsste man es im Manufaktum-Katalog bestellen können: klassisch im Styling, garantiert handgefertigt und frei von allen neumodischen Verunreinigungen. Nach dem vergleichsweise üppig arrangierten Vorgängeralbum ELEONORE muss diesmal eine extrem spartanische Ausstattung genügen: ein Mann, seine Schwermut und eine akustische Gitarre, sie zu vertonen. Dabei entstehen warme, weihevolle Lieder, in denen der Regen fällt und Wellen wispern, junge Frauen junge Männer mit einem Bann belegen und so den jungen Männer ausreichend Anlass geben, ihre melancholischen Anwandlungen zu pflegen. Klagend singt der knochige König von der Kunst, traurig zu sein, ohne dass es einem wirklich schlecht geht, und dazu zupft er sanft und traumverloren auf seiner Gitarre. Zum Knuddeln.

***1/2 Thomas Winkler

Camper Van Beethoven

La Costa Perdida

429 Records/Membran/Sony Music (VÖ: 15.2.)

Das erste Album des Quintetts aus Kalifornien seit acht Jahren bietet einen irrwitzigen Mix aus Westcoast- und Indie-Rock, Ska, Blues und Americana.

Angesichts der beachtlichen Veröffentlichungsintervalle gewinnt der Satz „Aus der Zeit gefallen“ im Zusammenhang mit Camper van Beethoven eine ganz neue Bedeutung. Das Quintett um die Gitarristen David Lowery und Greg Lisher sowie den Multiinstrumentalisten Jonathan Segel schert sich auf LA COSTA PERDIDA, seinem ersten Longplayer seit dem 2004er Werk NEW ROMAN TIMES, einen Scheiß um Moden und Trends, sondern hört sich phasenweise an wie eine jener Bands, die in den 60er-Jahren in Holzhütten im Laurel Canyon zu leben pflegten. Fast alles auf LA COSTA PERDIDA scheint auf jene goldene Ära der populären Musik zu rekurrieren, als man noch dachte, die Blütenträume der Hippies könnten wahr werden. „Come Down The Coast“ fordern die Campers im gemütvoll schunkelnden Opener, nur um postwendend klarzustellen, sie seien „Too High For The Love-In“. Diesem kunstvoll gedrechselten Fünf-Minuten-Track folgt mit „You Got To Roll“ ein zerschossener Blues, während „Someday Our Love Will Sell Us Out“ psychedelisch kreiselt. „Peaches In The Summertime“ federt im Ska-Groove, „Northern California Girls“ ist ein seelenvoller Schleicher, „La Costa Perdida“ eine aufgekratzte Texmex-Pastiche. Am Ende hängt der Himmel tatsächlich voller Geigen: „Love For All Time“ tönt, als wär’s ein Stück von Burt Bacharach. Ein irrwitziger Mix? Fürwahr.

**** Peter Felkel

Lloyd Cole & Hans-Joachim Roedelius

Selected Studies Vol. 1

Bureau B/Indigo (VÖ: 22.2.)

Ambient: Die merkwürdige Zusammenarbeit zweier ungleicher Musiker. Aber der britische Indie-Popper und der deutsche Avantgardist finden die künstlerische Schnittmenge.

Auf den ersten Blick kommt einem die Zusammenarbeit von Lloyd Cole mit Hans-Joachim Roedelius merkwürdig, fast befremdlich vor. Hier: der in den USA lebende, englische, 51-jährige Songwriter und Rock-Pop-Sänger. Dort: der knapp 26 Jahre ältere Avantgardist und Elektronik-Pionier, der mit Harmonia und Cluster ein nicht unwesentliches Stück deutsche Musikgeschichte mitgeschrieben hat. Und doch gibt es eine gemeinsame Vergangenheit der beiden Männer. Lloyd Cole veröffentlichte Ende 2001 mit PLASTIC WOOD ein Album, das mit seinen instrumentalen Ambientsound komplett aus seiner Diskografie fällt. Und Hans-Joachim Roedelius fertigte von diesen Tracks – ungefragt übrigens – Remixe an, die zwar unveröffentlicht, aber nicht ungehört blieben und so eine Brücke zwischen den beiden bauten. Zudem ist Lloyd Cole Fan von Cluster, von ihren Alben wie SOWIESOSO und deren Arbeiten mit Brian Eno. Aber erst eine Dekade nach PLASTIC WOOD, nach einem Treffen in Wien, wo Cole auftrat, kamen die beiden zum ersten Mal zusammen. Da eine gemeinsame Zeit im Studio schlecht zu organisieren war, fiel die Entscheidung, sich Track-Entwürfe, Song-Skizzen und Melodielinien zu schicken, die der jeweils andere weiter bearbeiten sollte. Aus einer Fülle von Stücken schafften es nach einem anderthalb Jahre währenden Reifungsprozess zehn auf SELECTED STUDIES VOL.1. Erstaunlicherweise lässt sich kaum nachweisen, wer bei welcher Nummer als Hauptideengeber oder treibende Kraft wirkte. Über weite Strecken mäandert das Album mit schleppender Geschwindigkeit durch entspannte Ambient-Landschaften. Manchmal knirscht, knackt, rauscht oder zirpt es am Wegesrand. Erst beim fünften Track namens „Tangolargo“ wird es lebhafter, mischen sich asiatische Einflüsse unter, aber leider klingt das etwas kitschig. Mit dem Auftauchen von mehr Rhythmik in dem Stück „HIQS“, spätestens aber bei „Fehmarn F/O“ präsentieren sich Lloyd Cole und Hans-Joachim Roedelius von ihrer impulsiven Seite, um mit „Virginie L“ sogleich in den Ruhemodus zurückzukehren. So endet SELECTED STUDIES VOL.1. dann auch nicht mit einem Feuerwerk, sondern zieht mit „Lullerby“ dorthin weiter, wo es hergekommen ist.

***1/2 Sven Niechziol

Benjamin Damage

Heliosphere

50 Weapons/Rough Trade (22.2.)

Zwischen Cosmic-Electronic-Listening und klassischem Techno: Das zweite Album des britischen Produzenten.

Vor gut einem Jahr veröffentlichte der britische Produzent Benjamin Damage zusammen mit Doc Daneeka das überall hochgelobte Album THEY! LIVE. War diese Zusammenarbeit eine subtile Mischung aus experimentellem Techno und Bass-Musik-Einflüssen, ist Damages erstes Solo-Album HELIOSPHERE hin- und hergerissen zwischen einer Art Cosmic-Electronic-Listening und eher klassischen Techno/Dancefloor-Tracks – am besten nachzuhören im manischen „Delirium Tremens“ und der bereits bekannten Single „Swarm“. Die interessantesten Momente entstehen allerdings, wenn die beiden Welten Vierviertel und sphärische Soundscapes zusammentreffen, wie zum Beispiel in „Extrusion“, wo archetypische Techno-Versatzstücke aus dem Preset-Baukasten (Bassdrum, Hi-Hat, Snare) mit minimalistischen sphärischen Pianotupfern koexistieren, bevor sich ein komplexes Rhythmusgeflecht ausbreitet, das dann ja doch wieder für die Peaktime auf dem Dancefloor geeignet ist.

****1/2 Albert Koch

Nataly Dawn

How I Knew Her

Nonesuch/Warner Music (VÖ: 22.2.)

Die Sängerin des amerikanischen Duos Pomplamoose versucht es mit handgemachtem Folk-Jazz-Pop im Alleingang.

Pomplamoose – wer ist das denn? Fragt man sich bei uns. In den USA dagegen hat sich das kalifornische Duo längst einen größeren Freundeskreis erspielt, vor allem durch ihre Videos, die auf dem bandeigenen YouTube-Kanal zu sehen sind. Als Nataly Dawn ihre Fans darum bat, sich an den Kosten dieses Solo-Albums zu beteiligen, kamen am Ende 100 000 Dollar zusammen. Davon konnte sie sich eine Band mit erfahrenen Studiomusikern leisten. Durch deren Mithilfe klingt ihr Folk-Jazz-Kammerpop nun voller, aber keineswegs zu üppig. Einen Grund, sich mit allen Mitteln aufzudrängen, sieht sie nicht. Das ist nicht nur von Vorteil, der Beginn des Albums fällt etwas zu solide aus. Doch je länger How I Knew Her läuft, desto besser wird es. „Please Don’t Scream“ ist genau das, was man bei so einem Titel erwarten darf: Ein swingender Country-Track, in dem Dawn charmant darum bittet, dass die angesprochene Person doch bitte nicht so heftigen Gebrauch von der Stimme machen möge. „Still A Believer“ und „Even Steven“ sind zwei Stücke, in denen altmodisches Pop-Potenzial steckt. Ein kleines Jazz-Orchester und ein fixer Rockabilly-Rhythmus sorgen für Schwung. How I Knew Her ist die ideale Anschaffung für Fans von Regina Spektor, die sich die Songs ihrer Lieblingssängerin auch ohne Piano vorstellen können.

**** Thomas Weiland

Darwin Deez

Songs For Imaginative People

Lucky Number/Coop/Universal

Das zweite Album der Indie-Pop-Locke geht nicht mehr direkt übers Rückenmark ins Tanzbein, es nimmt die Ausfahrt Richtung Großhirn.

Die Musik von Thin Lizzy, John Mayer und Jimi Hendrix war es, an der sich Darwin Deez bei der Produktion seines zweiten Albums orientierte. Zumindest behauptet er das – und was sein Gitarrenspiel angeht, merkt man dies der Platte auch an. Deez bedient die Saiten seines Lieblingsinstruments überraschend abwechslungs- und einfallsreich, mitunter sogar virtuos. Was Songs For Imaginative People außerdem zu einem besonderen Album macht, sind die außergewöhnlichen Texte. Die Worte, die Darwin Deez mit Melodie und Rhythmik in den zehn Songs ausbalanciert, sind eigentlich zu schräg und schief für Popmusik. Von der Begrüßungs-Watschn („Are You Sick Of Not Existing“) bis hin zur tröstlichen letzten Zeile in „Chelsea’s Hotel“ („This is for you“) kitzelt Darwin Deez tradierte Erwartungen an die Popmusik mit immer wieder überraschender Haufenreim-Lyrik, die nur noch rudimentär in Strophe-Refrain-Strophe aufgeteilt ist. Die zehn neuen Songs erzählen uns von der Überwindung des Existenzialismus, aber auch von den Unannehmlichkeiten einer Fernbeziehung trotz Skype-Sessions. Hätte DIY-Musiker Darwin Deez sich nicht nur bei der Abmischung des Albums, sondern auch beim Drum-Programming und den Hintergrundflächen unterstützen lassen – Songs For Imaginative People hätte eine der schönsten Indie-Platten des Jahres werden können.

****1/2 Andreas Meixensperger

Story S. 16

Diverse

Son Of Rogues Gallery: Pirate Ballads, Sea Songs & Chanteys

Anti/Indigo (VÖ: 19.2.)

Alle wollen Meer: Nach sechs Jahren Pause folgt nun die zweite Sammlung von Piratenballaden und Seemannsliedern – an Bord wieder reichlich Prominenz: Iggy Pop, Nick Cave, Tom Waits, Keith Richards, Michael Stipe, Courtney Love.

Jack Sparrow, sorry, Captain Jack Sparrow – so viel Zeit muss sein – sei Dank: Seit „Fluch der Karibik“ anno 2004 in die Kinos kam, ist es wieder schick, Pirat zu sein. Und, nein: Wir meinen nicht die Nerds, die jetzt plötzlich Politik zu machen versuchen. Sondern natürlich die, die einst die Weltmeere unsicher machten. Diesen Freibeutern und allen anderen Helden der mehr oder weniger christlichen Seefahrt hat Edelproduzent Hal Willner vor sechs Jahren ein musikalisches Denkmal gesetzt. Für die Kompilation ROGUES GALLERY brachte er with more than a little help from Johnny Depp and Gore Verbinski Prominenz von Lou Reed bis Sting, von Nick Cave bis Jarvis Cocker, von Rufus Wainwright bis Bryan Ferry zusammen. Auf dem Programm: Piratenballaden, Seemannslieder, Shantys. Eine fürwahr stimmungsvolle Sause, die Lust auf mehr machte. SON OF ROGUES GALLERY ist nun erneut eine veritable Song-Schatzkiste geworden. Zwar hat sich auch allerlei Tand zwischen die Schmuckstücke gemischt, doch darf man den angesichts vieler Juwelen gnädig ignorieren: So sorgt der notorische Shane MacGowan mit „Leaving Of Liverpool“ für einen furiosen Einstand, geben Tom Waits und Keith Richards in „Shenandoah“ zwei hinreißend grummelnde Flussratten. Iggy Pops „Asshole Rules The Navy“ ist zum Schreien komisch, „Flandyke Shore“ von Marianne Faithfull, Kate und Anna McGarrigle rührt zu Tränen – die Aufzählung könnte endlos weitergehen. Geht aber nicht, darum seien nur schnell noch einige names gedroppt: Michael Stipe und Courtney Love sind an Bord, Broken Social Scene und Nick Cave, Patti Smith und Beth Orton, Marc Almond, Richard Thompson und viele andere. Eine abenteuerliche Crew für eine abenteuerliche Fahrt.

**** Peter Felkel

Dobie

We Will Not Harm You

Big Dada/Ninja Tune/Rough Trade

Zeitlos, schön, voller Überraschungen: Der britische DJ und Produzent kratzt die Kurve von klassischen Breakbeats über HipHop und Funk bis in den Dubstep.

Dobie, wer war das noch gleich? 15 Jahre ist es her, dass der britische DJ und Produzent mit THE SOUND OF ONE HAND CLAPPING ein komplettes Album veröffentlichte. Irgendwelche Erklärungen? Möglicherweise war Dobie zu sehr damit beschäftigt, sein Talent als Produzent oder Remixer anderen zur Verfügung zu stellen, dazu zählten Soul II Soul (die ersten beiden Alben) schon Ende der Achtziger, später Massive Attack, Tricky, Björk, Roots Manuva und Wiley. Eine 12-Inch und eine EP für das Big Dada Label erinnerten zuletzt an die genreübergreifenden Erkundungsfahrten zwischen HipHop, Techno, Funk und Bassmusik, die Dobie so etwas wie einen Legendenstatus verschafften. Als Legende lebt’s sich gut, ein neues Album muss sich den Erwartungen der alten Fanbase wie den veränderten Techniken und Märkten stellen. Das gelingt Dobie auf WE WILL NOT HARM YOU auch deshalb so hervorragend, weil er einen bestens austarierten Balanceakt voller Überraschungen hinlegt, in dem HipHop-Sozialisation und Breakbeat-Roots genauso aufscheinen dürfen wie das Interesse an Dubstep und House-Updates – im Markenzeichen-Old-School-Schmirgelpapiersound, der gestern wie heute so großartig in den Gehörgängen kratzt. Wir sollten Dobie für die Zeitreise quer durch Styles und Sound ein herzliches Dankeschön hinterherschicken, die Oden und Dekonstruktionen, die „Hits“ und psychedelischen Interludes erinnern daran, dass nichts so alt wie die Musik von heute ist. So gesehen waren 15 Jahre gerade einmal die richtige Zeit, für ein Album, das, so weit lehnen wir uns aus dem Fenster, zeitlos ist und bleiben wird.

****1/2 Frank Sawatzki

Doldrums

Lesser Evil

Souterrain Transmissions/Rough Trade (VÖ: 22.2.)

Der kanadische Produzent und DJ Airick Woodhead stellt die Idee des Dream Pop erfolgreich in die diversen Club-Kontexte.

Schnell mal auf der Homepage des „Europäischen Segel-Informationssystems“ nachgeschlagen: Doldrums sind ein Gebiet schwacher, veränderlicher Winde und häufiger Windstillen am Äquator. Womit wir ganz und gar nicht beim gleichnamigen Projekt des kanadischen Produzenten und DJs Airick Woodhead wären. Woodhead bereist mit seinen Soundinstallationen europäische Clubs und amerikanische Tanzarenen, er trat schon auf Festivals wie South By Southwest in Austin, Texas, und Pop Montreal auf und tourte mit Bands wie Purity Ring, Grimes und dem Unknown Mortal Orchestra. Das Wort Doldrums wird hier zum Synonym für Improvisation und Veränderung, und Strecken, die still sind, muss man auf LESSER EVIL schon suchen. In den elf Tracks des Albums entwickelt Woodhead halluzinatorische Sample-Dance-Jams mit reichlich effeminiertem Singsang, die die Idee des Dream Pop in den Club-Kontext stellen. Besser noch: in die diversen Kontexte, die die hoch spezialisierte Clubkultur so kennt – Tropicalia, Chillwave, Indie-Disco, Daphni-House, Analog-Elektro-Keller und viele mehr. Hinweis für die Segel-Community: ein leicht windschiefes Stück aus dem Bord-Bedroom ist dann doch noch drauf auf LESSER EVIL („Lost In Everyone“).

**** Frank Sawatzki

Ducktails

The Flower Lane

Domino/Good To Go

Detailfreudig bis spooky: Der Dream Pop des Real-Estate-Gitarristen verdient sich den Sticker „Musik zur Zeit“.

Ein kleiner Schritt für die popinteressierte Menschheit, ein großer für Matt Mondanile: Der Real-Estate-Gitarrist hat sich auf seinem jüngsten Ducktails-Album vom Verhuscht-Schlafwandlerischen und Skizzenhaften verabschiedet und ist zum klassischen Song konvertiert. Sein Referenzuniversum erweiterte er so ganz nebenbei um ein paar Galaxien. „Under Cover“ mit den von der Juju Music informierten Klingelgitarren und kurzen Saxofonparts markiert am deutlichsten Mondaniles Aufbruch in die diversen Richtungen. „Timothy Shy“ direkt im Anschluss könnte der Piano-Pop-Soundtrack einer 70er-Jahre-Nachmittags-Soap sein, würde nicht nach zweieinhalb Minuten eine kratzige E-Gitarre den Song von hinten ansägen und irgendwie beschädigt zurücklassen. Die Details sind König, sie spielen den Beiträgen jene Aha-Erlebnisse zu, die Anhänger von House bis Shoegaze erreichen sollten. Die Single „Letter Of Intent“ könnte ein Track vom letzten Real-Estate-Album sein: Musik, von der wir nicht wissen, wie lange sie den Zusatz „zur Zeit“ noch verdienen wird. Die Sortimentsbezeichnung „Dream Pop“ greift einstweilen für diese mit Flöten und mäandernden Synthies ausgestattete Soundbrise – und zwei Stimmen, die sich Bestnoten in der Kategorie „sedierend“ verdienen: Jessa Farkas (Future Shuttle) und Ian Drennan (Big Troubles).

**** Frank Sawatzki

Fiction

The Big Other

Moshi Moshi/Coop/Universal (VÖ: 1.3.)

In London hören die 80er-Jahre niemals auf.

Man könnte Fiction für eine fiktive Band halten. Es wäre nichts Besonderes mehr in der grassierenden Retromanie. Im Zeitalter postumer Pioniere wie es Fraktus heute für den Krautrock sind, als Fake. Wer Fiction zuhört und ihrem Debütalbum, kann nicht anders, als an Fiction Records, London und die Achtziger zu denken – als sich freie Plattenfirmen als Propagandisten eines unbedingten Zeitklangs fühlten. Fiction Records war The Cure und umgekehrt. „Big things / Giant things / Sinking with gravity / Landing with paper wings / Things not to think about“, singt Mike Barrett von Fiction, der Band, im 21. Jahrhundert. Und so exaltiert und existenzialistisch hätte das auch jeder Sänger 1983 vorgetragen. Hier müsste man die Mittel der Musik aufzählen: malerische Soundflächen aus originalgetreuen Synthesizern, Melodien in den Bässen und verlorene Gitarren, die in ihren Echos um sich selbst kreisen. Aber man hört bei Fiction eben auch, dass die Geschichte ihren Sound verändert. Es gibt Spuren aus der Ravekultur und aus dem afrikanisch inspirierten Collegepop. Das Schönste und Schlaueste spielen die Londoner zum Schluss: „The Apple“, ein musikalisch kühles, aber warmherziges Requiem auf Alan Turing, einen tragischen, schwulen Mathematiker, ohne den es womöglich heute noch keine Computer gäbe. The Big Other ist ein geradezu bemerkenswertes Album über Fakten und Fiktionen.

**** Michael Pilz

Hot Coins

The Damage Is Done

Sonar Kollektiv/Alive

Eigenwillige Stilmixtur mit wenig Durchschlagskraft.

Die nicht gerade schwer zu verstehende Message des Eröffnungstracks, „Geek Emotions“, des neuen Albums von Danny Berman alias Red Rack’em alias Hot Coins darf man wörtlich nehmen. Der DJ und Produzent aus Nottingham, der seit 2011 in Berlin lebt, ist durch sein Label Bergerac, seine Remixe für u.a. Tricky und Jazzanova sowie seine Radioshow „Smugglers Inn“ in der internationalen Musikszene verankert. Entsprechend viele Projekte verfolgt er im Moment. Neben einem neuen Album von Red Rack’em, das demnächst auf Ramp Recordings erscheinen soll, und dem Start seines neuen Labels Smugglers Inn fand er auch noch Zeit, ein Album seines Nebenprojekts Hot Choins für Sonar Kollektiv fertigzustellen. Stilistisch bewegt er sich dabei zwischen allen Stühlen und kombiniert gekonnt-lässige Future-Funk- und Boogie-Anleihen mit Broken-Beats-, Disco-, Elektronik- und House-Elementen. Neu und aufregend ist diese Mixtur allerdings nicht. Berman versteht es zwar, qualitativ ausgewogene Stücke zu produzieren, aber es fehlen die markanten Bezugspunkte und Einfälle. Und so plätschern die zehn Tracks entspannt vor sich hin. Neben gelungenen Stücken wie der Neo-Disco-Nummer „New Beat“ und dem angenehm schrägen Funk von „Freestyle“ gibt es mit Songs wie „The Only Way“ und „Blizzard“ auch ein paar Ausfälle zu vermelden, die die Wertung deutlich drücken.

*** Franz Stengel

The Howling Hex

The Best Of The Howling Hex

Drag City/Rough Trade (VÖ: 22.2.)

Neil Hagerty parodiert den Indie-Rock bis zur Schmerzgrenze.

Selbst in der von abrupten Stilwechseln und schrägem Humor geprägten Karriere von Neil Hagerty nimmt THE BEST OF THE HOWLING HEX einen Sonderplatz ein. Der erste Witz ist schon der Titel, denn statt einen retrospektiven Blick auf das Schaffen seiner nun auch schon ein Jahrzehnt alten Band zu werfen, hat der ehemalige Gitarrist von Pussy Galore und Royal Trux doch lieber acht neue Songs geschrieben und aufgenommen. Nachdem Hagerty das Vorgängeralbum WILSON DEMICONDUCTORS noch im Alleingang eingespielt hatte, sind Howling Hex nun mit dem Bassisten Eric Allen, der von The Apples In Stereo gekommen ist, wieder zum Duo gewachsen. Auch der rohe, bisweilen langatmige Garagenrock ist Vergangenheit. Stattdessen: Kurze Kinderlieder mit erschreckend stumpfen Riffs, schludrigen Rhythmen und primitiven Gitarrensoli. Bevor im Hidden Track dann doch wieder das epische Garagen-Kino aufgeführt wird, scheint Neil Hagerty den Indie-Rock parodieren zu wollen. Das ist zwar mitunter ganz lustig, meistens aber auch ziemlich anstrengend.

*** Thomas Winkler

Iceage

You’re Nothing

Matador/Beggars/Indigo (VÖ: 15.2.)

Die dänischen Punk-Berserker flößen auch mit ihrem zweiten Album wieder gehörigen Respekt ein.

Es war wirklich nicht die Meldung, auf die man 2011 gewartet hatte. Eine Band aus Kopenhagen, die irgendetwas in der Richtung von (Post-)Punk, Hardcore oder Dark Wave anstellt? Hatte man doch schon, oder? Aber dann hörte die Welt das Album New Brigade von Iceage und plötzlich waren die Zweifel wie weggeblasen. Diese mit No-Bullshit-Bengeln besetzte Horde kam sofort zur Sache und fuhr die Harke aus. Und zum Glück hatte sich das Quartett mit diesem einen Album nicht schon abreagiert. Im Gegenteil. Der Einstieg ist auf dem zweiten Album so fulminant, dass man glaubt, das verdammte Hochdruckventil sei am Bersten. „Pressure, pressure, oh my God, I can’t take this pressure“, röhrt Elias Bender Rønnenfelt wie der junge Joe Strummer. Man hört auch etwas von Exzess, Exzess. Die Dänen müssen wieder einiges rauslassen, es geht nicht anders. Zur Entspannung reichen sie zwar mal ein Zwischenstück und vereinzelt bemühen sie sich um ein harmonisches Gitarrenriff, aber das dient alles nur der Ausschmückung für einen Krawallakt, den auch Black Flag oder die Dead Kennedys in ihren besten Zeiten nicht besser hingekriegt haben. Viel Zeit brauchen diese Höllenhunde dafür auch nicht. Manche Songs sind nicht mal zwei Minuten lang und das Album dauert keine halbe Stunde. Vorbildlich.

***** Thomas Weiland

Inc.

No World

4AD/Beggars/Indigo (VÖ: 15.2.)

Die Brüder Andrew und Daniel Aged, die schon für Elton John, Beck und Cee-Lo Green gespielt haben, vertiefen sich in den Minimal-Soul.

Wer noch nicht eingeweiht und im Besitz der auch schon beim 4AD-Label veröffentlichten EP „3“ ist, sollte etwas zurückdenken, um begreifen zu können, was sich Andrew und Daniel Aged für ihr eigenes Projekt Inc. ausgedacht haben. Am besten versucht man es mit „Sensitivity“, dem größten Hit von New-Edition-Mann Ralph Tresvant. Es war ein R’n’B-Track mit Feingefühl für sinnliche Stunden zu zweit. Weder der Sänger noch die Songschreiber/Produzenten Jimmy Jam und Terry Lewis trugen dick auf. Ihr minimaler Sound wurde später von Maxwell und D’Angelo aufgegriffen und verbessert. Die beiden Inc.-Brüder aus Los Angeles haben daran auch einen Narren gefressen. Alle elf Titel auf ihrem Debütalbum drehen sich um eine Achse. Sachte tupfen die Beats auf, unterschwellig läuft der Bass-Groove mit und ständig nuschelt die Flüsterstimme. Sie haben sozusagen ein Album voller „Sensitivities“ gemacht. Das ist dann schon etwas dreist. Es hat ohne Frage schon Alben gegeben, auf denen praktisch nur mit einer Idee gearbeitet wurde, aber die jeweiligen Künstler konnten dann zumindest den Eindruck einer zu evidenten Wiederholung vermeiden. Inc. können oder wollen das nicht. Sie sollten das aber schleunigst tun, denn sonst sagt man beim nächsten Album: No more.

*** Thomas Weiland

Jim James

Regions Of Light And Sound Of God

Coop/Universal (VÖ: 8.2.)

Indie-Rock: Der Sänger von My Morning Jacket mit seinem ersten Solo-Album.

Ohne Jim James, der den bürgerlichen Namen James Edward Olliges Jr. trägt, ginge bei My Morning Jacket gar nichts. Seit 1998 fungiert er als Sänger, Songwriter, Produzent und Gitarrist der Indie-Folk-Psychedelic-Rock-Gruppe aus Kentucky. Bei solch einer Machtfülle und Kreativität überrascht es schon, dass Jim James mit REGIONS OF LIGHT AND SOUND OF GOD erst jetzt sein Solo-Debütalbum veröffentlicht. Was aber gar nicht überrascht ist die hohe Qualität des Albums mit seinen neun Songs, denn nicht umsonst tauchte James auf Platten von Bright Eyes, The Roots, The Flaming Lips und M. Ward als Gast auf. Nebenbei gehörte er zu den Mitbegründern der Indie-Superband Monsters Of Folk. Aber trotz all dieser Stationen und musikalisch verschiedenartigen Schwerpunkte klingt REGIONS OF LIGHT AND SOUND OF GOD überhaupt nicht wie ein Zwischenresümee, ein Lost-Songs-Werk oder ein Querschnitt seiner bisherigen Karriere. James‘ Erstwerk kommt weitgehend ohne Rock aus, einmal abgesehen von „A New Life“, einer überaus hübschen Nummer und Hommage an den Rock’n’Roll der 50er-Jahre. Aus dem Rahmen fällt der Song aber schon wegen seines angenehm schmalzigen Sounds nicht, denn immer wieder arbeitet Jim James – der alle Instrumente auf dem Album selber spielt – in den restlichen Songs mit zarten Orchestrierungen, wärmenden Keyboard-Arrangements und Chorgesängen. Manchmal geht es so himmlisch-hymnisch zu wie bei Mercury Rev oder den tiefenentspannten und bekifften Flaming Lips. Wobei der Vintage-Sound der Platte sämtliche Aktualitäten des Pop komplett ignoriert, hier mal einen dezent funkigen Bass („State Of The Art“) verwendet, da die Gitarre verdrogt wie The Bevis Frond anschlägt („Dear One“) oder mystisch wie in „All Is Forgiven“ klingt. Jim James ist mit der Intention angetreten, ein Album wie aus der Zeit gefallen zu machen. Und das ist ihm sehr beeindruckend gelungen.

****1/2 Sven Niechziol

José James

No Beginning No End

Blue Note/EMI

Ein musikalischer Trip mit Langzeitwirkung zwischen Funk, Soul, Blues und HipHop.

Mit Sänger und Songwriter José James hat Gilles Peterson, auf dessen Label Brownswood die ersten beiden Alben, The Dreamer (2008) und Blackmagic (2010), erschienen, mal wieder seine Spürnase für außergewöhnliche Talente unter Beweis gestellt. Auf No Beginning No End, seinem Debüt für das Blue-Note-Label, schlägt der Musiker nun das nächste Kapitel seiner Karriere auf und das beginnt mit „It’s All Over Your Body“ vielversprechend. José James legt ein Album vor, auf dem er souverän zwischen allen Stilen pendelt. Sein musikalisches Koordinatensystem reicht von Deep-Funk-Anleihen, über Soul und Blues bis hin zu zarten Anklängen an den HipHop-Kosmos von J Dilla. Möglich wurde diese manchmal eher dezente, manchmal grundlegende Neuausrichtung auch dank seiner Mitstreiter, allen voran Produzent und Bassist Pino Palladino, Pianist Robert Glasper, der Sängerin und Songwriterin Emily King, Pianist Kris Brown und der französisch-marokkanischen Sängerin Hindi Zahra. Der 33-Jährige hat sich mit diesem Album selbst übertroffen. Die Spiritualität seiner Musik nimmt manchmal fast beängstigende Züge an, wie etwa in der herzergreifenden Ballade „Bird Of Space“. Sie ist inspiriert von einem Zusammentreffen mit Leon Ware, einem wichtigen Weggefährten Marvin Gayes und Produzenten des wegweisenden Albums I want You (1976). Introvertiert und inspiriert präsentiert sich James beim gospelhaften „Do You Feel“, dem an Bill Withers erinnernden „Trouble“ und „Vanguard“, einer Zusammenarbeit mit Robert Glasper, die im berühmten Jazzclub Village Vanguard in New York entstanden ist. Die Streicherballade „Tomorrow“ aus der Feder von Komponist, Sänger und Keyboarder Amp Fiddler zeigt, dass es im Moment kaum einen besseren Sänger gibt als José James.

***** Franz Stengel

Große Pop-Gewalt

Foals

Holy Fire

Transgressive/Warner (VÖ: 8.2.)

Was vom Afro-Pop übrig blieb: Die Foals aus Oxford spielen ihren großzügig angelegten Pop auf ihrem dritten Album ganz besonders funky.

Was auch immer man jetzt von den Aussagen mitgenommen hat, die seit Ende August über das neue Foals-Album herumschwirrten, oder in welchen musikalischen Sumpf man Holy Fire prophylaktisch bereits verortet hat. Vergesst es. So klingt das Album nicht. Wer sich früh genug darauf eingestellt hatte, dass Foals, die einstige Vorzeigeband des verspielten Math-Rock, für ihr drittes Album auf die Feststelltaste hauen und dann „Pop“ tippen, kann sich freuen. Holy Fire verlässt sich nicht mehr auf die jugendliche Dringlichkeit des fünf Jahre alten Erstlings und ist auch nicht mehr so subtil melancholisch wie der Nachfolger. Stattdessen gibt sich die Band als eine mit Plan. Oxford haben sie zu großen Teilen hinter sich gelassen, die Musik kommt jetzt vornehmlich aus London. Foals wissen, wo sie hinwollen – und das ist mit großer Pop-Gewalt in jedes erdenkliche Ohr. Geholfen hat ihnen dabei nicht nur das Produzentenduo Alan Moulder und Mark Ellis alias Flood. Mit Nachhilfeunterricht bei Prince und seinem Verständnis von Funk wird aus dem viel zu kurzen „My Number“ ein Ohrwurm maximaler Größe. Der Refrain trägt den ganzen Song. Kunststück, aus viel mehr besteht er auch nicht. Aber er will und will nicht mehr aus dem Gedächtnis weichen. Auch „Late Night“, Lieblingssong von Sänger Yannis, kann nach dem aufbäumenden Refrain seine Funk-Muskeln im Outro nicht verstecken. „Inhaler“ liegt viel am Groove, greift im Refrain aber auch nur zu gerne auf Schreitherapie zurück. Ein merkwürdiger Song, der ein paar Runden braucht, bevor er endgültig zündet. „Bad Habit“ ist dann schon fast zu groß für seine Pläne. Er breitet sich bei dem mächtigsten und wohl oder übel U2-igsten Chorus der siebenjährigen Bandgeschichte aus, bricht nach drei Minuten aber mit dem Pomp und versöhnt sich mit allen, die den Trademark-Sound der Band vermissen, wenn die flirrenden Insekten-Gitarren wieder anfangen zu tanzen. Trotz der beachtlichen Größe der meisten Songs bleibt nämlich immer deutlich, wer hier hinter den Instrumenten steht. Und überhaupt: Es gibt sie, die anderen. Da wäre z. B. die groovende Rock-Sau namens „Providence“, in der mit den Worten „Oh lord what can I do. I’m an animal just like you“ der Himmel angefleht wird, bis in den letzten zwei Minuten eben jener aufbricht und ein Gewitter stürmen lässt, das bislang noch kein Foals-Song zu bieten hatte. Zum Schluss wird es fast besinnlich. „Stepson“ pluckert mit lieblicher Melodie und kaum merklichem Beat. Der Albumcloser „Moon“ ist von dem Film „Melancholia“ inspiriert und greift mit der Gänsehaut-Keule nach drei Minuten die letzten Zweifler ab. Holy Fire!

****1/2 Christopher Hunold

Story S. 12

Kavinsky

Outrun

Ed Banger/Warner (VÖ: 22.2.)

Elektro-Rock und -Pop. Das Debütalbum des Franzosen (kommt ein halbes Jahrzehnt zu spät).

Es gab Zeiten, in denen Musikzeitschriften sich in großen Geschichten über die Frage ausließen, ob ein Popmusiker mit 37 Jahren nicht zu alt für seinen Beruf sei. Dass Vincent Belorgey alias Kavinsky im reifen Alter von 37 sein Debütalbum vorlegt, sagt einiges aus über den Wandel der Popzeiten, aber auch über die Bedeutung des Formats Album in gewissen Bereichen der elektronischen Musik. Kavinsky ist seit sechs Jahren eine feste Größe im Ed-Banger-Universum, hat ein halbes Dutzend EPs/Singles veröffentlicht, Hunderte von Gigs hinter sich und durch seinen Beitrag „Nightcall“ (featuring Lovefoxxx am Mikrofon) zum Soundtrack von „Drive“ seinen Ruhm nicht unbedingt verkleinert. Ein Album wie OUTRUN, das macht man einfach mal, weil es sich so gehört. Natürlich darf man im Jahr zehn nach dem Beginn des Ed-Banger-Hypes und fünf Jahre nach der Mainstreamisierung des Elektro-Rock durch Justice fragen, wie zeitgemäß ein Album wie OUTRUN eigentlich ist. Kavinsky spielt filterhousig angehauchten Prog-Metal-Pomp – „First Blood“ klingt wie eine Mischung aus Meat Loaf, Europe und Journey -, wir hören Synthesizer-Melodien, die klingen wie Gitarrensoli von Yngwie Malmsteen, verlangsamte Vocoderstimmen und Referenzen an den Elektropop der 80er-Jahre, die durch den Ed-Banger-Wolf gedreht werden. Das kann man sehr gut scheiße finden. Man kann es aber auch so sehen: In Zeiten der sich überschlagenden/überlappenden Revivals legt Kavinsky mit seinem späten Debüt den Grundstein für das Ed-Banger-Revival.

*** Albert Koch

Themeninterview S. 14

Schorsch Kamerun

Der Mensch lässt nach

Buback/Indigo (Vinyl only inkl.CD – VÖ: 8.2.)

Der Goldies-Sänger hat rabiate Kunstmusiken zu einem großen Gegenwartsthema versammelt: das Leiden in einer durchgentrifizierten Welt.

Herzlichen Glückwunsch, Schorsch Kamerun, bester Albumtitel 2013 so far: DER MENSCH LÄSST NACH. Der Zitronen-Sänger lässt nicht nach und nicht locker, und das ist Programm im Chor der Bestandsaufnehmer und Beschwerdeführer, der auf den Bühnen von Leipzig, Köln, Hamburg, München und Düsseldorf unter seiner Regie gastierte. Auf diesem Album sind Texte und Musiken aus Kameruns Theaterproduktionen der letzten zwei Jahre versammelt, aufgezeichnet mit Saxofonisten, Klarinettisten, Pianisten und Flötisten und einem Verein für elektronisch erweiterte Orchestermusik. Kamerun deklamiert mehr, als dass er singt, und er singt sich das kollektive Weinen aus dem Gesicht (geweint wird um Ägypten, Ai Weiwei, die Scheiß-Steuererklärung), dazu Schlagzeug, das Pling-Pling eines Klaviers, Glockengeläut. Von provisorischen Rohaufnahmen bis hin zum kompletten Popsong „Unabhängigkeit ist keine Lösung“ mit dem Goldies-verdächtigen Refrain „Babys wollen fun fun fun“ reicht das Spektrum; man kann auch Moritaten hören, Revue- und Kabarett-Sequenzen. Der Kollektivgedanke steht dieser rabiaten Kunstmusik voran, die Bühne als Ort des Brainstormings zu den großen Themen, die hinter der blöden „Übereigendarstellerei“ aufblitzen. Der Kapitalismus darf munter zerstören, das Leiden an und in einer durchgentrifizierten Welt geht weiter: Was macht Mensch in dieser Zeit, wenn er nicht zum Stoiker geboren ist, der seinen Sinneseindrücken kategorisch misstraut? „Ich werde versuchen eigene Zeichen zu entwickeln, die man sich nicht so leicht merken kann“, schreibt Kamerun im Prolog des Stückes „Sender Freies Düsseldorf“.

****1/2 Frank Sawatzki

„Fotoalbum“ S. 24

Bassekou Kouyate & Ngoni Ba

Jama Ko

Outhere Records/Indigo (VÖ: 1.3.)

Der Mali-Blues und seine Fortschreibung unter Berücksichtigung der Langhalslaute (Ngoni).

Bassekou Kouyate hat schon bewiesen, dass er mit seiner Langhalslaute Paul McCartney und Damon Albarn an die Wand spielen kann. Er gründete die erste weltweit bekannte Ngoni-only-Band und seit 2012 gehören seine Söhne Madou und Mustafa zu den enthusiasmierten Saitenzwirblern im Ensemble des Musikers aus Bamako. JAMA KO ist eine 13 Tracks starke Tour-de-Force durch die Resonanzräume der Laute, unter Zuhilfenahme von Verstärkern, die aus den Asservatenkammern des Rock’n’Roll stammen könnten, assistiert von Freunden aus besseren Indierock-Kreisen. Kouyate kennt heute den Blues des John Lee Hooker wie die Lieder seiner Vorfahren, er lässt die Laute der Ngoni zwischen die Gesänge fahren, einmal landet sein halb elektrischer Blues im glücksbringenden Gebimmel der Glöckchen. Mit dem Album wollte der Saitenstar ein Zeichen des Come together setzen, den Blues noch einmal in Erinnerung rufen, in einem von Putschisten und Tuareg-Rebellen in Schach gehaltenen Land, dessen Kultur auf dem Prüfstand steht.

****1/2 Frank Sawatzki

Mano Le Tough

Changing Days

Permanent Vacation/Groove Attack (VÖ: 22.2.)

Electronica mit „cool songs“ oder: die Rückkehr einer positiven Emotionalität in die Clubmusik.

Niall Mannion, irischer DJ und Produzent in Berlin, wird seit ein paar Jahren unter seinem Alias Mano Le Tough als ganz heiße Nummer gehandelt. Das liegt an seinen DJ-Gigs, der Handvoll EPs, die er seit bald vier Jahren veröffentlicht hat und an seinen discohousigen Remixen von u. a. Aloe Blacc („Loving You Is Killing Me“) und Róisín Murphy („Simulation“). Wie jeder Musiker verweigert Mannion eine Kategorisierung; er redet stattdessen von „cool congs“, die er produziert. Einer dieser „cool songs“ ist gleich der erste, „Cannibalize“. Auf einem elektronischen Backing entwickelt sich ein melancholischer Schleicher, der mit Atmosphären spielt, ohne kitschig zu werden. Wir feiern so etwas wie die Rückkehr einer positiven Emotionalität in die Clubmusik, wenn man das, was Mano Le Tough hier abliefert, noch als Clubmusik bezeichnen will. Überhaupt ist CHANGING DAYS nicht das, was man als typisches House-Album bezeichnen würde. Es gibt Referenzen an die Minimal Music, an die Lakonie von Hot Chip, Melodien, Gesang (vom Meister selber) – Elemente, die im 08/15-House lediglich zur Ausschmückung des Beats benutzt werden, stellt Mano Le Tough in den Vordergrund. Der Beat ist zwar vorhanden, wird aber zur angenehmen Nebensache. Soft-Pop, der aus den Ruinen der IDM erwächst; wenn es nicht so abgeschmackt wäre, könnte man glatt „Electronic Listening“ zu dieser Musik sagen.

****1/2 Albert Koch

Jamie Lidell

Jamie Lidell

Warp Records/Rough Trade

(VÖ: 15.2.)

Die Zeit der Soul-Aufarbeitung scheint vorbei zu sein. Der englische Weltenbummler kollidiert auf seinem sechsten Album mit dem Super-Funk-Mobil.

Nanu, wer ist das denn? The Gap Band? Cameo? Full Force? Bootsy Collins? Solche Namen schwirren im Kopf herum, wenn man Jamie Lidell dieses Mal bei seiner musikalischen Rückbesinnung zuhört. Nach längeren Soul-Erforschungen ist der umtriebige Engländer wieder bei dem Sound gelandet, den er Ende der 90er-Jahre zusammen mit Cristian Vogel unter dem Namen Super_Collider kreiert hat. Es geht um den Funk, der von schwarzen Musikern in den 80er-Jahren gespielt wurde, als sie genötigt waren, ihre Big-Band-Besetzungen aufzugeben und die Musik zu verändern. Alles hatte vollelektronisch zu klingen, aber unter Beibehaltung der alten Tanzbarkeit. Jamie Lidell fühlt sich hörbar intensiv in diese Zeit hinein. Eine ähnliche Idee hatten auch schon andere Musiker vor ihm, man muss da nur an Kindness im vergangenen Jahr denken. Unser Freund will es im Vergleich dazu allerdings ganz genau machen. Bass-Synthesizer glucken und blubbern, Drumcomputer sind im Dauereinsatz und der Gesang ist so überkandidelt wie bei einer kosmischen Freak-Show. Diese schrille Tour nimmt man dem Sänger voll ab. Den Verdacht der Scharlatanerie konnte er bei vielen seiner musikalischen Exkursionen ja nie ganz ausräumen. Hier ist er dagegen in seinem Element. Zwar verzettelt er sich schon mal und übertreibt etwas, aber seine Begeisterung steckt an, und Songs wie „Do Yourself A Faver“, „You Naked“ und „In Your Mind“ sind tolle Electro-Funk-Updates.

****1/2 Thomas Weiland

Fotoalbum ME 2/2013

Dawn McCarthy & Bonnie „Prince“ Billy

What The Brothers Sang

Domino/Good To Go (VÖ: 15.2.)

Will Oldham und Dawn McCarthy zollen auf diesem Album den evergreenen Vokalharmonien der Everly Brothers höchst liebevoll Tribut.

Will Oldhams Universum wächst und wächst. Es dehnt sich nach vorne und hinten, findet neue Satelliten und Fixsterne, die wiederum auf alte Freundschaften oder Vorlieben zurückgehen. Und Bonnie „Prince“ Billy spielt in diesem Netzwerk von Musikern und guten Buddies die Rolle des Fädenziehers und Referenzspezialisten, der im richtigen Moment die richtigen Leute mit der richtigen Musik zusammenführt. WHAT THE BROTHERS SANG hat eine Vorgeschichte, es ist nicht die erste Platte, die Oldham mit Faun-Fables-Sängerin Dawn McCarthy aufgenommen hat (THE LETTING GO von 2006 gehört zu den bekannteren Zusammenarbeiten), und es ist beileibe nicht das erste Mal, dass er einen Song der Everly Brothers covert („The Price Of Love“ existiert z. B. in einer formidablen, ins Krachige drehenden Rock’n’Roll-Version). Auf diesem Everly-Brothers-Tribute-Album zollen Oldham und McCarthy der evergreenen Musik ihrer gemeinsamen Helden über die Strecke von 13 Songs höchst liebevoll Tribut. Sie erinnern mit ihren Coverversionen vor allem an die Vokalharmonien des Kentucky-Duos. In diesen Neueinspielungen entsteht eine Hybridmusik, die der Magie der Everlys im nostalgischen Folk- und Countrysound nachspürt, aber auch im Hier und Jetzt verortet ist, mit der ganz speziellen Klangchemie, die Oldham und McCarthy in ihren Duetten entwickeln. Auf die größeren Schmalzbrocken und prominentesten Gassenhauer der späten 50er („Bye Bye Love“, „Wake Up, Little Susie“) wurde glücklicherweise verzichtet. Mit dieser Collection darf der Liedschatz der Everly Brothers noch einmal frisch begutachtet werden, bei Songs wie „Omaha“ und „My Little Yellow Bird“ etwa. „Poems, Prayers And Promises“ gibt Auskunft darüber, welchen Einfluss Don und Phil Everly auf die Vokaltechniken von The Byrds und Buffalo Springfield hatten. Man kann WHAT THE BROTHERS SANG aber auch einfach als Bonnie-„Prince“-Billy-Platte hören und mit Dawn McCarthy ein paar Runden in der schönsten aller Melancholien drehen: „We used to have good times together, but now I feel them slip away, it makes me cry to see love die, so sad to watch good love go bad“ („So Sad“).

****1/2 Frank Sawatzki

Johnny Marr

The Messenger

Warner (VÖ: 1.3.)

Brit-Pop: Nach einer jahrzehntelangen Odyssee stürzt sich der wichtigste Gitarrist der 80er-Jahre mit Verve auf das, was ihn bekannt gemacht hat.

Es ist nicht erwiesen, wodurch genau Johnny Marr zur Besinnung gekommen ist. Gut möglich, dass es das Zwischenspiel bei The Cribs war. In so einer Band zweite Geige zu spielen, hat einer wie Johnny Marr schlichtweg nicht nötig. Was es auch war: Der ehemalige Gitarrist der Smiths hat gemerkt, dass es langsam an der Zeit für ein echtes Statement in eigener Sache ist. Musiker haben ja die Angewohnheit, vor einer erfolgreichen Vergangenheit wegzulaufen, an die sie nicht denken wollen. Sie lavieren sich lieber mit Sekundärem durch. Nach ungefähr 50 Lebensjahren kommt der Zeitpunkt, an dem man genügend Distanz aufgebaut hat und wieder zurückblicken kann. Dann macht man ein Album wie The Messenger. Ein Album, auf dem vieles von dem enthalten ist, was die Fans von The Smiths glücklich machen könnte. Vor allem ist es dieses überragend perlende Gitarrenspiel, das gefühlvoll wie einst („New Town Velocity“, groß!) oder etwas bissiger (der Titelsong) klingt. Johnny Marr verweist auch auf andere Musik, die ihn früher sonst noch begeistert haben muss. Sowohl in „I Want The Heartbeat“ als auch in „Generate! Generate!“ steckt eine Energie des Post-Punk, die durch zum Teil politische Andeutungen noch verstärkt wird. Und singen kann der Herr auch. Gesangslehrer werden da womöglich die Nase rümpfen, aber verstecken muss er sich mit seiner Stimme bestimmt nicht. „I’m on the right thing“, weiß er. Endlich, Johnny, endlich.

****1/2 Thomas Weiland

Matmos

The Marriage Of The True Minds

Thrill Jockey/Rough Trade

(VÖ: 22.2.)

Die Experimental-Elektroniker aus Baltimore bleiben abstoßend, anziehend und einzigartig zugleich.

Die spannende Frage beim Hören eines neuen Albums von Matmos ist ja immer: Was haben die Inhaber eines imposanten Instrumentenparks wohl diesmal so alles an externen Soundquellen erschlossen? Da dienten den beiden Sampling-Nerds M. C. Schmidt und Drew Daniel in der Vergangenheit an Haaren befestigte Kontaktmikrofone, Aufnahmen neuraler Aktivitäten von Langusten und Rattenkäfige als recht exotische Field Recordings. Selbst der Uterus einer Kuh (oder war es doch ihr Euter?) kam schon zum Einsatz. Dagegen liest sich die Liste der Soundquellen für the marriage of the true minds fast schon normal: Vuvuzela, Mixer, Weingläser, Aufnahmen von Gummibändern und Stepptänzern. Aber was zählt, ist bekanntlich das Resultat. Und da oszillieren Matmos weiterhin manisch in ihrem bizarren Klangkosmos, der meist so zugänglich ist wie ein Dschungel. Manchmal nervt diese Experimentierfreude, dieses häufige Brechen von Rhythmik, das Zerstückeln von Passagen, und doch finden sich in fast jedem der neun Tracks auf the marriage of the true minds magische Momente unterschiedlichster Länge. Besonders beeindruckend klingt „Very Large Green Triangles“ mit seinen Glockenklängen, einem präparierten Klavier, pulsierenden Beats und der orchestralen Wucht. Vor allem aber zerfasert der fast fünfminütige Song nicht, aber als wäre das Duo aus Baltimore samt vieler Gastmusiker selber erschrocken über diese Linearität, servieren sie einem mit „Ross Transcipt“ pürierte Töne, die aufs Gemüt schlagen. Aber dann folgt mit „Tunnel“ gleich wieder eine imposante Nummer, gespeist von Stakkato-Gitarren-Riffs und wild galoppierenden Beats. Das furiose Finale bildet eine Version von „E.S.P.“, einem Pete-Shelley-Song vom zweiten Buzzcocks-Album LOVE BITES. Matmos dehnen ihn auf über acht Minuten aus, beginnen mit Brunftlauten, verwandeln ihn zuerst in ein bedrohliches Industrial-Monster, das zum Elektro-Punk mutiert und dann im Pop endet. Was für eine Metamorphose!

**** Sven Niechziol

Mice Parade

Candela

Fat Cat/Rough Trade

Nennen wir’s Pop für gehobene Ansprüche, Prog-Pop oder Percussion-Rock: Der Amerikaner Adam Pierce findet mit dem Blick über alle Tellerränder neue Freunde.

Die ersten beiden Alben, die Adam Pierce Ende der 90er-Jahre unter dem Namen Mice Parade veröffentlichte, zählten zu jener Art von damals gerade aufkommenden Verortungsmusiken, in denen das Verhältnis von Elektronik und Akustik neu justiert wurde. Diese Musik legitimierte sich über die folgenden im Bandrahmen eingespielten Fat-Cat-Veröffentlichungen auch als kulturelles Gedächtnis, in dem die großen Augenblicke vergangener Heldentaten gespeichert und nun in homöopathischen Dosen und mit Elementen eher randständiger Stile verbunden ausgeworfen wurden: Brian Enos Ambient-Ideen, die rhythmischen Grundsätze, die Jaki Liebezeit Can beigebracht hatte, Flamenco, Folk, brasilianischer Jazz und fernöstliche Harmonien. Dass der Perkussionist Pierce seine Tracks zuallererst über den Rhythmus baut, ist auch den zehn Beiträgen auf CANDELA anzuhören, nie zuvor aber haben Mice Parade sich so weit auf den wohligen Wogen des Pop treiben lassen. Und Pop kann dabei heißen, dass ein hübsches Ding von einem melancholisch verschleppten Song sich über den Einsatz von Piano, Trompete und Beats urplötzlich in eine quirlige Latin-Nummer verwandelt („Las Gentes Interesantes“). Manchmal klingt das auch wie eine Shoegaze-Band, die ihren alten Gitarrenkumpels Ade gesagt und mit dem Blick über alle Tellerränder neue Freunde gewonnen hat.

**** Frank Sawatzki

Neve Naive

The Inner Peace Of Cat And Bird

Sonar Kollektiv/Alive (VÖ: 22.2.)

Ein Debütalbum, das sich stilistisch alle Freiheiten herausnimmt.

Neve Naive, das sind die Sängerin und Songwriterin Neve alias Alexa Voss und der Produzent und Multiinstrumentalist Stefan „Merse“ Ulrich. Voss trat bereits als Solokünstlerin unter dem Namen Miss Flint in Erscheinung, als Mitglied der Reggae-Band Jahcoustix sowie als Backgroundstimme von Laith Al-Deen und Culcha Candela. Ulrich ist bekannt als Posaunist der Jazzanova-Liveband und als Mitglied von The Ruffcats. Auf the inner peace of cat and bird, dem Debütalbum ihres gemeinsamen Projekts Neve Naive, schlägt das Duo allerdings ganz andere Wege ein, als die musikalische Vergangenheit vermuten ließe. Neve Naive nehmen sich in Songs wie „30 Years“ und „Average Tragedy“ alle Freiheiten heraus und verlieren sich trotzdem nie im Dschungel der tausend Möglichkeiten. Die beiden verbinden swingende Grooves mit einfühlsamen Melodien und psychedelischen Klängen.

**** Franz Stengel

auffällig oft …

… ist in diesem Plattenteil von Jaki Liebezeit die Rede. Liebezeit, geboren am 26. Mai 1938, war Schlagzeuger der Kölner Experimental-Band Can, Mit seinem Gefühl für unkonventionelle Rhythmen hat er den Can-Sound maßgeblich gestaltet. Aktuell macht Liebezeit u. a. Musik mit dem Berliner Dub-Techno-Musiker Burnt Friedman.

Nosaj Thing

Home

Innovative Leisure /Al!ve (1.3.)

Jason Chung recycelt seine elektronischen Weltraum-Beats.

Als vor drei Jahren Drift auf der Bildfläche erschien, passte das Album des heute 27-jährigen Produzenten Jason Chung aus L. A. mit seinen melancholisch-futuristischen Beats so gar nicht zu den knallbunten Wonky-Trends von Hudson Mohawke und Co., verdiente sich aber mit Ambient und auf der Warp-Schule gelernten Experimenten seine Meriten als Geheimtipp. Eine Weiterentwicklung seines Sounds hat – zwischen diversen Remixen für u.a. The xx und Flying Lotus – in den drei Jahren zwischen den Alben weniger stattgefunden. Noch immer puckern die Beats sanft vor sich hin, tragen verspielte Synthesizer auf ihren schmalen Schultern und spielen vor allem nachts groß auf. „Snap“ könnte ein Outtake von 2009 sein. Klingt alles gut, aber auch fast schon „nett“. Tracks wie „Safe“ und „Phase III“ sind zu spannungsarm, um Akzente zu setzen und sprechen mehr von Stagnation als von neuen Aufgaben. Neu sind die Vocalbeiträge von Blonde-Redhead-Sängerin Kazu Makino und Pop-Styler Toro Y Moi, die sich von einer gemeinsamen Tour kennen. Wer von Drift seinerzeit nicht genug bekam, sollte sich verpflichtet fühlen, hier reinzuhören. Ein großer Wurf ist Jason Chung dennoch nicht gelungen.

***1/2 Christopher Hunold

On And On

Give In

City Slang/Universal (VÖ: 1.3.)

Indie-Pop: Das US-Trio lässt das Feine, Versponnene und das Polternde kunstvoll aufeinanderprallen.

Chicago hat sich ja den sehr werberelevanten Ruf erworben, Amerikas „most haunted city“ zu sein, die Geschichten von gewaltsamen Toden, auf seltsame Weise verschwundenen Menschen und dem Treiben der Geister füllen Bücher. Mit „Ghosts“ kommt der Windy City jetzt ganz kostenfrei eine Hymne ins Haus, die das seltsame Verschwinden von Klängen zum Thema hat, über die keine Sekunde zu lang geratene Strecke von 5:07 Minuten. Es mag ja zuallererst wie ein weiteres Dream-Pop-Ding mit hübschen Huahuah-Chören und viel Hall klingen, steht einen Moment lang fast still und wird dann noch einmal im Dub-Modus neu geboren, eine Art Song-Skelett aus federnden Beats und dem Dröhnen eines Pianos (oder war’s der Bass?). Bei On And On dürfen die Elemente aufeinanderprallen, das Feine, Versponnene, Ambiente und das Halsbrecherische und Polternde, hervorragend in Form gebracht von Broken-Social-Scene-Produzent Dave Newfeld. In den besten Momenten wird ein Popsong daraus, „Every Song“ und „Cops“ erzählen von den Möglichkeiten, aus den disparaten Teilen ein Ganzes zu schaffen, das gar nicht mehr als die Summe seiner Teile werden will. Es darf eher auch mal weniger sein. In der Ideenbreite und in der Klangtiefe hat das was von Menomena, auch eine Band, die das Berliner City-Slang-Label im Programm führte. Nur dass bei On And On die Songs noch einmal ausgewaschen wurden und tropfnass auf der Leine hängen bleiben.

***** Frank Sawatzki

Palma Violets

180

Rough Trade/Beggars/Indigo(VÖ: 25.2.)

Geht doch. Krachender britischer Indie-Garagenrock, der die Reunion der Libertines überflüssig macht.

Da kommt also jemand an und schlägt einem Mädchen vor, gut Freund mit ihr zu bleiben. Als Sänger einer Band, die sich nach einer Sorte Süßigkeiten benannt hat. Da erwartet man nicht gerade aufregenden Rock’n’Roll. Aber „Best Of Friends“ war ein Auftakt nach Maß. Ein Song, den man mal wieder so richtig rausbrüllen konnte. Und da geht noch mehr. „Chicken Dippers“ ist ein sich behutsam mit psychedelischer Orgel herantastender Song, der in einem Aufschrei der Euphorie endet: „And you make me feel like I’m the only one, wooooo!“ Da geht auch „Rattlesnake Highway“, ein rumpelnder Garagenrocker, mit dem die Jungs aus Lambeth zeigen, was für einen Riesenschwarm Hummeln sie im Hintern haben. Und da geht „Johnny Bagga Donuts“, ein Krawallakt mit Surf-Punk-Anteilen und Farfisa-Pfeifen, der aus der frühen wilden Zeit von The Clash stammen könnte. Bisher dachte man bei Palma Violets ja auch an eine andere Band. An The Libertines, wegen der Doppelspitze Sam Fryer/Chilli Jesson und den spontanen Partys und Gigs im eigenen Studioverhau. Doch diese Parade-Bengel haben ganz andere Ziele. Sie wollen nicht über ausgetretene Pfade stampfen. Sie wollen mehr. „I’ve got a brand new song, it’s gonna be number one“, johlen sie. Das schaffen Palma Violets mit diesem Erstauftritt mit links. Nicht nur wegen der erbärmlichen Konkurrenz, sondern vor allem, weil sie bei aller Großtönerei auch Klasse haben, die weit trägt.

***** Thomas Weiland

Story S. 26

Pissed Jeans

Honeys

Sub Pop/Cargo (VÖ: 15.2.)

Mit der Zeit wird man ruhiger, sagt eine alte Regel. Die gilt nicht für diese Noise-Rock-Rohlinge.

Es ist nicht bekannt, ob man automatisch ausrasten muss, wenn man aus einer Stadt kommt, nach der Billy Joel einen Song benannt hat. Fakt ist, dass ein Dasein in Allentown, Pennsylvania, grundsätzlich nicht unbedingt zu einer optimistischen Haltung verführt. Man kennt sich aus mit Arbeitslosigkeit, dort leben die Verlierer struktureller Veränderungen und wirtschaftlicher Krisen. Oder man hat es aus irgendwelchen Gründen geschafft, seinen alten Mistjob zu behalten. „I am a chain worker caught in an infinite loop, like a skipping compact disc“, faucht Matt Korvette auf dem vierten Album seiner Band merklich angesäuert. Die Gitarre ist hoffnungslos verzerrt und der Bass wühlt so tief im Dreck, dass man an Nick Caves Birthday Party oder an den Output von Labels wie Amphetamine Reptile und Touch & Go vor der Grunge-Domestizierung denken muss. Pissed Jeans erinnern daran, dass Indie-Rock ursprünglich die Heimat von Leuten war, die so richtig durchdrehen wollten. Es gibt genügend Dinge, die Korvette und seinen Kumpanen gegen den Strich gehen. Projektmanager, die Fast Food aus der Cafeteria für eine gesunde Wahl halten. Ärzte, die nur arbeiten, um Boni von der pharmazeutischen Industrie zu kassieren. Bekanntschaften aus dem Internet, die im wahren Leben unter Aufsicht gestellt werden müssten. Man muss unbedingt gehört haben, was Pissed Jeans zu diesen Themen einfällt und mit welcher Entschlossenheit sie dagegen ankämpfen.

**** Thomas Weiland

PVT

Homosapien

Felte/Rough Trade (15.2.)

Das australische Trio fächert sich weiter auf und entdeckt die Möglichkeiten der elektronischen Rockmusik.

Anfangs hießen PVT noch Pivot und nahmen für das Label Warp mit O SOUNDTRACK MY HEART (2008) eine imposante Instrumentalrockplatte auf, die den Bogen von Vangelis über Trans Am bis hin zu den Battles spannte – in einem fast schon brachial analogen, von potenten Synthesizern und einem ebenso mächtigen Schlagzeug dominierten Sound (produziert von der Postrock-Koryphäe John McEntire). Dann mussten sie ihren Namen ändern, denn eine Band namens Pivot gab es schon, in den USA. Die Australier sangen auf CHURCH WITH NO MAGIC (2010) nun auch, einigermaßen pathetisch sogar, aber deshalb waren das noch keine Songs im klassischen Sinn. Das ändert sich nun aber auf HOMOSAPIEN, ihrem insgesamt vierten Album – zumindest entsteht schnell ein solcher Eindruck. Das Trio bremst seinen Energiefluss, die Arrangements des bewährten PVT-Instrumentariums sind darauf ausgerichtet, einen weniger vordergründigen Sound zu erschaffen, ihnen geht es um Atmosphäre. Spannung. Sie lassen Platz und Pausen. Suchen und finden den Flow. Oft reicht dann auch schon ein kleiner Dreh an den Nuancen, um die Richtung deutlich zu ändern. Mit ein bisschen mehr Drumbox-Einsatz und Swing im Beat landen PVT mit „Cold Romance“ schnell bei der leicht psychedelischen, lustig bimmelnden Housemusik Caribous. Ein Elektropopstück wie „Love & Defeat“ arbeitet wiederum mit ähnlichen Mitteln wie Muse, wenn bei ihnen mal wieder der Sequencer die Richtung vorgibt. Nur lassen PVT dabei die großen, dramatischen Gesten bleiben. Wie viele „Songs“ am Ende bei HOMOSAPIEN herausspringen, sollen indes jene entscheiden, für die eine solche Töpfchen/Kröpfchen-Sortierung zwischen Songs und Tracks auch im Jahr 2013 immer noch eine wichtige Rolle spielt. Der Rest entdeckt mit PVT die vielen Möglichkeiten und freut sich.

****1/2 Oliver Götz

Gemma Ray

Down Baby Down

Séries Aphonos/Bronze Rat/Soulfood (VÖ: 1.3. – Vinyl/Download)

Die britische Singer/Songwriterin verzichtet weitgehend auf Gesang und bietet imaginäre Soundtrackmusik mit dem gewissen Gitarrentwang.

Der Ennio-Morricone-David-Lynch-Chris-Isaak-Gedächtnispreis geht in diesen Monat an Gemma Ray. Es ist ja nicht so, als ob den bisher vier Solo-Alben der Singer/Songwriterin aus Essex nicht eine gewisse Düsternis innegewohnt hätte, die manche unter dem Begriff „Pop noir“ subsumieren. Diesen Hang zu dunkelgrauen Stimmungen lebt sie auf DOWN BABY DOWN in zehn (überwiegend instrumentalen) Tracks in knackigen 30 Minuten aus. Gemma Ray schafft mit unter anderem Bad-Seeds-Mitglied Thomas Wydler am Schlagzeug aus Rekonstruktionen historischer (Morricone, John Barry) und den Kreationen imaginärer Soundtrackmusiken ein Album-Album. Der gewisse Gitarrentwang ist verantwortlich für die kontemplative Stimmung des Albums, die beizeiten ins Manische und Psychotische kippt. Also genau die richtige Musik für Psychopathen wie dich und mich. DOWN BABY DOWN wurde strictly analogue im Candy-Bomber-Studio in Berlin-Tempelhof aufgenommen und ist nur als LP (mit CD) und Download zu haben.

****1/2 Albert Koch

Rick Redbeard

No Selfish Heart

Chemikal Underground/Rough Trade

Melancholische Songwriter-Folk-Platte vom Sänger der Phantom Band.

Mancher Musiker ist mit den Aktivitäten seiner Haupt-Band nicht ausgelastet, und so ist es eine gute Tradition, weniger aktive Phasen zu nutzen, um sich an einem Solowerk zu versuchen. Rick Redbeard, das Alias von Rick Anthony, dem Sänger der Phantom Band, hat da in den vergangenen Jahren bereits einige Erfahrungen gesammelt und legt nun mit No Selfish Heart ein durch und durch introvertiertes Album vor. So sparsam wie die Instrumentierung sind auch die Songs strukturiert. Anthony vertraut in Nummern wie „A Greater Brave“ und „We All Float“ ganz der Kraft seiner Stimme und ist mit Erfolg damit beschäftigt, sich an seinen Vorbildern – dem schottischen Folksänger Jim Reid und dem amerikanischen Southern-Goth-Schriftsteller Cormac McCarthy – abzuarbeiten. Das sind zwei ziemlich eigenwillige Einflüsse, die aber diese Platte mit ihren oft melancholisch und leicht morbide eingefärbten Songs zu etwas Besonderem machen. Rick Anthony hat acht Jahre an diesem Album gearbeitet, das für ihn auch so etwas wie ein Tagebuch geworden ist. Vor allem seine Kindheit und Jugend spielt in den Songs eine zentrale Rolle. Das Gefühl einer immerwährenden Nostalgie zieht sich wie ein roter Faden durch die ganze Platte und ist schlussendlich für die anhaltende Faszination verantwortlich, die diese spröden Songs ausstrahlen.

***1/2 Franz Stengel

Patrick Richardt

So, wie nach Kriegen

Grand Hotel Van Cleef/Indigo

Singer/Songwriter: Ein neuer Geschichtenerzähler mit klarem, analytischem Verstand.

Über mangelnden Zulauf kann sich das Singer/Songwriter-Genre auch in Deutschland nicht beklagen, auch wenn viele hochgelobte Talente bei genauerer Betrachtung nur wenig mehr zu bieten haben als Hausmannskost. Patrick Richardt aber segelt mit seinem Albumdebüt So, wie nach Kriegen gekonnt zwischen verschiedenen Großmeistern der Zunft. Die Namen, die dabei ins Spiel kommen – von Ton Steine Scherben über Gisbert zu Knyphausen bis hin zu Bob Dylan -, haben als Referenzrahmen durchaus ihre Berechtigung, aber man sollte die Songs von Patrick Richardt nicht mit solchen Vergleichen belasten. Sie können für sich alleine stehen, sowohl in Bezug auf ihre poetische als auch musikalische Kraft. Und sie entwickeln ein beachtliches Eigenleben, fernab der Beliebigkeiten, mit denen seine zahlreichen Kollegen so nachhaltig nerven. Die Sprachbilder, die Richardt in Songs wie „Gleichstrom“ und „Morgenlicht“ benutzt, sind frisch und frei von Pathos. Dem Label Grand Hotel Van Cleef kann man zu der Entscheidung, die Demos als Debütalbum zu veröffentlichen, gratulieren. Denn die Ursprünglichkeit, die diese Aufnahmen auszeichnet, wäre in einem Studio wohl verloren gegangen. Die bedingungslose Melancholie von Songs wie „Wie nach Kriegen“ oder die rotzige Trotzigkeit von „Wie die Meere entstehen“ bekommt man selten zu hören. Und mit dem hymnischen Song „Planet“ wird die Frage, ob Patrick Richardt das Zeug zum Star hat, von alleine beantwortet.

****1/2 Franz Stengel

Alasdair Roberts

A Wonder Working Stone

Drag City/Rough Trade

Der schottische Barde bleibt ein Grenzgänger zwischen Tradition und Indie-Folk.

Alasdair Roberts ist kein Mann, der den Folk erneuern will. Heute mehr denn je stehen die Songs des im Schwabenland geborenen und in Schottland aufgewachsenen Sängers in der Tradition der gälischen Musik. Am Anfang seiner Karriere schien es ja noch so, als könne er mit seiner Band Appendix Out vielleicht den Spuren von Will Oldham folgen, der nicht unerheblich am Zustandekommen von Roberts‘ erstem Plattenvertrag beteiligt war. Nur in wenigen Augenblicken erinnern die sehr karg arrangierten Lieder auf A WONDER WORKING STONE an den schratigen Songwriter aus Kentucky, denn Einflüsse von Alasdair Roberts kommen nicht aus dem Country, sondern aus der keltischen Folklore. Manchmal kann man den Einfluss von Jason Molina (Songs: Ohia) heraushören, mit dem Roberts ja auch schon gearbeitet hat. Aber vor allem verbindet der Singer/Songwriter Folk mit Indie. Er gibt dem Genre, das ja gerne mal auf die Dubliners, Whisky und bärtige Männer in Pubs reduziert wird, auch wegen der universellen und bisweilen morbiden Themen, einen frischen Anstrich gibt. Zusammen mit befreundeten Musikern wie Ben Reynolds und Stevie Jones (aus dem Umfeld von Arab Strap), die aus seinem Lebensmittelpunkt Glasgow kommen, entstand ein Album in Quintettstärke. Trotzdem bleibt A WONDER WORKING STONE ein stilles Werk, getragen von wenigen Keyboards, dezentem Schlagzeug, der unverzichtbaren Fiddle und Akustikgitarre. Nur am Anfang in „The Merry Wake“, dem vom Wüstenblues à la Tamikrest umwehten „The Year Of The Burning“ und der etwas biederen Scheunentanz-Nummer „Scandal And Trace“ geht es mehr lebhaft zu, den großen Rest des Albums bilden sehr schöne Balladen.

***1/2 Sven Niechziol

Omar Rodriguez-Lopez

Equinox

Unicorn Skeleton Mask

Omar Rodriguez Lopez Group

Woman Gives Birth To Tomato!

Rodriguez Lopez Productions

Experiment, Free Jazz, Electronica: Die Solo-Alben Nummer 23 bis 25 des musikalischen Kopfes von The Mars Volta.

Das Jahr 2013 war gerade einmal zwei Tage alt, da hatte Omar Rodriguez-Lopez bereits drei Alben veröffentlicht, zunächst nur digital, in guter Tradition werden wahrscheinlich im Lauf des Jahres die Vinylversionen folgen. Alle drei Alben – auch fast eine Tradition – wurden mit aktuellen oder ehemaligen Mitgliedern von The Mars Volta aufgenommen: seinem Bruder Marcel Rodriguez-Lopez, Adrian Terrazas-Gonzalez, Thomas Pridgen, Juan Alderete, Deantoni Parks und Mark Aanderud. EQUINOX ****1/2 biegt frühen Free Jazz zurecht auf (Prog-)Rock-Band-Format, verarbeitet Chill Wave mit den Mitteln des Math-Rock, elektronischen Space-Noise, europäische Improvisationsmusik. Während Rodriguez-Lopez auf dem wunderbar betitelten WOMAN GIVES BIRTH TO TOMATO! **** – als Album der Omar Rodriguez Lopez Group deklariert – europäische und amerikanische Free-Jazz-Traditionen mit dezenten Vintage-Synthesizer-Sounds verbindet. Die Antithese nicht nur zum eklektischen Werk von Omar Rodriguez-Lopez, sondern zum Song überhaupt, gibt es dann im finalen „Tokyo Japan“: es besteht aus 30 Sekunden Stille. Im Mittelpunkt des Albums steht Saxofonist, Klarinettist und Flötist Adrian Terrazas-Gonzalez. Die weitestgehende Annäherung an den (Prog-)Rock bietet UNICORN SKELETON MASK **1/2. Das liegt auch am (verfremdeten) Gesang, vor allem aber an den pompösen, aufgeblasenen Strukturen der Songs (wie The Mars Volta an einem schlechten Tag) und daran, dass die Gitarre von Omar Rodriguez-Lopez hier wie eine Gitarre klingt.

Albert Koch

Alice Russell

To Dust

Differ-Ant Recordings/Groove Attack (VÖ: 15.2.)

Tradition und Moderne: Die englische Soul-Sängerin verbindet das Beste aus verschiedenen Generationen.

Warum kennt diese Frau keiner? Diese Frage ist oft gestellt worden, aber man muss sie immer wieder anbringen. Falsch hat Alice Russell bisher nichts gemacht, auch nicht mit Look Around The Corner, der wunderbaren Kollaboration mit Quantic aus dem Vorjahr. Trotzdem reden alle weiter über Amy und Adele, wenn es um Retro-Soul geht. Der Vorteil ist, dass Russell alle Ruhe der Welt hat, um sich auf ein neues Album zu konzentrieren. Auf eines, das so gut wie To Dust ist. Erneut hat sie mit Alex Cowan alias TM Juke zusammengearbeitet. Er setzt sich an den Laptop, bastelt an den Rhythmen, nimmt Instrumente auf und lässt Russell und ihren Chor dazu singen. Aus dieser Konstellation erwächst keineswegs nur Musik für Hörer, die nach Motown aufgehört haben, mit der Zeit zu gehen. In „For A While“ steckt ein Beat, der an den R’n’B der jüngsten Zeit angelehnt ist. „Hard And Strong“ basiert auf einem treibenden Groove, dazu singt Russell wie Róisin Murphy. Es sind hier viele kleine feine Ideen eingewebt, die zu dieser Sängerin passen und ihr ein paar mehr Freunde einbringen sollten. Wenn alles normal läuft.

****1/2 Thomas Weiland

Max Schröder & das Love

Max Schröder & das Love

Meekalonious Pip/Rough Trade

(VÖ: 22.2.)

Das erste große deutsche Rock-Album des Jahres: Uncool ist das neue Cool.

Es zeichnete sich ja ab: Uncool ist das neue Cool. Und endlich hat Max Schröder mit diesem Album den Soundtrack dazu geschrieben. Der sonst als Multiinstrumentalist bei Olli Schulz, Tomte, Die höchste Eisenbahn und Leslie Clio beschäftigte Wahlberliner entpuppt sich auf diesem, seinem zweiten und mal wieder im Alleingang eingespielten Solo-Album auch noch als herausragender Songwriter. In seinen Liedern adaptiert Schröder nicht nur souverän Country und Soul, Mainstream-Rock und Indie-Pop, sondern offenbart auch noch großes Talent für den lakonischen Reim, der trotzdem Daseinszustände auf den Punkt bringt. Dann schaut er seinen Töchtern, die er zusammen mit Heike Makatsch großzieht, beim Wachsen zu, kämpft mit den Schatten der Vergangenheit und blickt ausführlich auf die Gegenwart, in der er und sein Umfeld damit beschäftigt sind, Älterwerden, Zweisamkeit, Elternsein und vor allem die mit all dem einhergehende Verantwortung anzunehmen, ohne das hedonistische Leben des Kreativen zu sehr zu vermissen. Einfühlsam, aber niemals gefühlig beschreibt Schröder den verzweifelten Versuch, in einer Gegenwart zu leben, die von der Sorge um die Zukunft aufgefressen wird („Hier ist hier“), das zum Scheitern verurteilte Bemühen, die alten Ideale zu bewahren („Der wahre Jakob“) und die Arbeit, die größte Liebe gegen die Gefahren Alltags zu verteidigen („Du & das allerschönste Mädchen der Welt“). Max Schröder & das Love ist schon jetzt eines der großen deutschen Alben des neuen Jahres.

***** Thomas Winkler

Selig

Magma

Vertigo Berlin/Universal

Kraftmeier-Rock? Nicht nur. Auf magma klingen Selig erstaunlich schlüssig.

„Wenn es nicht rockt, ist es für’n Arsch“, sagte einmal Charlotte Roche, seinerzeit als Moderatorin der VIVA-Zwei-Sendung „Fast Forward“ so etwas wie die Spokeswoman der deutschen Indie-Republik. Aber hey: Das war in den Neunzigern. Und die Neunziger sind vorbei. Andererseits, ein schönes Paradox, kommen die Neunziger gerade wieder, Entsprechendes liest man allerorten. Insofern können sich Selig selbst auf die Schultern klopfen. Denn von geringen Modifikationen im Sound abgesehen erinnert MAGMA an jene Alben, mit denen die Hamburger vor auch schon wieder 15, 20 Jahren zu einer der erfolgreichsten Bands des Landes wurden. Bedeutet: Nach wie vor schnoddert sich Jan Plewka durch emotionale Randnotizen aus seinem Leben. Girls, Girls, Girls, aber auch Erfolg und der Zustand der Welt im Allgemeinen sind seine zu bewältigenden Probleme. Dazu spielt die Band (ebenfalls nach wie vor) wohltemperierten Midtempo-Rock, der nicht nur die 90er-, sondern vor allem die 70er-Jahre anvisiert und etwas weniger kraftmeierisch produziert wurde als der Vorgänger VON EWIGKEIT ZU EWIGKEIT. Zusammengeführt durchaus angenehm, in einigen Songs, etwa „Alles auf einmal“ und „Schwester Schwermut“, richtig gut. Wenn man Rockmusik mag.

**** Jochen Overbeck

Shaka Ponk

The Geeks And The Jerkin‘ Socks

Tôt ou Tard/Good To Go (VÖ: 8.2.)

Hyperventilationen unter Überdosen von Zucker: der adrenalinhaltige Copy-And-Paste-Rock mit animiertem Affen.

Kirmes-Rock, Ska-Raupe, Synthesizer-Achterbahn. Alles dreht sich, alles überschlägt sich. Die Pariser Band mit dem animierten Bühnen-Affen, die in ihrer Heimat schon auf Platin steigen konnte, hat sich den Ruf einer wüsten, mit allen Wassern der Postmoderne gewaschenen Adrenalin-Rock-Combo erwerben können. THE GEEKS AND THE JERKIN‘ SOCKS ist die gnadenlose Copy-And-Paste-Platte zur Zeit: Was wir von The Boss Hoss oder der Bloodhound Gang schon nicht brauchten, reichen Shaka Ponk in leicht zerfetzten, frisch zusammengesetzten Häppchen nach. Jeder Mensch, der nur einen Track (ein Video) der Gorillaz kennt, wird diese wild gewordenen Franzosen für ein, ähm, affiges Rip-off halten. Die paar Riffs aus der Muskelrock-Retrokiste machen noch keinen Rock’n’Roll, das bisschen Disco-Geballer noch keinen Dancefloor. Der, nun ja, alte Affe Schweinerock hyperventiliert auf THE GEEKS AND THE JERKIN‘ SOCKS unter Überdosen von Zucker. Das Album wurde in Frankreich ursprünglich schon im Jahr 2011 veröffentlicht und jetzt für den deutschen Markt mit Arschwackel-Animationen, Making-of und volltätowierten Live-Bildern auf DVD bestückt.

**1/2 Frank Sawatzki

Sally Shapiro

Somewhere Else

Paper Bag Records – Import

(VÖ: 8.2.)

Das immergrüne Disco-Revival: Der italo-infizierte Synthpop der schwedischen Sängerin/Band wird auch nicht unbedingt spannender.

Nach gut einem Jahrzehnt ist das Disco-Revival quasi zu einem eigenen Genre geworden. Es ist immer da und nie, sodass die Bewertung seines aktuellen Status auf den jeweiligen Standpunkt des Beurteilers ankommt. Es ist schon lange vorbei (sagen die Checker), wie jetzt, Disco-Revival? (fragt der musikdesinteressierte Hauptstrom), es ist schon längst wieder da (denken die Vollchecker). Auf jeden Fall war Sally Shapiro, das schwedische Duo mit der gleichnamig pseudonymten Sängerin, von Mitte bis Ende des vergangenen Jahrzehnts – einer Zeit, in der die Checker das Disco-Revival auf seinem Höhepunkt wähnten – eine sehr gute Adresse für Italo-Disco-infizierten Synthpop. Nach der Zwischenstation München beim Label Permanent Vacation für das zweite Album, MY GUILTY PLEASURE, ist Sally Shapiro mit Album Nummer drei wieder bei Paper Bag Records in Kanada gelandet. Sally Shapiro, die Sängerin, meint, Sally Shapiro, das Duo, spiele keinen Italo Disco mehr. Was aber ist das großartig betitelte „This City’s Local Italo Disco DJ Has A Crush On Me“ anderes, als sein Titel vermuten ließe? In der Summe aber ist SOMEWHERE ELSE musikalisch tatsächlich ein bisschen breiter angelegt als die beiden Vorgänger, was dem Album allerdings nicht zwangsläufig gut bekommen muss. Ab und zu kippt die Stimmung der Songs in Richtung ironiefreier 80er-Jahre-Mainstream-Pop, inklusive cheesy Saxofon.

*** Albert Koch

Shout Out Louds

Optica

Vertigo Berlin/Universal (VÖ: 22.2.)

Bunt, verspielt und trotzdem auf den Punkt: das vierte Album der schwedischen Indie-Popper.

Nein, den Vergleich mit Robert Smith wird Adam Olenius von den Shout Out Louds wohl nie wieder los werden – auch wenn er auf „Sugar“, dem Opener des neuen Albums OPTICA, in Kopfstimme croont, bleibt seine Stimmfarbe sehr ähnlich zu der des Cure-Sängers. Nicht der einzige Paradigmenwechsel – wo der Vorgänger WORK eine eher karge Platte war, ist Album Nummer vier der Shout Out Louds verspielt im besten Sinne. Im Hintergrund tönt’s „Oh oh“, vorne werden allerhand Tasteninstrumente gestapelt. Das Schlagzeug klöppelt, die Vocals werden gelayert, manchmal quietscht und fiepst es im Hintergrund der Songs, wenn Streicher benötigt werden, stehen die Streicher bei Fuß. So entsteht ein Groove, der neu im Universum der Shout Out Louds ist, und der seinen Höhepunkt in „Walking In Your Footsteps“ mit seiner Flöte und seinem Klavier findet. Ohnehin bleibt die Musik trotz der erwähnten Bestandteile stets eingängig, weil da diese Auf-den-Punkt-Botschaften sind, für die im Bedarfsfall Platz geschaffen wird: „When I walk down the line I walk down with you“, heißt es etwa in „Illusions“, „Take me to the fireworks, show me how the fire works“ im schwülen, nach einer Remix-EP schreienden „14th Of July“. Adam Olenius, darüber wird viel zu wenig geschrieben, kann texten, spannt Fäden zwischen Sehnsucht und Hoffnung und passt die daraus entstandenen Texturen ohne erkennbare Nähte in große Songs ein. Mehr kann man von Pop nicht erwarten.

***** Jochen Overbeck

Story S. 22

The Soft Hills

Chromatisms

Tapete/Indigo (VÖ: 8.2.)

Die Band aus Seattle betreibt Besitzstandserweiterung in den Bereichen Psych, Prog und Folk. Das Präfix „Soft“ bitte nicht vergessen.

Was in den Hallräumen so alles passieren kann: Dort drehen die Gesänge des Quartetts aus Seattle mal einsame, mal in sämigem Soundbrei verschwindende Runden, Bass und Schlagzeug fuhrwerken tief im Dunkeln, und mit den Gitarren hebt die Band in den Feedbackhimmel ab. So weit, so bekannt. In diesen wolkigen Songcollagen bewegen sich The Soft Hills heute mit einer Selbstverständlichkeit, als würden sie diese Lieder schon tausendmal geträumt haben. Das klingt sehr abgehangen und lässig. Wer The Soft Hills bisher übersehen und -hört hatte, und sie erst mit Chromatisms entdeckt, darf sie nun wohlwollend in die Sammlung irgendwie von Psych, Prog und Folk angefixter Besitzstandserweiterer aufnehmen. Wobei auch hier kein Weg an dem gerade ziemlich inflationär gebrauchten Präfix „Soft“ vorbeiführt.

***1/2 Frank Sawatzki

Soundtrack

Django Unchained

Universal

Auf dem Soundtrack zum neuen Film von Quentin Tarantino finden sich nicht nur vergessene Schätze, sondern auch neue Perlen.

Es gibt Menschen, die halten Quentin Tarantino für einen überbewerteten Regisseur, schätzen ihn aber durchaus als DJ und Musik-Trüffelschwein. Auch für den Soundtrack für seinen neuesten Film „Django Unchained“ hat er wieder tief in sein Plattenregal gegriffen und Erstaunliches zutage gefördert. Darunter ist Erwartbares wie Musik von Ennio Morricone, die bei einer Hommage an den Italo-Western ebensowenig fehlen darf wie die seines Schüler Luis Bacalov – wie schon auf dem Kill Bill-Soundtrack. Musikalisch vertreten sind Spaghetti-Klassiker wie „They Call Me Trinity“ und natürlich der originale „Django“, aber auch Musik aus vergessenen Filmen des Genres wie „Lo chiamavano King“, der trotz seines Hauptdarstellers Klaus Kinski nie in die deutschen Kinos kam, und seltsamerweise auch „Under Fire“, der nicht im wilden Westen, sondern im revolutionären Nicaragua spielt. Außerdem ein wenig Country, reichlich Americana und das großartige „I Got A Name“ von Jim Croce. Aber neben alten Perlen hat Quentin Tarantino erstmals auch Originalsongs einspielen lassen. Nun darf John Legend beweisen, dass sich so ein schöner Retro-Soulsong ganz gut zu Knarren und Bohnen macht, und der Rapper Rick Ross zeigen, dass er sich auch in der Wüste recht wohl fühlt. Erstaunlich ist wieder einmal, wie sich unter den Händen des Regisseurs ein hemmungsloser Stil- und Genremix dann doch zu einem stimmigen Ganzen fügt – in der Musik ganz so wie auf der Leinwand.

***** Thomas Winkler

Chris Stamey

Lovesick Blues

Yep Roc/Cargo (VÖ: 8.2.)

Gitarrenpop: Reifes, abgeklärtes Alterswerk des dB’s-Frontmanns.

A Question Of Temperature, das letzte Album des Songwriters und Produzenten aus North Carolina, der Anfang der Achtziger mit den beiden stilbildenden Alben Stands For deciBels (1981) und Repercussion (1982) seiner Band The dB’s für Furore sorgte, liegt acht Jahre zurück. Auf Lovesick Blues präsentiert sich Chris Stamey einmal mehr als der abgeklärte Songwriter, der von den Byrds bis zu den Beatles alle Referenzmodelle für geschmackvoll-gepflegten Gitarrenpop aus dem Effeff beherrscht. Die elf Songs geizen zwar mit Überraschungen, aber wer will Stamey bei zeitlosen Ohrwürmern wie „Anyway“ und „You n Me n XTC“ schon böse sein? Zusammen mit Produzent Jeff Crawford spielte Stamey elf unspektakuläre, aber herzerwärmende Kompositionen ein. Laut Chris Stamey spiegelt dieses Album den Sound wider, den er in der Nacht in seinem Kopf mit herumträgt. Seine bis heute unerreichte Meisterschaft im Schreiben von todtraurigen Balladen unterstreicht er zudem einmal mehr mit Stücken wie „Wintertime“ und dem Titelsong „Lovesick Blues“. Schöner kann Einsamkeit kaum vertont werden.

**** Franz Stengel

Thao & The Get Down Stay Down

We The Common

Domino/Good To Go

Thao Nguyen gibt dem Weird Folk den gepflegten Irrsinn zurück.

Es ist sicher nicht fair, jede Frau, die eine Akustikgitarre richtig herum halten kann und ihre eigenen Songs schreibt und singt, gleich in derselben Schublade abzulegen, in der schon Cat Power, Lilith Fair und Laura Veirs ruhen. Findet wohl auch Thao Nguyen und gibt sich mit WE ARE COMMON große Mühe, diese Kategorisierung zu verhindern: Zwar beginnt das dritte Album der Singer/Songwriterin aus San Francisco demonstrativ mit einem Schrammelgitarrenklischee, aber sehr schnell verwandelt sich der Titelsong in eine fröhlich hüpfende Hinterwäldlerparty. So geht es lustig weiter: Wenn in „The Feeling Kind“ von New Orleans die Rede ist, schaut prompt eine Marching Band vorbei und trötet sich heiter durchs Gerumpel. Dafür, dass sich Nguyen in ihren Songs immer wieder mit dem Tod beschäftigt, geht es musikalisch erstaunlich aufgekratzt zu. Selbst in „Kindness Be Conceived“, einem Duett mit Joanna Newsom, das vom Sterben handelt, verwandelt sich der Weg zum Friedhof in einen frohgemuten Spaziergang. So retten Thao & The Get Down Stay Down zwar nicht die Ehre des Weird Folk, der Ende des vergangenen Jahrzehnts zum Verkaufsargument verlotterte, aber Nguyen und ihre Band bringen doch den gepflegten Irrsinn zurück in den Indie-Folk, der zuletzt von allzu bärtigen und allzu ernsthaften Männern vertrieben worden war.

****1/2 Thomas Winkler

Tosca

Odeon

!K7/Alive

Downbeat von Huber & Dorfmeister: Neues aus dem Kaffeehaus klingt wie Altes aus dem Kaffeehaus. Noch wach?

Mit seinem Kollegen Peter Kruder hat Richard Dorfmeister den entspannten Downbeat der 90er-Jahre geprägt wie kein Zweiter (außer eben Peter Kruder). Mit seinem anderen Kollegen Rupert Huber und dem gemeinsamen „Projekt“ Tosca bleibt Dorfmeister sich denn auch seit den 90er-Jahren treu. Opera, das Tosca-Debüt im Jahr 1997, war epochal, das zweite Album Suzuki – drei Jahre später veröffentlicht – stand der Debütplatte in nichts nach. Und seitdem darf der auf dem Sofa ganz hinten im Kaffehaus leicht boxenwärts geneigte Hörer sich bei der Tosca-Musik an Stillstand auf höchstem Niveau erfreuen. Auch Odeon, das mittlerweile sechste Studioalbum des Wiener Duos, klingt wieder wie ein Ausflug in die lustige Elektrowelt, mit vorgeschaltetem Valium- oder auch Sahnefilter. Mal klingen Depeche Mode („Jayjay“), mal Kraftwerk („In My Brain Prinz Eugen“) an, aber immer verbreitet die Musik größtmögliche Entspannung, nur keine Hektik, immer schön warm und weich. Die völlige Abwesenheit von allem, was mit Dubstep zu tun hat, leuchtet zwar ein, bleibt dennoch bedauerlich. Hätte man doch gerne gehört, was Tosca aus diesen Einflüssen gemacht hätten. So bleibt die Musik freilich eine eher nostalgische Veranstaltung. Und wenn es doch mal musikalisch ins Freie geht („Soda“), dann war’s am Ende nur ein lückenfüllendes Instrumental. Die sollte man aber nicht unterschätzen: Wirklich bezaubernd wird Odeon immer dann, wenn mal keine Gäste am Mikrofon herumsoulen oder sonstwie Bedeutungen einsingen, sondern wenn die allgemeinen Zügel scheinbar schleifen. So etwa im gemütlich dahinzockelnden „Cavallo“ (allerdings mit etwas Geraune im Wiener Schmäh) oder im buchstäblichen Herzschlagfinale „Bon Jour“, wo ein menschlicher Puls den Rhythmus vorgibt.

*** Arno Frank

Trus’me

Treat Me Right

Prime Numbers/Groove Attack (VÖ: 18.2.)

Der soulige House von Trus’me gerät eine Nummer härter und hat den Techno für sich entdeckt.

Auch die gemeine Rezension lässt sich zuweilen ohne aufwendige Recherche nicht realisieren. Die Stimme, die David Wolstencraft im Opener seines dritten Albums Treat Me Right sampelt, klingt verdächtig nach der von der im Jahr 2011 verstorbenen Soul-Legende Gil Scott-Heron. Eine Anfrage beim Label und Trus’me selbst verrät jedoch Gegenteiliges. Es war ein Freund des Produzenten aus Manchester, mit dem er einst zusammenarbeitete. Leser und Schreiber sind gleichermaßen schlauer. Alles wird gut. Die Platte selbst ist Wolstencrafts deutlichste Ansage in Richtung Techno. Zuvor haben es die beiden großartigen und bös‘ unterschätzten Vorgängeralben Working Nights und In The Red noch elegant geschafft, seinen Disco-/Soul-/Funk-Background um entspannten Deep House zu schnüren. Mal eher sampleorientiert (besonders beliebt waren Schnipsel aus Tarantinos „Jackie Brown“) und mit einer kohärenten Geschichte ausgestattet, mal mit Gastmusikern wie Dam-Funk und Amp Fiddler, wenn die Songs im Fokus standen. Treat Me Right hingegen wurde on the road geschrieben, zwischen Club-Verpflichtungen und Hotelzimmer abhaken. An den Sounds und der Ausrichtung der Platte ging das nicht spurlos vorüber. Einiges klingt wie ein vorgegriffener Remix seiner Kollegen. Nicht jede der strammeren Techno-Nummern (wie „It’s Slow“) funktioniert so gut und direkt wie das ungewohnt pumpende „Somebody“, das auch Berliner Nächte ohne Boogie-Sozialisation auf seiner Seite hat. Mit Tracks wie „Te Une Pute“ aber gelingt Trus’me auch ein gekonnter Blick zurück auf seine entspannteren Anfänge, als es noch reichte, mit schleppenden 70s-Beats und ein paar gehauchten Funk-Samples Plattenkäufer zu finden. „Long Distance“ kommt sogar ganz ohne Beat aus. Leider bleibt nun kein Platz mehr, um über das Cover zu sprechen.

****1/2 Christopher Hunold

Unknown Mortal Orchestra

II

Jagjaguwar/Cargo (VÖ: 8.2.)

Altertümliche Psychedelic ist keine Schande, schon gar nicht von 30-jährigen Neuseeländern in Amerika.

Dem wahren Hipster ist kein Weg zu weit. Seine natürliche Umgebung findet er in Gegenden wie Portland, Oregon. Dort ließ sich Ruban Nielson aus Neuseeland vor drei Jahren nieder. Nielson stellte sofort einen Song ins Internet, sein Lied nannte er „Ffunny Ffrends“. Er selbst blieb anonym, bis Blogger und soziale Netzwerker nach seinem Namen fragten. Seither heißt er Unknown Mortal Orchestra und tritt als Band mit wechselnder Besetzung auf, gern vor Berühmtheiten wie Liars und Grizzly Bear. 2011 erschien das erste Album, unknown mortal orchestra, das zweite trägt den Titel II. Ruban Nielson weiß, was er der Hipster-Internationale musikalisch schuldig ist. II wurde von ihm mit zwei Freunden in der Küche aufgenommen und mit allem, was die Lo-Fidelity-Dogmen heute erlauben. Sämtliche aus dritter Hand ersteigerte Effektgeräte lassen die Gitarren psychedelisch leiern und den Schweinerock der Spätsechziger auferstehen – zwischen einminütigen Geräuschskizzen und Klangausflügen von sieben Minuten Länge. Nielson klagt über die Einsamkeit des jungen Großstädters, und auf dem Albumcover schwingt die Okkultistin Janet Farrar ein Zauberschwert. Einmal singt Rubans Bruder Kody Nielson mit. Als sie noch in Neuseeland lebten, unterhielten sie gemeinsam die Krawallband Mind Chicks. Bevor sich die Nielsons dann nach Oregon aufmachten, schlugen sie die neuen Instrumente kurz und klein. In Portland kauften sie sich alte. Jetzt beweisen sie, dass sie auch damit etwas Anständiges anzufangen wissen.

**** Michael Pilz

Voigt & Voigt

Die zauberhafte Welt der Anderen

Kompakt (VÖ: 18.2.)

Das erste Album der Brüder Wolfgang und Reinhard Voigt mit experimenteller, psychedelisierender elektronischer Musik.

Bei all den housigen, technoiden, minimalen, schlagerhaften, lokalpatriotischen, mundartlichen, ambienten, poppigen, retromanischen, neoklassizistischen und postmodernen Tracks, die die Brüder Wolfgang und Reinhard Voigt in den 20 Jahren des Bestehens des Kompakt-Labels gemeinsam oder getrennt voneinander aufgenommen haben, nimmt dieses Debütalbum eine Sonderstellung ein. DIE ZAUBERHAFTE WELT DER ANDEREN (ja, ja, lange erwartet) bietet abgesehen von wenigen Ausnahmen – in „Triptychon Nummer 7“ blitzt das Techno-Verständnis der Brüder auf, das sie in ihren Tracks für die 12-Inch-Serie „Speicher“ an den Tag legen – eine experimentelle, psychedelisierende Neue-Musik-artige Avantgarde. Es ist eine Art größenwahnsinnige Sampledelica-Oper, die im Album- und in den Tracknamen Titel, Charaktere und Orte der Filmgeschichte zitiert. „Die fabelhafte Welt der Amélie“, „Das Leben der Anderen“, „Endstation Sehnsucht“, „Der letzte Zug“, Akira Kurosawa. Der versteckte elfte Track des Albums repetiert über 26 Minuten das wunderschöne fernöstliche Mantramotiv aus „Akira“.

**** Albert Koch

Diane Weigmann

Kein unbeschriebenes Blatt

Rotschopf/Indigo (VÖ: 8.2.)

Songwriter-Pop, der sich mit Hingabe der Ein/Zweisamkeit widmet.

Nein, Diane Weigmann ist nicht die deutsche Amanda Palmer. Zwar hat das ehemalige Lemonbaby das neue Album genauso wie die ehemalige Dresden Doll mithilfe einer Crowdfunding-Aktion finanziert, aber da hören die Gemeinsamkeiten auch schon auf: Weigmann ist nun mal nicht exzentrisch, sondern eher brav, und ihre Musik oszilliert zwischen den nicht eben gegensätzlichen Polen Songwriter-Pop und Pop-Rock. Die Melodien sind meist naheliegend, die Harmonien gut abgehangen und die Instrumentierung immerhin behutsam extravagant, wenn denn doch mal Bläser fern im Hintergrund zu hören sind, sich ein Cello für die Wehmut zuständig erklärt oder sogar ein Banjo ein wenig Mumford & Sons-Atmosphäre erzeugt. Weigmann versucht erst gar nicht, das Rad neu zu erfinden. Ihre Lieder sind dann am stärksten, wenn das Lied stark ist, wenn sie vom Verlassenwerden und vom Wiederfinden erzählt, vom Liegenbleiben am Morgen und von dem „Gefühl, du warst immer schon hier“. Dabei gelingt es ihr zwar, nicht allzu sehr in Klischees zu versinken, aber eben auch nicht, dem ewigen Thema Ein-/Zweisamkeit neue Aspekte abzugewinnen.

***1/2 Thomas Winkler

Songs des Monats

Die Lieblingslieder der Redaktion im März

1 Foxygen

„Shuggie“

2 Doldrums

„Anomaly“

3 Atoms For Peace

„Judge, Jury And Executioner“

4 Foals

„Moon“

5 Max Schröder & Das Love

„Das allerschönste Mädchen der Welt“

6 Petite Noir

„Disappear“

7 Palma Violets

„Step Up For The Cool Cats“

8 Elliphant

„Down On Life“

9 ME

„Hoo Ha“

10 Actress

„Voodoo Posse Chronic Illusion“

11 Lapalux

„Guuurl“

12 Shlomo

„Later“

13 Traumprinz

„Say Or Do“

14 Francesco Tristano

„Ground Bass (Brandt Bauer Frick Reinterpretation“

15 Shout Out Louds

„14th Of July“

All Time Faves

Billie Joe Armstrong (Green Day)

1 The Clash – Sandinista!

2 999 – 999

3 Ramones – Leave Home

4 Stiff Little Fingers – Inflammable Material

5 Sex Pistols – Never Mind The Bollocks, Here’s The Sex Pistols

6 The Psychedelic Furs – Talk Talk Talk

7 David Bowie – The Rise And Fall Of Ziggy Stardust And The Spiders From Mars

8 The Who – Tommy

9 The Beatles – Revolver

10 The Beach Boys – Pet Sounds

Coming Soon

The Baptist Generals Jackleg Devotional To The Heart (24.5.)

Karl Bartos Off The Record (15.3.)

Black Rebel Motorcycle CLub Specter At The Feast (22.3.)

James Blake tba. (Ende März)

The Blue Van Would You Change Your Life (März)

Bon Jovi What About Now (22.3.)

Bonobo The North Borders (28.3.)

Bosse Kraniche (8.3.)

David Bowie The Next Day (8.3.)

Charles Bradley Victim Of Love (5.4.)

The Cave Singers tba. (8.3.)

Cayucas Like Wildfire (26.4.)

Cyanide Pills tba. (Frühjahr)

Delay Trees Doze (Frühjahr)

Depeche Mode tba. (Ende März)

Emika DVA (Mai)

John Grant Pale Green Ghosts (8.3.)

Colleen Green Sock It To Me (22.3.)

Herrenmagazin Das Ergebnis wäre Stille (15.3.)

HK119 Imaginature (22.3.)

Hurts Exile (8.3.)

IAMX The Unified Field (15.3.)

Junip Junip (19.4.)

Lapalux Nostalchic (22.3.)

Low The Invisible Way (22.3.)

Steve Mason Monkey Minds In The Devil’s Time (8.3.)

The Men tba. (8.3.)

Miss Kittin Calling From The Stars (26.4.)

Moke Collider (8.3.)

Mudhoney Vanishing Point (5.4.)

Owen Pallett tba. (Frühjahr)

Paramore Paramore (5.4.)

Parenthetical Girls Privilege (8.3.)

Placebo tba. (Frühjahr)

PTTRNS Body Pressure (12.4.)

Space Dimension Controller Welcome To Microsector-50 (4.3.)

Retro Stefson Retro Stefson (22.3.)

Stereophonics Graffiti On The Train (März)

Still Corners Strange Pleasures (3.5.)

Suuns Images Du Futur (8.3.)

Sycamore Age Sycamore Age (15.3.)

Young Dreams Between Places (8.3.)