Platten

„Don’t be Surprised, oh Lord, Don’t be surprised“

„Surprise“, Gnarls Barkley, 2008

Betr.: Krieg der Sterne wieder einmal Wir freuen uns in diesem Monat über einen – wie sagt man so schön? – prominent besetzten „Krieg der Sterne“, der trotzdem zumindest eine große Überraschung bereithält. Die famosen Berliner Punks Chuckamuck landeten mit ihrem zweiten Album JILES auf dem vierten Platz. Zudem sind die Durchschnittswertungen diesmal relativ hoch ausgefallen. So erhielten zum Beispiel die New Yorker Discopunks !!! (sprich: Chk Chk Chk) mit ihrem vierten Album THR!!!ER auf dem zehnten Platz immerhin noch 3,33 Sterne im Durchschnitt. Aus diesem Anlass sei noch einmal darauf hingewiesen: Wenn eine Band im „Krieg der Sterne“ den zehnten Platz belegt, bedeutet das nicht, dass sie die schlechteste Platte des Monats gemacht hat. Sondern: Aus einer in mühevoller Kleinarbeit erstellten, wohldurchdachten Auswahl von zehn Platten hat ihre nach dem Votum der Redaktion den letzten Platz erreicht. Das wollte nur noch einmal klarstellen:Plattenmeister Koch

William Adamson

Under An East Coast Moon

Brownswood/Rough Trade

Southern-Swamp-Blues-Rock für Fortgeschrittene: Das Album von Rob „Galliano“ Gallagher ist nicht nur für Fans von Tom Waits eine lohnende Angelegenheit.

Gilles Peterson hatte schon immer ein Händchen für außergewöhnliche Talente. Mit Rob Gallagher alias Earl Zinger alias 2 Banks Of 4 verbindet ihn seit den Tagen von Galliano eine besonders lange, intensive und fruchtbare Beziehung. Und so ist es auch kein Wunder, dass Gallagher mit seinem neuen Projekt William Adamson wieder einmal bei Peterson und dessen Label Brownswood gelandet ist. Tiefer in den musikalischen Kosmos von Captain Beefheart, Tom Waits und Dr. John ist wohl kaum ein anderer Musiker in den vergangenen Jahren vorgedrungen als der Tausendsassa aus England. Dabei wird er kongenial unterstützt von zahlreichen Mitstreitern wie unter anderem Tom Skinner (Schlagzeug), Finn Peters (Flöte), Shawn Lee (Gitarre), Tom Herbert (Bass) und den beiden Sängerinnen Valerie Etienne und Alice Grant. Vom ersten Ton dieser wahrlich ungewöhnlichen Produktion an ist klar, dass man es hier mit einem Haufen von Musikverrückten zu tun hat, die bis ins kleinste Detail hinein die Magie des Southern-Swamp-Blues-Rock erkunden. Das passiert aber alles natürlich nicht ohne eine dicke Portion Humor, wie bei allen Projekten, die Rob Gallagher in den vergangenen gut 20 Jahren angepackt hat. In manchen Momenten (im stolpernden „Foggy Dew“ und in „Poacher“) klingt das Ganze mehr nach Tom Waits als das Original, was durchaus ein wenig problematisch ist. Auf Dauer führt das zu gewissen Ermüdungserscheinungen, die aber, betrachtet man das Album als in sich geschlossenes Gesamtkunstwerk, zu vernachlässigen sind. Es ist jedenfalls sehr erstaunlich, wie authentisch diese liebevoll erstellte Kopie über weite Strecken daherkommt, solange man als Hörer in der Lage ist, den in diesem Fall sich geradezu aufdrängenden Retrodiskurs weitgehend auszublenden.

****1/2 Franz Stengel

A Hawk And A Hacksaw

You Have Already Gone To The Other World

LM Duplication/Indigo

Ekstase, Kontemplation, Hochgeschwindigkeitsfolk und neu entdeckte Traditionals aus Osteuropa – das Duo schafft rauschhafte Bastardmusik.

Jeremy Barnes und Heather Trost haben einen weiteren Stopp auf ihrer Jahre andauernden Expedition durch die Folklore Osteuropas eingelegt. Gelungen ist ihnen mit dieser sechsten Veröffentlichung als A Hawk And A Hacksaw ein rauschhaftes Spiel mit Tradition und Assoziation, mit lange vergessener Folklore und halluzinierten Filmmusiken – vom Eröffnungsstück „Open It, Rose“, das sich wie die Adaption eines Dudelsackliedes anhört und ganz organisch in ein flirrendes Stück Psychedelia verwandelt, über die rasanten „Dance Melodies From Bihor Country (Romania)“ mit den dahingeschrubbten Violinenmelodien bis hin zur transzendentalen Wassermusik am Ende, und die stammt aus der Ukraine. Es gibt Hochgeschwindigkeitsfolk hier, Kontemplation dort, stille Soundbilder mit einem Hauch von Gesang und Piano, bewegende Melodien, die aus Vorkriegsradios zu dröhnen scheinen, bildhübsche Fragmente von Liedern, die von Sergei Parajanovs Filmklassiker „Shadows Of Forgotten Ancestors“ (1964) inspiriert wurden. Irgendwann lässt Produzent John Dieterich (Deerhoof) seine Gitarre ins Feedback fahren, diese bisweilen ekstatische Bastardmusik ist nach so vielen Seiten offen. Ganz großes Theater.

***** Frank Sawatzki

Atom™

HD

Raster-Noton/Kompakt

Electronica: Das neue Album von Uwe Schmidt klingt wie die potenzielle Zukunft von Kraftwerk.

Uwe Schmidt alias Atom™ ist so freundlich, dem Hörer im Begleitschreiben zu seinem aktuellen Album HD jeden erdenklichen Interpretationsspielraum zu lassen. Er erklärt, dass er sich nicht über den Inhalt des Albums in einem längeren Text auslassen möchte. Nur so viel, die Tracks seien zwischen 2005 und 2012 für ein Album entstanden, das ursprünglich „Hard Disc Rock“ hätte heißen sollen und jetzt unter dem verkürzten Titel HD veröffentlicht wird. Wir nehmen den Ball gerne auf und behaupten, die Mehrzahl der Tracks auf HD bedeutet nach EL BAILE ALEMÁN von Señor Coconut Schmidts zweite wesentliche Auseinandersetzung mit Kraftwerk. Während sich Señor Coconut mit der Vergangenheit Kraftwerks beschäftigte – die Hits in Latinversionen -, ist HD der Entwurf einer potenziellen Zukunft der Düsseldorfer, die auf ihrem Album COMPUTERWELT basiert: Sprechgesang in Deutsch und Französisch und immer wieder diese elastischen und plastischen Grooves, die nach COMPUTERWELT die Revolution der elektronischen Musik ermöglicht hatten. Selbst Kraftwerk-fremde Tracks wie die Blues-Dekonstruktion „The Sound Of Decay“ und der Prince-Funk „I Love You“ mit dem Gesang von Jamie Lidell werden mit Kraftwerk-Sound-Patterns ausgestattet. Nur das Cover von The Whos „My Generation“ hätte sich Ralf Hütter wahrscheinlich gespart.

**** Albert Koch

The Black Angels

Indigo Meadow

Blue Horizon/Soulfood

Die Psych-Rockband aus Texas bringt Dinge ins Spiel, die in ihrem Genre nicht an der Tagesordnung sind: Geradlinigkeit und Realitätsnähe.

Man wälzt sich auf dem Geläuf der indigoblauen Wiese und nimmt die Welt in allen möglichen Farben wahr. So ist das, wenn man aus Austin kommt und seit der Jugend ein inniges Verhältnis zu 13th Floor Elevators pflegt. The Black Angels verharren aber nicht auf einem Punkt. Ihr nun von einer Viererbesetzung kreierter Sound klingt erstaunlich komprimiert. Endlose Jams durch die Weite des Raums bleiben aus, das Ende eines Songs ist spätestens nach viereinhalb Minuten erreicht. Das Schlagzeug von Stephanie Bailey bolzt im Titelsong unnachgiebig, und Sänger Alex Maas bleibt in „Evil Things“ trotz des Dröhnens der Gitarre, des Pfeifens der Orgel und der Stimmeffekte diszipliniert. Denn er hat etwas mitzuteilen. „Don’t Play With Guns“ wurde direkt nach dem letztjährigen Amoklauf in Aurora geschrieben. Die Kriegswirtschaft der USA steht in „Broken Soldier“ zur Debatte: „It’s hard to kill when you don’t know whose side you’re on.“ Dann bricht es aus Maas heraus: „You’ll never be the same when this is over.“ Das geht unter die Haut, wie vieles hier. Wir werden zurzeit von einer wahren Welle neuer psychedelischer Bands überschüttet. The Black Angels werden in Erinnerung bleiben. Kaum jemand stellt sich der Realität so wie sie.

****1/2 Thomas Weiland

Born Ruffians

Birthmarks

Yep Roc/Rough Trade (VÖ: 15.4.)

Nenn das Energy Pop: Die Kanadier demonstrieren, wie entspannt man Aufregung buchstabieren kann.

Es muss ja nicht immer das schwierige dritte Album sein. Born Ruffians haben sich für die Aufnahmen zu BIRTHMARKS auf einen Bauernhof im Nirgendwo Ontarios zurückgezogen und die Songs einfach mal kommen lassen (andere schrieben sie auf Tour und ließen sie wachsen). Diese Entspanntheit ist einem Großteil der neuen Aufnahmen anzumerken, sie tut den traditionell aufgeregten Songs der Kanadier gut. Melodien und Hooklines finden Zeit und Raum, sich über dem kraftvollen Beat- und Bassfundament auszudehnen, in die eine oder andere Sackgasse zu laufen, aber mit doppeltem Tempo wieder herauszufahren, durch Keyboards und Chöre effektvoll ausgeleuchtet. Born Ruffians haben Anschluss an die Energy-Pop-Liga gefunden, in der Amerikaner wie Darwin Deez gerade die Pole-Positions einnehmen. Wobei die Band aus Toronto jetzt auch den synthetischen Funk für sich entdeckt hat („Rage Flowers“).

***1/2 Frank Sawatzki

Charles Bradley

Victim Of Love

Daptone/Groove Attack

Das zweite Album des spät berufenen Soul-Sängers.

Das Soul-Revival der letzten Jahre mag Sänger hervorgebracht haben, die es schaffen, fast authentisch alte Zeiten aufleben zu lassen. Doch es ist etwas anderes, jemanden zu hören, der den Soul und Funk der 60er und 70er am eigenen Leib erfahren hat. Charles Bradley wirkt fast wie aus der Zeit gefallen. Gemeinsam mit seiner Menahan Street Band holt er all das nach, was ihm vor Jahrzehnten verwehrt bliebt: die große Karriere. Über seine Geschichte vom obdachlosen Ex-Koch zum Glitzerjacken tragenden Showman ist viel geschrieben worden. Dieser Mann gehört auf die Bühne. Er hat eine Stimme, die ihresgleichen sucht. Der 64-jährige „screaming eagle of soul“ liefert auf seinem zweiten Album das, was man erwartet. Herzzerknetenden Soul, vorgetragen von jemandem, der seinen Lebensanteil an Leid schon ausgehändigt bekommen hat. Natürlich ist die Liebe wieder das zentrale Thema, der damit verbundene Schmerz, aber auch das Glück, das derjenige hat, der sie findet. Ohne geht es nicht bei Charles Bradley. Ohne das Album auch nicht. Stark.

***** Christopher Hunold

Billy Bragg

Tooth & Nail

Cooking Vinyl/Indigo

Der Kommunist entdeckt auf seine alten Tage den Blues, und der Blues steht ihm gut.

Billy Bragg ist so etwas wie die linksradikale Tageszeitung, die es in England nicht gibt. Was immer sich tagespolitisch so zutrug im UK der vergangenen 30 Jahre, Bragg schrieb einen Song darüber. Für seine politischen Ansichten, die er immer auf der Zunge trug, mochte man ihn verachten – lieben musste man ihn doch für Hits wie „Sexuality“ und „A New England“, seine Versionen von „Die Internationale“ und Songtitel wie „The Milkman Of Human Kindness“. Hibbeliger Pub- und Folkrock war das, der im Zweifel immer eher für Pop plädierte als für Punk. 30 Jahre nach seinem Debüt legt er das amerikanischste – und vielleicht beste – Album seiner Karriere vor. Tooth & Nail entstand innerhalb von fünf Tagen unter der Regie von Joe Henry. Der engagierte auch die Musiker, allen voran Greg Leisz, dessen Pedal Steel Guitar schon Bon Iver gute Dienste leistete, Pianist Patrick Warren von Lana del Rey und Jay Belleroze, der zuvor für Regina Spektor am Schlagzeug saß. Folk, Americana, Blues und sogar Soul verschmelzen zu einer gediegenen bis edlen Atmosphäre, die stellenweise („No One Knows Nothing Anymore“, „Over You“) geradezu mitreißend gerät. Unter anderem auch deshalb, weil Bragg auf Tooth & Nail den Weltenlauf weitgehend Weltenlauf sein lässt und sich mit dunkler Stimme introspektiv gibt. Das ist alles meilenweit entfernt von The Clash, die ihn einst inspirierten, keinen Pubrock mehr zu machen – und sehr dicht am Alterswerk eines anderen großen Pubrockers, Nick Lowe.

***** Arno Frank

British Sea Power

Machineries Of Joy

Rough Trade/Beggars/Indigo

Zu gut, um wirklich aufregend zu sein, ist der Rock aus Brighton.

Man kann nichts Schlechtes sagen über MACHINERIES OF JOY. Alles stimmt am fünften Album von British Sea Power. Das stilistische Spektrum reicht hier vom Indie-Rock-Knaller über die verträumte Ballade bis hin zur fetten Rockhymne, die in der Lage ist, ein Stadion zum Schunkeln zu bringen. Der Spannungsaufbau ist in nahezu jedem Song ausgefeilt dramatisch, die Gitarren können klingen wie Watte, aber auch Fahrt aufnehmen und sogar ins Atonale abdriften. Aber so abwechslungsreich und detailreich ihr fünftes Album auch ist, bisweilen erstarrt das Quartett aus Brighton in den selbst geschaffenen Strukturen. Nein, British Sea Power machen nichts falsch, aber Rechthaberei ist bisweilen etwas langweilig.

*** Thomas Winkler

The Child Of Lov

The Child Of Lov

Double Six/Domino/Good To Go (VÖ: 3.5.)

Dieses Kind war bisher nur Internetnerds ein Begriff. Dabei wird es mit diesem süchtig machenden Future-Soul-Funk-Hop-Paket nicht bleiben.

Das „Kind“ heißt Cole Williams. Viel weiß man von ihm nicht. Außer, dass es aus Amsterdam kommt. Und dass sein Förderer der Manager ist, der Cee Lo Green und Danger Mouse miteinander bekannt gemacht und den Stein für die Gründung von Gnarls Barkley ins Rollen gebracht hat. Damit kann man sich auch gleich vorstellen, worum es geht. Williams hat sich im stillen Kämmerlein überlegt, wie man souligen Gesang, kosmischen Funk und zeitgemäße Beats zusammenwerfen kann. Eine Retro-Produktion ist es nicht. Es sei denn, man betrachtet schon so etwas wie Super_Collider als Signal aus fernerer Vergangenheit. J Dilla, Outkast und D’Angelo stammen aus derselben Generation und sind die Lieblinge dieses Novizen. Darüber muss man nicht spekulieren, es lässt sich anhand von seinen Video-Postings auf Facebook verifizieren. Damon Albarn ist mittlerweile Williams‘ Kumpel, er gastiert hier auf dem Song „One Day“. Auffälliger sind aber andere Tracks. „Heal“ etwa, weil der Neuling da vergleichsweise entschlossen wirkt. Und zu „Give It To The The People“ kann man mitsingen. Jedes gute Album braucht schließlich einen Hit, ein Stück, das sich sofort und für alle Zeiten festsetzt. Das ist es. Es wird diesem Kind der Lieb sehr helfen.

****1/2 Thomas Weiland

Story S. 28

!!!

Thr!!!er

Warp/Rough Trade (VÖ: 26.4.)

Die US-Disco-Punks drängen vehementer denn je auf die Tanzfläche.

So kennt man !!! (sprich: Chk Chk Chk). Kein Album knüpfte bislang an das vorherige an, und trotzdem schwand der Wiedererkennungswert nie im Geringsten. Keine der fünf Studioplatten wurde im selben Line-up eingespielt, und trotzdem geriet die 1996 in Sacramento gegründete Band stilistisch nie ins Wanken. Sogar den gewaltigen Mitglieder-Exodus vom letzten Album STRANGE WEATHER, ISN’T IT? zu THR!!!ER steckten !!! einfach weg – u. a. verloren sie zwei Mitglieder durch tödliche Unfälle. Natürlich sind !!! die musikalischen Brüche in der eigenen Diskografie bewusst, aber wie sagt Ur-Mitglied Nic Offer in Bezug auf THR!!!er so treffend: „… diesmal fühlt es sich so an, als wären wir so richtig weit rausgepaddelt.“ Man könnte auch sagen, so vehement drängten !!! unter Mithilfe des Produzenten Jim Eno (Drummer bei Spoon) noch nie auf die Tanzfläche. Von Disco-Punk bleiben da nur Rudimente übrig, immerhin gibt es mit „Fine Fine Fine“ noch einen Track zwischen New Wave und 80er-Synthie-Pop, und im finalen „Station (Meet Me At The)“ lassen !!! sogar die Gitarren krachen. Ansonsten aber hört man überall Dancefloor-Beats, House, Disco, Falsett-Gesang, satte Funk-Rhythmen und Bläsersätze. Das Tempo ist hoch, die Grooves sind unwiderstehlich, der Sound satt, die Basslinien fett. All das zusammen macht THR!!!ER zu einem extrem kurzweiligen Pop-Album.

****1/2 Sven Niechziol

Cold War Kids

Dear Miss Lonelyhearts

Coop/Universal

Melodisch gehaltvoller, adrenalininduzierter Indierock, ca. Baujahr 2007.

Die Cold War Kids kommen aus einer Zeit, als die interessantesten neuen amerikanischen Bands Namen wie Clap Your Hands Say Yeah, Tapes’n’Tapes und White Rabbits trugen. Das ist gut eine halbe Dekade her. Auf DEAR MISS LONELYHEARTS sind die ersten Aufnahmen mit dem neuen Gitarristen Dann Gallucci (Ex-Modest Mouse) zu hören, Veränderungen im Bandsound hat das aber kaum hinterlassen, die California-Kids spielen die adrenalininduzierten Indierockkracher und in der Tiefe des Raums stehenden Psycho-Blues-Songs, die ihnen vom Start weg eine Gemeinde glühender Verehrer bescherten. Sie haben einen schönen Gospelheuler („Tuxedos“) im Programm, lassen einen Song mit einem mäandernden Saxofon ausfransen, einen anderen in der Mitte im Feedback ersaufen, nur um rechtzeitig wieder auf die Spur zu kommen. Und überall stehen große Warnschilder mit Hinweisen auf Überdosen von Melancholie. Genügend Stoff also für die klassische Indierock-Nacht nebenan, die vom Veranstaltungskalender auch deiner Stadt nicht wegzudenken ist, aber zu wenig für einen Richtungsanzeiger, den man dem alten Onkel Indie beizeiten wünscht.

***1/2 Frank Sawatzki

Chuckamuck

Jiles

Staatsakt/Rough Trade (VÖ: 19.4.)

Das Quartett aus Berlin wiederbelebt auf Album Nummer zwei in voller Unschuld die Ursprungsidee des Punk.

Es gibt Gerüchte. Einzelne Mitglieder von Chuckamuck sollen, so wird gemunkelt, ihre Instrumente dermaßen gut beherrschen, dass sie mit voller Absicht den überzeugenden Eindruck erwecken können, sie nur leidlich bedienen zu können. Auf JILES, dem zweiten Album der immer noch blutjungen Berliner Punkband, lassen sich tatsächlich Indizien für diesen ungeheuerlichen Verdacht finden. Natürlich gibt es wieder zuhauf hingerumpeltes Schlagzeug und schlampige Gitarrenlicks, verschluderte Melodien und verkackte Songdramaturgien. Bisweilen allerdings fällt das Quartett aus dem Rahmen, wird das ein oder andere Riff verdächtig sauber gespielt, wirkt der Rhythmus doch mal einigermaßen rund und „Karl Egal“ schrammelt zwar verteufelt, aber auch überraschend aufgeräumt, bis sich Chuckamuck kurz vor dem Ende des Songs dann doch wieder an ihr Image erinnern und einen kleinen, ungelenken Lärmausflug hinlegen. Aber ob Absicht oder nicht, Chuckamuck gelingt es auf JILES tatsächlich noch einmal, in voller Unschuld die Ursprungsidee von Punkrock wiederzubeleben: riesige Melodien, laute Gitarren und nicht allzu tiefgründige Texte über Mädchen, Trampen, Fernsehserien, Fischvergiftungen und den „Späti“ an der Ecke. Dort kaufen sie dann wahrscheinlich auch das Dosenbier, mit dem sie darauf anstoßen, alle verarscht zu haben.

**** Thomas Winkler

Story S. 17

Gary Clark Jr.

Blak And Blu

Hotwire/Warner

Jimi Hendrix lebt, Curtis Mayfield auch: Für Gary Clark Jr. sind Rock und R’n’B Geschwister im Geiste. Das fünfte Album des Texaners.

Als Gary Clark Jr. fertig war mit seiner ersten Darbietung im Weißen Haus, gemeinsam mit Mick Jagger, B. B. King und weiteren verdienten Musik-Veteranen, rief Barack Obama feierlich: „Er ist die Zukunft!“ Für die „New York Times“ ist Clark „der nächste Jimi Hendrix“. Und in Anbetracht des Rummels und des fünften Albums BLAK AND BLUE könnte der 28-jährige Texaner auch der neue Prince, Sly Stone und Curtis Mayfield sein. Gary Clark Jr. streckt seine Songs gern mit ausführlichen Gitarrensoli, singt aber auch überzeugend Soul. Wo immer er mit seiner Wollmütze und der effektvoll sägenden Gitarre auftaucht, bei Alicia Keys und Nas sowie auf allen Festivals Amerikas, wird er als Heilsbringer empfangen wie sein Präsident zur Amtseinführung. Seit zehn Jahren nimmt Clark großartige Platten auf, und plötzlich steht er da als Wunderkind. Weil er im Weißen Haus war, weil er jetzt für Warner musiziert, weil Eric Clapton sich wie sein Entdecker aufführt. Dabei weiß Gary Clark Jr., was er tut: Wenn er im Hendrix-Modus spielt, geht es ihm weniger um Virtuosen-Eitelkeiten als um Soundvisionen. Wenn er seinen „Next Door Neighbor Blues“ vorträgt wie Onkel Tom vor seiner Hütte oder stumpfsinnigen Redneck-Rock wie „Travis County“, zeigt er, dass er mehr Humor hat, als das große Popgeschäft erlaubt. Die Zeitschrift „Freundin“ freut sich über seinen „bluesigen Rock mit Wohlfühlstimme“. Gary Clark Jr. könnte es auch verkraften, wenn sie ihn als neuen Lenny Kravitz feiern würden.

**** Michael Pilz

Coma

In Technicolor

Kompakt/Rough Trade (VÖ: 15.4.)

Wenn gleißendes Pop-Licht auf hedonistischen Club-Schweiß trifft: Das Kölner Duo Coma legt sein lang erwartetes Debütalbum vor.

Bitte nicht als Lamento verstehen, aber es ist schlichtweg ermüdend, wenn einem (gefühlt) jedes zweite Pressesheet den neuesten heißen Scheiß ans Herz legen will. Das Duo Coma wird bereits seit 2008 als das nächste große Ding aus Köln vorgestellt, die Erwartungshaltung an das erste Album ist dementsprechend groß. Doch statt sich dem vorzeitigen Lorbeeren-Verzehr hinzugeben, haben Marius Bubat und Georg Conrad lieber in akribischer Feinarbeit an ihrem Debütalbum In Technicolor gearbeitet. Ihren Hang zum Perfektionismus überführen die beiden Kölner in luftige Melodien und feiste Claps, sodass man zwangsweise zum Sonnenanbeter mutiert. Der Opener „Hoooooray“ gibt die Richtung vor: Die jungen Wilden des Kompakt-Labels lieben eingängige Synthesizer-Riffs, mit denen sie sowohl im Lager der Club- als auch in den verspielten Gassen der Popkultur ihre Visitenkarten hinterlassen. House-Partikel hier („T.E.D.“), feinfühlige Techno-Romantik dort („maximal MINIMAL“) – Coma orientieren sich nicht allein an ihren Labelmates WhoMadeWho oder GusGus, die bereits ausführlich gezeigt haben, wie es klingt, wenn technoider Pathos poppig gedacht wird. Das Duo kombiniert Elemente aus beiden Welten launig miteinander, und das Angebot an Features mit DJ Kozes Muse Ada und MIT-Frontmann Edi Winarni ist auch nicht so verkehrt – ohne den New-Shit-Stempel daraufzupappen. Ob die sehnsüchtige Vocoder-Ballade „My Orbit“ oder das an Brandt Brauer Frick erinnernde „Out Of Control“ – Comas elektronischer Pop macht Laune auf mehr, auf Sommer, auf Open Airs. Apropos, braucht das Melt! nicht noch eine Festivalhymne?

***1/2 Sebastian Weiß

Cosmin TRG

Gordian

50 Weapons/Rough Trade (VÖ: 26.4.)

Auf seinem zweiten Album für das Modeselektor-Label bietet der Wahlberliner Cosmin TRG cleveren, gebrochenen Techno und einen Blick auf seine Wurzeln.

„Broken Heart“, vor allem im Remix des niederländischen Produzenten Martyn, ist seit mehr als einem halben Jahrzehnt ein fester Bestandteil des Diskurses zur historischen Aufarbeitung von Dubstep. Für Cosmin TRG, den Urheber des Original-Tracks, ist genau dieses Genre aber ebenfalls längst Geschichte. Sein Umzug nach Berlin (ja, er natürlich auch) hat schnell seine Spuren in der Musik des Rumänen hinterlassen. Düsterer, repetitiver und ohne überraschende Wendungen (hier ausdrücklich als positiv vermerkt) gestaltet sich der „neue“ Sound. Als hätte er nie etwas anderes gemacht. Gordian ist jetzt die zweite Langspiel-Affäre von Cosmin TRG auf dem Modeselektor-Label 50 Weapons und laut Aussage des Künstlers ein Kommentar zu seinen eigenen Erwartungen, über die Angst zu versagen, unglücklich zu sein und den Wunsch, etwas zu erschaffen, das die Zeit überdauert. Time will tell, aber für die Dauer des Albums sollte sich niemand unglücklich fühlen. gordian setzt wieder auf mehr Tricks als seine Vorgänger. Perkussive Elemente, knackende Störgeräusche und verwaschene Texturen wecken Entdeckergeist. Besonders der Titeltrack und das atmosphärische „Defeated Hearts Club“ erinnern an eine technoide Form der Musik von Burial und Konsorten. Selbst Downbeat in der Art von Bastlern wie Teebs und Shlohmo findet man auf dem Album; zwischen den Harfenklängen in „Devided By Design“, während eine Snare-Drum im Hintergrund den Beat wieder geraderückt und damit – nur zur Sicherheit – wieder das Techno-Etikett auf die Platte klebt.

**** Christopher Hunold

Dear Reader

Rivonia

City Slang/Universal

Die Wahlberlinerin Cherilyn MacNeil wirft auf ihrem vierten Album zu berückend schönem Vocal-Pop einen Blick auf ihre Heimat Südafrika.

Aus der Ferne sieht man die Dinge ja bekanntlich deutlicher. So ging es anscheinend auch Cherilyn MacNeil. Denn das neue Album der Südafrikanerin, die sich hinter dem Bandnamen Dear Reader verbirgt, ist zwar in Berlin entstanden, wo die Singer-Songwriterin seit bald drei Jahren lebt, beschäftigt sich aber vor allem mit ihrem Heimatland. Das beginnt mit dem Titel: RIVONIA ist die Vorstadt von Johannesburg, wo Cherilyn MacNeil aufgewachsen ist. Ein Song erzählt vom beschwerlichen Leben der Minenarbeiter, ein anderer von der Verhaftung von ANC-Mitgliedern. Geschickt verschränkt MacNeil die Geschichte ihres Landes mit ihrer eigenen: In „27.04.1994“ besingt sie die ersten freien Wahlen nach der Abschaffung der Apartheid, in „Man Of The Book“ bedauert sie, dass sie ihren Ur-Ur-Ur-Großvater, der einst an der Seite von Mahatma Gandhi in Südafrika gegen die Rassentrennung gekämpft hat, niemals getroffen hat. Diese Inhalte finden ihren Widerhall perfekt in der Musik: Den folkigen Singer-Songwriter-Pop, den man von den ersten drei Dear-Reader-Alben kannte, hat MacNeil erst einmal zu den Akten gelegt. Stattdessen arbeitet sie auf RIVONIA nahezu ausschließlich mit Schlagzeug, Klavier und Stimmen. Vor allem Stimmen. Ihren eigenen Gesang und den einiger Zuträger hat sie am Computer aufgenommen, anschließend zerlegt und wieder neu zusammengesetzt zu verschachtelten, wundervollen Harmoniegesängen, die mal an afrikanische Stammeschöre denken lassen, mal wie die Begleitmusik für einen seltsam-traurigen Karnevalszug klingen oder auch wie Melodien aus Disney-Filmen, die Cherilyn MacNeil als prägenden Einfluss für ihre eigene Musik angibt. Mehr als 13 000 Kilometer entfernt von ihrer Heimat ist Dear Reader mit RIVONIA ein Meisterwerk gelungen.

***** Thomas Winkler

Diverse

Nonplus – Think & Change

NonPlus/Alive

Der Status quo in Sachen britischer Bassmusik, UK-House und dem, was unsere Vorfahren einst Drum’n’Bass zu nennen pflegten: die Werkschau des NonPlus-Labels – wahlweise auf 5 LPs oder 2 CDs.

Als Boddika noch Teil des Drum’n’Bass-Duos Instra:mental gewesen ist, gründeten er und sein Partner Jon Convex NonPlus und experimentierten als eines der ersten Labels in Großbritannien mit „weiterführendem“ Dubstep und Electronica. Große Namen wie Actress und Skream veröffentlichten ihre Platten zu Beginn auf NonPlus. Mittlerweile führt Boddika das Label alleine, hat sich mit seinen eigenen schmutzigen Acid-House-Tracks viele neue Freunde und vor allem einen guten Namen gemacht. Er half fleißig dabei, vermeintlich klar abgegrenzte Genres mit den unterschiedlichsten Einflüssen zu erweitern. Mit der bislang größten Veröffentlichung des Labels schließt sich ein Kreis. Was – unter Vermeidung des Begriffs „Dubstep“ und in Ermangelung eines smarteren Wortes – schlicht „Bassmusik“ getauft wurde, klang selten so auf den Punkt und definiert wie auf den 14 Tracks dieser sensationellen Compilation. Four Tet und Joy Orbison übertreffen sich auf „For These Times“ respektive „Big Room Tech House DJ Tool – TIP!“ (Anwärter auf den Track des Jahres) durch geloopte House-Grooves und omnipräsente Vocals selbst, während Kassem Mosse mithilfe von hochgepitchten Synthesizern und der ausgegrabene Instra:mental-Track „White Snares“ sphärische Electronica auf die Teller legen. Und was ist bloß in den Niederländer Martyn gefahren, als er das Monster „Bad Chicago“ zum Leben erweckt hat? Natürlich legt Label-Chef Boddika selbst ein weiteres, stampfendes House-Highlight nach ( „Beats Me“). Kaufen, hören, mitreden, tanzen. Repeat. Die Compilation ist in einer mächtigen 5-LP-Box inklusive Downloadcode erschienen und wird am 12.4. auch als Doppel-CD veröffentlicht.

***** Christopher Hunold

DMX

Undisputed

Seven Arts Music/Intergroove

HipHop: ein Album wie ein schlechter Scherz.

Der künstlerische Abstieg von DMX hat in den vergangenen Jahren rapide an Fahrt aufgenommen. Bis 2003 hatte der Rapper praktisch ein Abo auf den ersten Platz der US-Charts abgeschlossen. Erst mit Year Of The Dog … Again (2006) war es damit vorbei. Auf seinem siebten Longplayer Undisputed ist Earl Simmons alias DMX nur noch ein Schatten seiner selbst. Über weite Strecken wirkt der einstige Rap-Champion wie ein Boxer, der in den letzten zwei Runden schon vier Niederschläge einstecken musste. Kaum ein Song erreicht hier DMX-Format. Man hat Mitleid mit einem Künstler, der die Zeichen der Zeit offenbar komplett übersehen hat.

** Franz Stengel

Steve Earle & The Dukes (And Duchesses)

The Low Highway

Rykodisct/Warner (VÖ: 19.4.)

Americana: Ein weiterer Meilenstein im Werk Steve Earles, der ähnlich zeitlos klingt wie seine frühen Arbeiten.

Mit I’ll Never Get Of This World Alive ist Steve Earle im Jahr 2011 eine der besten Platten in einer an außergewöhnlich gelungenen Produktionen mehr als reichen Karriere gelungen. Es ist daher alles andere als eine Überraschung, dass der 58-jährige Musiker, Autor und Schauspieler aus Austin, Texas, diese hohe Qualität auch auf dem Nachfolgealbum The Low Highway mühelos halten kann. Zum ersten Mal seit seinem 1987 erschienenen Album Exit 0 taucht bei diesem Longplayer wieder der Name seiner Begleitband The Dukes an prominenter Stelle auf, die in ihrer aktuellen Besetzung aus Chris Masterson, Eleanor Whitmore, Kelley Looney, Will Rigby und Allison Moorer besteht. Und diese Nennung erfolgt absolut zu Recht, denn Steve Earle profitiert auf seinem 15. Studioalbum nicht unwesentlich von den herausragenden Fähigkeiten seiner musikalischen Mitstreiter, die The Low Highway eine bestechende Vitalität verleihen. Auf den zwölf Songs spiegelt sich das rastlose Leben Earles und seiner Musiker perfekt und anschaulich wider – ein Leben, das sich seit Jahren zu nicht unwesentlichen Teilen auf den Landstraßen zwischen den verschiedenen Auftrittsorten abspielt. Und da gibt es eine Menge zu erzählen, von seltsamen Begegnungen mit schrägen Typen und dem Gefühl des Verlorenseins zwischen all den immer gleich aussehenden Motels und Vorortsiedlungen. Ein wenig aus diesem Themenkomplex stechen vor allem zwei Songs heraus, das beschwingte „Love’s Gonna Blow My Way“ und „After Mardi Gras“, die Steve Earle zusammen mit Lucia Micarelli geschrieben hat, seiner Schauspielerkollegin in der hochgelobten HBO-Fernsehserie „Treme“. Und mit „That All You Got“, einem erdigen, mit Fiddle-Klängen verzierten Rootsrocker in allerbester Los-Lobos-Tradition, gibt es auf The Low Highway sogar noch einen dritten Song, der extra für „Treme“ geschrieben wurde und hier nun zum ersten Mal veröffentlicht wird.

**** Franz Stengel

Maxmillion Dunbar

House Of Woo

RVNG Intl./Cargo

Maxmillion Dunbar kann und weiß alles besser als wir. Akzeptieren wir das und begeben uns auf seinen sensationellen Trip durch balearische Mutant Disco, Boogie und House.

Andrew Field-Pickering alias Maxmillion Dunbar ist einer dieser Musiker, denen man jederzeit den Spaß an der Arbeit abnimmt, eine nicht versiegende Wissensquelle bescheinigt und mit dem man sich am Küchentisch sehr gut über Drummachines unterhalten kann. Der bärtige Strahlemann aus Maryland produziert wahlweise HipHop-Beats für seine Projekte Food For Animals, obskuren Disco für Beautiful Swimmers oder eben beides und viel mehr solo als Maxmillion Dunbar. Sein zweites Album HOUSE OF WOO ist vor allem deshalb so beeindruckend, weil die Tracks wie Collagen aus Erinnerungen seiner Plattenkisten klingen, aber nie zu prätentiös für seinen Auftrag sind und die abenteuerlichsten Klangquellen als Grundlage benutzen. Schmerz- und ironiefrei kommen cheesy-kosmische Disco-Klänge aus alten Synthesizern. Der Drumcomputer wurde sowohl im Dschungel als auch am Strand programmiert. Eine abseitige Euphorie macht sich breit, wenn in „Peeling An Orange In One Piece“, diesem unwahrscheinlichen Hit, plötzlich der panflötendurchflutete Sonnenaufgang wartet. Was ist das nur für ein Album, das der durchzitierten House-Musik im Jahre 2013 noch etwas Neues hinzuzufügen weiß? Überhaupt, dass das Wort „Panflöte“ hier in einer Besprechung auftaucht, sollte zu denken geben. Oder zu denken geben, dieses Album zu kaufen. Der Titel des Openers „Slave To The Vibe“ sagt alles. Wie auch immer. Das hier, das ist Album-des-Jahres-Material. Und dann kommt die Beautiful-Swimmers-Platte auch noch im laufenden Jahr. Ach, manchmal ist das Leben wirklich gut zu einem.

*****1/2 Christopher Hunold

Ensemble Pearl

Ensemble Pearl

Drag City/Rough Trade

Sunn O))) und Boris: Eine amerikanisch-japanische Supergroup des Doom spielt sich im Zeitlupentempo in die Nähe von Ambient und kosmischer Musik.

Es ist ja nicht das erste Mal, dass sich die Wege der Drone-&-Doom-Propheten Sunn O))) und der Glaubensverwandten von den japanischen Noise-Helden Boris kreuzen. Konnte man das gemeinsame 2006er Werk ALTAR noch als Verschiebung von Geräuschkulissen im Spektrum des Doom werten, suchen Stephen O’Malley, Atsuo, Michio Kurihara und William Herzog heute die Auseinandersetzung mit den langen, am Sound der kosmischen Kuriere geschulten Klangstrecken. Wobei das jetzt hier noch keine Übersetzung von Tangerine Dream ins Amerikanische ist. Umgekehrt wird schon eher ein Schuh draus: Ensemble Pearl spielen im Track „Wray“ einen der amerikanischsten Gitarristen auf eine Soundcloud, die nicht weit von Minimal Music und europäischem Ambient entfernt ist. Brian Eno darf dann das nächste Album produzieren.

**** Frank Sawatzki

Ghostpoet

Some Say I So I Say Light

PIAS/Rough Trade (VÖ: 3.5.)

HipHop-not-HipHop vom Nachlassverwalter der Mike-Skinner-Schule.

Obaro Ejimiwe gelang vor zwei Jahren mit Peanut Butter Blues & Melancholy Jam nicht nur ein Album, das vom Titel her nicht zu schlagen war, sondern auch ein gewaltiger Überraschungshit. Mal mit Band, mal mit düsteren Beats, erzählte er die Geschichten seines Alltags so gut, wie man es sonst nur von The Streets kannte. Seine neue Platte setzt genau dort an. Hier von Rap zu sprechen, wäre zu viel. Ghostpoet spricht seine Texte ruhig, mal nuschelnd, mal kräftiger. Zu Beginn lotet er die Möglichkeiten aktueller britischer Elektronik aus, wenn er im faszinierenden Opener „Cold Win“ die Bläser aus sicherer Entfernung gegen einen Beat spielen lässt, der auch dem ganz jungen James Blake gefallen hätte; der peitschende Beat und das Piano im Hintergrund bei „MSI Musmid“ erinnern an die aktuellen Radiohead. Besonders die melancholischen Tracks liegen Ghostpoet wieder am besten. Zwar franst die Platte am Ende etwas aus, Songs wie „Dial Tones“, bei dem er stimmliche Unterstütztung von Lucy Rose erhält, und „Meltdown“, das der Nachfolger für die Musik gewordene Durchhalteparole „Survive It“ vom Erstling ist, machen die Investition lohnend.

***1/2 Christopher Hunold

The Godfathers

Jukebox Fury

Godfather’s Rec/Cargo

Ein dünnes Garagenrock-Süppchen nach 18 Jahren Plattenpause.

Ihr Frühwerk ist genial, ihr Spätwerk belanglos, und ihr Comeback-Versuch bemitleidenswert. Was die Gebrüder Coyne hier auftischen, ist ein musikalisches Armutszeugnis: zwölf Stücke, die so schlecht produziert sind, dass der Gesang schon mal komplett untergeht. Und die statt frischer Ideen offenkundige Zitate bringen. So ist „I Can’t Sleep Tonight“ ein Ramones-Plagiat, „Back In The Future“ erinnert an Dr. Feelgood, und für „Primitive Man“ müssten sie eigentlich Tantiemen an Iggy Pop abführen. Denkwürdige Textzeile: „Daddy was a caveman. And so was mom.“ Die Coverversion von Link Wrays „I’m Branded“ ist letztlich das einzige Highlight eines schwachen Albums.

** Marcel Anders

Wayne Hancock

Ride

Bloodshot/Indigo

Wayne Hancock lässt den Alternative Country einfach links liegen.

Wayne Hancock trägt ein wollüstiges Pin-up auf dem Unterarm und Hemden mit dem Hoheitszeichen seiner Heimat. Hancock ist Texaner. Seit er zwölf ist, schreibt und singt er Countrysongs, mit 18 triumphierte er beim Wrangler Country Showdown, anschließend ging er für sechs Jahre zum Militär. Dass er als alternativer Countrysänger gilt, hat weniger mit ihm zu tun, seiner Musik und seinem Leben als mit dem gepflegten Dünkel gegenüber der konservativen, volkstümlichen, ländlichen Musik Amerikas. Auch Hancock mag den Industrieschlager aus Nashville nicht. Doch nicht aus ideologischen Erwägungen, sondern weil der sein Ohr beleidigt und seinen Lokalstolz. Unbeirrt spielt er auf Ride wieder konservative, volkstümliche, ländliche Musik wie „Best To Be Alone“. Ein unverschämtes Plagiat aus allerlei Hank-Williams-Klassikern, samt Schluckauf und im Abendwind verwehenden Pedalgitarrenwolken. Jeder Song erinnert an die Gründerzeit des kommerziellen Country. Hank Williams III sagt über Hancock: „Er hat mehr Hank Sr. in sich als Hank Jr. oder ich. Er ist der wahre Erbe.“ Countryfreunde nennen ihn „The Train“, und man hört auch warum. Er ebnet alles ein, was ihm im Weg steht, rechts und links.

****1/2 Michael Pilz

Mick Harvey

Four (Acts of Love)

Mute/Good To Go (VÖ: 26.4.)

Die im Wald der Schwermut verlorene Seele der Bad Seeds macht da weiter, wo PJ Harvey aufgehört hat.

Mick Harvey ist der Mann, der immer anderswo drinsteckte. Besser lässt sich kaum erklären, was er die vergangenen fast 40 Jahre getrieben hat – mit Nick Cave The Birthday Party gründen, danach die Bad Seeds, dazwischen Crime & The City Solution, zuletzt im Halbschatten von PJ Harvey noch größere Musik komponieren. Seit er 2009 die Bad Seeds verlassen hat, gibt es all diese Dinge eben solo. Vielleicht nicht The Birthday Party, aber die Bad Seeds in ihrer goldenen Chanson-Phase (The Boatman’s Call) und vor allem PJ Harvey. An die tief atmenden, seufzenden Melodien des epochalen Let England Shake erinnert hier vieles, nicht zuletzt „God Made The Hammer“, das sich ähnlicher Akkordfolgen bedient wie „Last Living Rose“, nur in Zeitlupe. Das Album klingt erfreulich heterogen: „Midnight On The Ramparts“ ist nur wehmütig verhallendes Pfeifen über einer akustischen Gitarre, das von PJ Harvey geschriebene „Glorius“ erinnert, äh, wieder an PJ Harvey. So sehr die Bad Seeds ohne ihren Arrangeur in den Blues vordringen, so sehr scheint Mick Harvey sich in einen Folkmusiker zu verwandeln. Und wenn er sich doch einmal hergebrachter Blues-Schemata bedient, dann in beseelten, nackten Coverversionen wie „Summertime In New York“ von Exuma oder Roy Orbisons radikal entschnulztes „Wild Hearts“. Wie mühelos Harvey selbst die heitersten Stücke ins Melancholische biegen kann, demonstriert er mit Van Morrisons „The Way Young Lovers Do“.

**** Arno Frank

Robyn Hitchcock

Love From London

Yep Roc/Cargo

Zum 60. Geburtstag: die alljährliche Dosis Paisley-Pop.

Wie viele Alben der Mann in den Paisley-Hemden in den letzten fünf Dekaden mit den Soft Boys, Egyptians, Venus 3 und als Solist veröffentlicht hat, weiß niemand. Nicht einmal er selbst, der die Zahl seiner Kompositionen auf „über 500“ schätzt. Jetzt kommen noch einmal zehn hinzu. Auch auf seinem neuesten Werk pendelt der 60-jährige Brite gekonnt zwischen wunderbarem Pop, den er mit Klavier, Gitarre und Cello inszeniert, psychedelischem Rock, Funk und unpeinlichen Balladen. Wobei er aus seiner Liebe für Bob Dylan, John Lennon und Syd Barrett zwar kein Geheimnis macht, dabei aber immer wie er selbst klingt – das verkannte Songwritergenie, das mit jugendlichem Esprit und unverwüstlicher Naivität von Liebe und Glück singt – und all das hoffentlich nie findet, damit seine Musik so bleibt, wie sie ist.

**** Marcel Anders

House Of Love

She Paints Words In Red

Cherry Red/Rough Trade

Mit ihrem zweiten Album seit der Aussöhnung finden die beiden (Ex-)Streithähne Guy Chadwick und Terry Bickers zum psychedelischen Pop, der sie einst ganz groß gemacht hat.

Charismatischer Sänger, talentierter Gitarrist – das ging nicht lange gut. Weder bei Morrissey/Marr noch bei Anderson/Butler und Chadwick/Bickers. Immerhin hat letzteres Pärchen inzwischen wieder eine Arbeitsgrundlage gefunden. Die Pause seit dem Wiedervereinigungsakt Days Run Away wollte zwar nicht enden, war aber wohl nötig, um am Ende ein wunderbar zeit- und fehlerloses Album wie dieses aufnehmen zu können. Man spürt die Harmonie zwischen den Beteiligten. Chadwick murmelt mit innerer Ruhe, und Bickers setzt kleine Nadelstiche. Immer passt es, weil sich keiner von beiden sonderlich in den Vordergrund drängelt. Früher war das anders, da waren die Erwartungen hoch, das Gitarrenriff in „Shine On“ klang wie ein Generalangriff, da insistierte man so lange auf der Melodie, bis sie sich einbläute. Gerade die komplette Abwesenheit von Hysterie macht das Durchhören angenehm. Die Band hält sich nicht lange auf, sondern kommt in „A Baby Got Back On Its Feet“ gleich zur Sache, offenbar in dem Bewusstsein, dass es einiges zu erledigen gilt. „Money Man“ ist bissig und bei „Trouble In Mind“ zeigt sich, dass sich die Magie der Band auch in ruhigen Momenten entfaltet. Warum man jetzt auf das „The“ im Bandnamen verzichtet, ist nicht nachvollziehbar. Wenn man unbedingt Kritik üben will, dann daran.

***** Thomas Weiland

Karl Hyde

Edgeland

Universal (VÖ: 19.4.)

Weniger Techno, mehr Ambient-Pop: Der Underworld-Sänger traut sich zum ersten Mal alleine an die Oberfläche.

Der Startschuss für dieses Projekt fiel in einem anderen Kontext. Es begann mit der experimentellen Supergruppe Pure Scenius, der Brian Eno vorstand und zu der unter anderem Karl Hyde und Gitarrist Leo Abrahams gehörten. Bei dieser Gelegenheit muss sich zwischen diesen beiden Musikern eine Freundschaft entwickelt haben, die sich in diesem Album manifestiert. Edgeland ist kein Underworld-Album. Beats sind schon noch vorhanden, aber bei Weitem nicht in der Art, wie man sie von Hydes Exkursionen ins Land des Prog-Techno kennt. In diesem Fall tritt er wesentlich gefühlvoller und introvertierter auf. Grundlage sind Gespräche, Geräusche und Bilder in der Großstadt, die bei ihm hängengeblieben sind und sich zu einem Gesamtwerk verdichtet haben. Es ist ein verträumter Trip, der von Folk-Impressionen, Ambient-Kulissen und zurückhaltendem elektronischem Beiwerk begleitet wird. Auch der Pop spielt eine Rolle – zum ersten Mal seit Hydes ersten Gehversuchen mit Freur und der ersten Formation von Underworld. Richtig heraus lässt er ihn nicht, aber er ist in „Angel Café“ und „Slummin‘ It For The Weekend“ zumindest erkennbar.

*** Thomas Weiland

Iggy & The Stooges

Ready To Die

Fat Possum/PIAS/Rough Trade (VÖ: 26.4.)

Mehr Rock als Punk: das erste Album der Stooges seit sechs Jahren und das erste unter dem Namen Iggy & The Stooges seit vier Jahrzehnten.

Die größte Neuerung bei The Stooges ist die Rückkehr von Gitarrist James Williamson als Nachfolger des im Januar 2009 verstorbenen Original-Gitarristen Ron Asheton. Bevor Williamson 2009 zum Live-Line-up der Band stieß, hatte er Asheton schon einmal beerbt – das war 1973 beim Album RAW POWER. Aus The Stooges wurden damals Iggy & The Stooges, Asheton wurde zum Bassisten degradiert und Williamsons Raw-Power-Stil auf der Gitarre zum sehr wichtigen Einfluss auf die zweite Generation der Punks ab 1976. READY TO DIE ist (songweise) mehr noch als das Reunion-Album THE WEIRDNESS von 2007 die perfekte Rekonstruktion des explosiven, aggressiven, schneidenden Proto-Punk der Stooges. Aber ausgerechnet James Williamson, der sich 29 Jahre lang komplett aus der Musikwelt herausgehalten hatte, fällt auf diesem Album durch ein paar unschöne Passagen auf. Williamson kann der größten Versuchung von älteren, elaborierten Punk-Gitarristen nicht widerstehen und gleitet zu oft in Blues-Schemata ab („Unfriendly World“, „Beat That Guy“, „The Departed“). Im Titelsong geht’s dann ganz mit ihm durch: Williamson spielt ein rockistisches Solo mit höchstem Fremdschamfaktor. Davon abgesehen ist READY TO DIE ein kurzweiliges (nicht einmal 35 Minuten langes) Vergnügen, bei dem sogar ein paar Songs fürs ultimative Stooges-Mixtape anfallen: „Burn“, „Sex And Money“ und „Job“.

*** Albert Koch

Iron & Wine

Ghost On Ghost

4AD/Beggars/Indigo (VÖ: 12.4.)

Jazz-Pop-Annäherungen an die Meisterwerke der 1970er.

Mit dem 2011er-Album KISS EACH OTHER CLEAN hatte Sam Beam begonnen, sich von seinen Singer-Songwriter-Anfängen zu entfernen und an einem ambitionierten Fusion-Projekt zu arbeiten. In seinen Songs fanden Elemente aus Folk, Americana, Jazz, Blues und Seventies-Pop ganz organisch zusammen, untermalt von Xylofon-Melodien und dem Gluckern glücklicher Synthesizer. Auf GHOST ON GHOST spielt der Texaner, begleitet von einem Verein von Alleskönnern (u. a. Mitglieder der Bands von Bob Dylan und Antony Hegarty), diese Idee einer zeit- und raumübergreifenden amerikanischen Pop-Musik in diverse Richtungen weiter. „Caught In The Briars“ heißt der Eröffnungssong. Er beginnt mit einer kurzen Latin-Rhythmus-Sequenz, die Platz macht für eine akustische Gitarre. Was sich dann so langsam aufbaut, ist ein Gospelstück, wie man es vielleicht von Van Morrison erwarten kann. Ein Song, der den Zusatz „adult orientated“ gerne tragen darf und in einem leicht angejazzten Instrumentalpart ausgeblendet wird. Beam läuft in diesen zwölf Songs zur Hochform auf, seine Musik besitzt heute die Ausgeschlafenheit der besten Steely-Dan-Songs, sie erinnert an die Verschwendungssucht eines Todd Rundgren in den frühen 70er-Jahren und findet mit schöner Regelmäßigkeit wieder zu sich selbst zurück. Die Bläser- und Streicher-Arrangements tragen längst so etwas wie ein Gütesiegel, sie untermalen die Songs, überschreiben sie für ein paar Sekunden, sie verleihen ihnen die akustischen Ausrufezeichen auf dem gedämpften musikalischen Feld, das Beam mit seiner sanften Stimme so wunderbar bestellt.

****1/2 Frank Sawatzki

Story S. 42

Ethan Johns

If Not Now Then When?

Rykodisc/Warner

Spartanisches um Folk, Blues und Country kreisendes Soloalbum des Produzenten, der einigen guten Bekannten unter die Arme gegriffen hat.

Er hat es schon mal im Alleingang versucht. 1992 war das, da erschien von der breiten Öffentlichkeit und auch von Insidern weitgehend unbeachtet sein erstes Album Independent Years. Als Produzent war Ethan Johns erfolgreicher. Er hat mit Ryan Adams gearbeitet, mit Kings Of Leon (als die noch brauchbar waren), mit Ray LaMontagne und zuletzt mit Laura Marling. Im vergangenen Jahr wurde Johns bei den Brit-Awards als bester einheimischer Produzent ausgezeichnet. Das kam etwas überraschend, weil er lange Zeit in den USA gelebt und gewirkt hat und die meisten seiner Klienten aus Nordamerika kamen. Auch die durchweg selbst verfassten Stücke auf diesem Album verortet man nicht in Europa. Den unwirschen „Morning Blues“ nicht, den Folk-Song „The Long Way Round“ nicht und auch die zwei, drei Titel nicht, in denen sich der Einfluss von Tom Petty bemerkbar macht. Anders ist das in „Don’t Reach Too Far“, hier erinnern die krächzende Gitarre und der Gesang an die Rolling Stones der 60er-Jahre. Johns ist grundsätzlich darauf bedacht, erdig und zurückhaltend zu wirken. Seine Fähigkeit, Songs durch einen kleinen feinen Dreh eine besondere Atmosphäre zu verleihen, kommt in „The Turning“ in Gestalt von elektronischen Effekten zum Vorschein. Sie empfinden die Geräusche eines drohenden Gewitters nach. Diesen Aspekt sollte er ausbauen. Durch ihn kommt noch mehr Persönlichkeit ins Spiel.

**** Thomas Weiland

Daniel Johnston

Space Ducks

Feraltone/Cargo (VÖ: 26.4.)

Kurzweiliger Soundtrack zu Daniel Johnston erstem Comicbuch.

2012 veröffentlichte Daniel Johnston seinen ersten Comicband: „Space Ducks: An Infinite Comic Book Of Musical Greatness“. Nun reicht er den Soundtrack dazu nach. Das Album enthält neben sieben neuen eigenen Stücken unter anderem auch Songs von Jake Bugg („Man On The Moon“), Eleanor Friedberger („Come Down“), den Fruit Bats („Evil Magic“), Lavender Diamond („Moment Of Laughter“) und Deer Tick („Space Ducks“), die sich inhaltlich an dem vorgegebenen Thema orientieren. Nach einer kleineren Pause, sein letztes Album erschien 2010, präsentiert sich der außergewöhnliche Songwriter auf Space Ducks wieder in bestechender Form. Nach der stilvollendeten Eröffnung mit dem „Space Duck Theme Song“ nimmt Johnston den Hörer gleich in den beiden folgenden beiden Nummern mit auf die Reise in seine eigenwillig-verschrobene Fantasiewelt. „Mean Girls Give Pleasure“ ist eine jener für Johnston typischen Midtempo-Nummern, deren beachtliche Tiefenschärfe sich erst nach und nach offenbart.

**** Franz Stengel

Junip

Junip

City Slang/Universal (VÖ: 19.4.)

Erlöserpop der wunderbar weich gespülten Art – diese drei Schweden erinnern uns daran, wie es sich anfühlt, bei einem Song eine Gänsehaut zu bekommen.

Es gibt Songs, die nur darauf gewartet haben, eines Tages geschrieben und gespielt zu werden. Hört man sie dann, klingen sie so vertraut wie ein Beach-Boys-Klassiker aus den Surf-Jahren und so frisch wie ein neuer Track von Jamie Lidell. Nur ein paar Sekunden benötigen Junip, um uns in den Sog von „Line Of Fire“ zu ziehen – ein federnder Rhythmus, eine einfache Keyboardmelodie, die Stimme von José González schiebt sich mit einem Murmeln in die weichen Soundwellen: „What would you do, if it all came back to you? / Each crest of each wave, bright as lightning.“ Dieser fünfeinhalbminütige Glücksbringer steht ganz am Anfang des neuen Albums des schwedischen Trios, ähnliche Substanzen sind erfreulicherweise in jedem der folgenden neun Beiträge enthalten, in den verwischten Kraut- und Afro-Adaptionen, den ins Firmament drängenden Folksongs, den angejazzten Landschaftsmalereien. González, der schon als Solist Spuren auf der Landkarte des Pop hinterließ, Perkussionist Araya und Keyboarder Winterkorn lassen sich in ihren Songs treiben und behalten doch in jedem Augenblick die Kontrolle über diese. Mit einer lässigen Eleganz vereinnahmt die Band all die Stile und wirft sie im handlichen Songformat und wunderbar weich gespülten, fließenden Junip-Sound wieder raus. Dieses Album wäre in seiner überbordenden Sanftheit und psychedelischen Verspieltheit vielleicht möglich gewesen, wenn man Crosby, Stills, Nash & Young noch in den 1970ern mit Arthur Russell ins Studio geschickt hätte. Hat man aber nicht. Junip erlösen uns von unseren Pop-Träumen. Sie sind Wirklichkeit geworden. Geistermusik. Gänsehautfeeling. Klassikerverdacht.

***** Frank Sawatzki

Käptn Peng & die Tentakel von Delphi

Expedition ins O

Kreismusik/Soulfood

HipHop, der die tiefen Täler zwischen Wahnsinn und Wortwitz auslotet.

Nein, der deutschen Rap-Gemeinde wird auch dieser zweite Versuch nicht zusagen. Käptn Peng & die Tentakel von Delphi haben zwar nur ein Jahr nach ihrem großartigen Debüt (noch als Shaban & Käptn Peng) mit WILLKOMMEN IM O ein zweites Meisterwerk aufgenommen, aber ihnen fehlt nicht nur der HipHop-Stallgeruch, sondern auch die in diesem Geschäft nötige Selbstüberschätzung und Distanzlosigkeit zum eigenen Ich. Eher im Gegenteil: Wieder rappt der Käptn, der im sonstigen Leben der Schauspieler Robert Gwisdek ist, vor allem über seine geistige Gesundheit, um die es nicht zum Allerbesten bestellt ist. Aber auch dem Zuhörer wird, so verspricht der Rapper, „der Verstand zerfetzt und neu instand gesetzt, mit Sirup überzogen und in Brand gesetzt“. Das eigene Innenleben mag ein eingeschränktes Sujet sein, aber Käptn Peng setzt das mit verzweifeltem Witz und irrsinnigen Wortspielen um in Texte, die man so schwerelos zwischen Weisheit und Wahnsinn oszillierend hierzulande noch nie gehört hat. Der größte Unterschied zum Erstling DIE ZÄHMUNG DER HYDRA ist aber die Musik unter den durchgedrehten Reimen: Die hat diesmal nicht Shaban alias Hannes Gwisdek weitgehend allein am Computer entworfen. Die Beats haben die Tentakel von Delphi, die Live-Band der beiden Söhne von Corinna Harfouch und Michael Gwisdek, mit Gitarre und Bass, auf Reisekoffern und Plastikeimern eingespielt. Auch das, so fantasievoll klappernd und krachend zwischen Neo-Folk und Augsburger Puppenkiste, wird den Gralshütern des HipHop nicht gefallen.

***** Thomas Winkler

Karo

Home

Normoton/Alive

Slowcore-Songwriting aus der fränkischen Provinz: Karo ist immer dann am besten, wenn’s etwas lauter wird.

„You are the fire. You are the fire“, singt Karo in „My Empire“, dem zweiten Song dieses Albums, während im Hintergrund ein Höllengewitter aufzieht, das dann ein paar Minuten lang bleibt, quasi intensiv abregnet: Wo die Songwriterin auf ihrem Debütalbum Sing Out, Heart noch als Chanteuse durchging, hat sie damit die Richtung nicht unbedingt verändert, wohl aber erweitert. Ihr verschlafener Langsam-Rock wurde mit einfachsten Mitteln (der ehemalige Tresorraum der Würzburger Post, ein Mikrofon) aufgenommen. Es hallt also, bleibt im Unklaren, ist nah am, pardon, Post-Rock. Das geht gut auf, zum Beispiel bei der Chris-Isaak-Coverversion „Wicked Game“, in der ihre Gitarre einen traurigen Twang spielt, oder in „Low Once Saved My Life“: Im Hintergrund pumpt die Hammondorgel, das Schlagzeug wechselt das Tempo störrisch wie ein alter Esel, und die Gitarre tönt so laut, dass man nur vermuten kann, was das mit der Lebensrettung durch Alan Sparhawk und seine Mannen und Frauen auf sich hat. Ist ja auch nicht so wichtig, wichtig ist: Dieser Platte nimmt man jede Note, jeden Ton ab.

**** Jochen Overbeck

Kitty Solaris

We Stop The Dance

Solaris Empire/Broken Silence

Mit dem vierten Album kommt der Pop-Rock der Labelchefin endgültig raus aus der Küche.

Wenn sie damit nicht vom Herd weg kommt, dann niemals: Kitty Solaris, über die sich, seit sie ihre ersten Songs in der eigenen Küche in Berlin-Prenzlauer Berg einspielte, hartnäckig das Gerücht hält, sie wäre eine LoFi-Folk-Musikerin, war noch nie so poppig, so tanzbar und doch rockig wie auf ihrem vierten Album. WE STOP THE DANCE ist aufgeräumt, mit federnd hüpfenden Beats nicht nur im Titelsong, der – jetzt nicht lachen – nicht nur wegen des Songtitels an Men Without Hats erinnert. So geht es fröhlich weiter: „17“ ist ein potenzieller Sommerhit und „Take It Easy“ schlürft entspannt in die nächste Liebe, die nicht unbedingt die größte sein muss. Selbst wenn die Breitwandgitarren ausgepackt werden wie in „Hot Town Blues“, will die gute Laune von Kirsten Hahn, wie Kitty Solaris eigentlich heißt, nicht vergehen. Nur für das abschließende „Cigarettes Kill You“ hat die Chefin des geschätzten Indie-Labels Solaris Empire einen schwermütigeren, dramatischen Tonfall gewählt. Aber der Song macht das Album so rund, dass Kitty Solaris bald aufpassen muss, dass sie nicht selbst der größte Star ihrer eigenen Plattenfirma wird.

****1/2 Thomas Winkler

The Leisure Society

Alone Aboard The Ark

Full Time Hobby/Rough Trade

Das Quintett aus Brighton hat im barocken Popsong eine schöne neue Heimat gefunden.

Wüsste man nicht, dass es sich bei den Urhebern all dieser in Ray Davies‘ Konk-Studios aufgezeichneten „Ba-da-das“ und „Uhu-hus“ um ein Kollektiv von jüngeren Folk-Feinarbeitern handelte, wäre der Verdacht wohl auf eine etwas erfahrenere Band mit Sixties-Background gefallen. Auf die Kinks, zum Beispiel. Es gibt auf dem neuen Album der Leisure Society diesen frappierenden Moment, in dem Nick Hemming in die Haut von Ray Davies zu schlüpfen scheint und einen Song singt, der sich als Appendix zum Kinks-Album MUSWELL HILLBILLIES (1971) geradezu anbietet – ein leicht nasales „We Go Together“ aus dem Hinterland, wo man sich noch mit der Musik von gestern die Zeit vertreibt. Darüber hinaus ist „We Go Together“ das Stück, das das komplette Album des Ensembles aus Brighton umschließt, vom zarten Vaudeville-Soul in den ersten Takten bis zum opulenten Finale mit Streichern und allem Drum und Dran. Zwischen diesen beiden Polen erkundet die Band wechselnde Orte aus der Liste ihrer musikalischen Liebesnester: melancholische Landpartien zum beherzten Saitenspiel, kleine Music-Hall-Hits, hoch aufgeschossene Popsongs mit reichlich Gitarrenfeuer. In der Mehrzahl barocke Lieder, an deren Innenausstattung die Blechbläser von Mumford & Sons einen nicht geringen Anteil haben – jene Band, die der aktuellen Ausgabe der Leisure Society musikalisch sowieso am nächsten steht. Es weht eine frische Brise durch ALONE ABOARD THE ARK, die Band hat einen der schönsten Merksätze der noch recht jungen Saison dazu aufgeschrieben: „Life Is A Cabriolet“.

**** Frank Sawatzki

Letherette

Letherette

Ninja Tune/Rough Trade (VÖ: 12.4.)

Leuchtstrahler-House aus Wolverhampton. Frisch, funky, nur etwas zu lang.

Das Duo Letherette, das wenig Lust auf Interviews oder Fotos hat und gut unterrichteten Kreisen durch zwei bemerkenswerte EPs auf dem Liebhaber-Label Ho Tep Records bekannt war, klettert für das erste Album die Leiter noch einmal herauf und unterschrieb bei Ninja Tune. Vom daft-punkesken French House bis hin zum gebrochenen HipHop-Beat der Marke Brainfeeder ist alles dabei. Manchmal – gut, sehr oft – werden Erinnerungen an den Beginn der kurzlebigen Ära Ed Banger wach. Warum Beginn? Weil alles noch so frisch und unverbraucht klang und man uns auf der Tanzfläche mit den Neon-Sticks noch nicht die Rübe eingehauen hat. Fiese Stadion-Gitarren im Filter-House von „D&T“ sind da fast schon ein Muss, wenn aber im Anschluss die spacigen Synthesizer in „Restless“ die weiblichen Vocals „higher taken“, wird ein Ohrwurm geboren. Sowieso ist die erste Hälfte der Platte der Gewinner. „I Always Wanted You Back“ könnte als bester Madlib-Outtake seit Jahren durchgehen und schlägt den Haken Richtung HipHop. „Hard Martha“ knackt und hallt sich in die Post-Everything-Ecke von Mount Kimbie. Natürlich ist eine gute Stunde nicht zu lang für ein Album, Letherette stünden gute 15 Minuten dennoch ganz gut, zu viele Füller hat diese Platte.

*** Christopher Hunold

Melvins

Everybody Loves Sausages

Ipecac/Soulfood (VÖ: 30.4.)

Die Erfinder des Sludge Metal legen weitere weitverzweigte Wurzeln frei.

Diese Band ist längst Legende. Der Werdegang von Buzz Osborne und Dale Crover sollte einer jeden neuen Generation von Rockmusikern als Lektion in Sachen künstlerische Unabhängigkeit ans Herz gelegt werden. Ein noch heller leuchtendes Beispiel möge nur noch ihr antiautoritärer Umgang mit der Musik wilder, aber in dumpfer Tradition auch oft ziemlich vernagelter Männer geben: Die Melvins bewegen Metal und Rock. Live wie auch auf ihren unzähligen Tonträgern haben sie seit jeher gerne Zeugnis abgelegt von ihren Vorlieben und Vorbildern. EVERYBODY LOVES SAUSAGES trägt nun 13 weitere Interpretationen zusammen. Da die stimmlichen Möglichkeiten von Osborne allerdings überschaubar sind und die Melvins sich schon immer gerne Gäste eingeladen haben, kommen zur Aufführung legendärer Songs von Queen („You’re My Best Friend“), David Bowie („Station To Station“), The Kinks („Attitude“), The Jam („Art School“) und des Traditionals „Black Betty“ auch noch ein paar legendäre Künstler dazu: Mark Arm (Mudhoney), JG Thirlwell und Clem Burke (Blondie) neben weiteren. Am Ende ist es freilich piepegal, mit wem oder was die Melvins ihr Spiel treiben, und das gilt selbst für vermeintliche Querschläger wie „Female Trouble“ von Divine oder „Heathen Earth“ von Throbbing Gristle: Dieser Macht entkommt keiner. Magst du sie „dunkel“ nennen und dein Schwager vielleicht „licht“ – die Wahrheit ist: Die Melvins sind Darth Vader, Yoda UND der Imperator des Rock zusammen! Nur der arg theatralische Jello Biafra jar-jar-binkst hier ein wenig herum – ausgerechnet in Roxy Musics ellenlangem, sinistrem Monolog „In Every Dream Home A Heartache“. Aber der geht auch vorbei.

**** Oliver Götz

Mudhoney

Vanishing Point

Sub Pop/Cargo

Zeit für Veränderungen? Auch in ihrem 25. Jahr lassen sich die Grunge-Veteranen nicht verführen.

Es gab eigentlich keinen besonderen Anlass und auch keine Enttäuschungen. Warum auch nach wilden Konzertnächten in den Jahren 1989 und 90, nach einer Reihe guter Alben wie EVERY GOOD BOY DESERVES FUDGE …? Aber irgendwann rückten Mudhoney aus dem persönlichen Fokus. Grunge war ja ein bisschen langweilig geworden Mitte der 90er, es gab andere Bands und Genres zu entdecken. Aber wie das so ist mit guten alten Freunden: Da läuft man sich nach einer Ewigkeit über den Weg, und es braucht nur einen Moment, um die alte Vertrautheit wieder aufflammen zu lassen. Damit dürfte klar sein, dass Mudhoney, diese Ursuppe des Grunge, auf VANISHING POINT die Zutaten der altbekannten Klangrezeptur nicht geändert haben. Schwere, verzerrte Gitarrenbreitseiten, Fuzz-Riffs, Schlagzeuggedresche und ein roher Sound prägen weite Teile des neunten Studioalbums der Band. Ohne Vertuschungsversuche zeigt sich das Quartett aus Seattle weiterhin stark beeinflusst von Protopunks wie den Stooges und MC5. Sänger Mark Arm kann immer noch ganz wunderbar den Iggy machen. Dabei sind bei ihm wie dem Rest (die Gründungsmitglieder Dan Peters und Steve Turner sowie der 2001er-Neuzugang Guy Maddison) die Haare recht kurz geschnitten, und anstatt Jeans und Hemden tragen sie auch gerne mal Anzüge während Fotoshootings. Musikalisch aber kommen Mudhoney zumeist hemdsärmelig daher. Ein hartes Alternative-Rock-Brett aber ist VANISHING POINT zum Glück nicht immer. Es gibt mit Psychedelia verschnittene Songs („Douchebags On Parade“), spacige Effekte („In This Rubber Tomb“), eine Orgel und schleppendes Tempo in „Sing This Song Of Joy“ und Vintage-Keyboards im Stil von Billy Preston in „What To Do With The Neutral“. Mudhoney lassen einem also genügend Raum zum Atem holen.

**** Sven Niechziol

Mukunguni

New Recordings From Coast Province, Kenya

Honest Jons/Indigo (VÖ. 12.4.)

Sven Kacirek veröffentlicht Field Recordings, die er mit Stefan Schneider (To Rococo Rot) in Kenia machte.

Als Sven Kacirek 2010 durch Kenia reiste, um lokalen Gesangstraditionen nachzuspüren, machte er unter anderem Station in Mukunguni an der Ostküste. Dort entstand der Vocal-Percussion-Track „Trickled Away“ mit Swaleh Mwatela Masai, einem Heiler und Musiker, der sich über Jahrzehnte um die Rhythmisierung der Sengenya-Musik verdient gemacht hat. Das, was später auf Kacireks THE KENYA SESSIONS zu hören war, glich einer Neukontextualisierung mit elektronischen Untertönen: Original und Overdub verschmolzen in einem fein gewobenen transkontinentalen Sound-Mix. Die Aufnahmen auf MUKUNGUNI entstanden während eines Trips, den Kacirek mit Stefan Schneider von To Rococo Rot 2011 unternahm, sie richten den Fokus auf die Gesangs- und Percussion-Techniken Masais, es gibt keine Nachbearbeitung, keine rhythmischen Intarsienarbeiten. Die 14 Tracks dokumentieren, was die Musiker der Region mit Rasseln, Glocken, Metall-Ringen und -Blechen mitteilen, sie lassen Beziehungen zu Sounds hörbar werden, die wir Nichtafrikaner uns gar nicht vorstellen konnten. „Bungo“ etwa, ein Solo für das gleichnamige Blasinstrument, das man Sun Ra für seine Space-Jazz-Trips hätte schenken wollen. „Mwanzele“ mit Gesang, Percussion und Flöte ist ein Song, den Frauen ihren Liebsten auf der Beerdigung hinterherschicken (haben britische Skiffle-Musiker sich bei diesen Rhythmen bedient?). Wir hören Hochzeits- und traditionelle Tanzmusik, ein Lied wie „Matatizo“, das an einer Bushaltestelle aufgezeichnet wurde, immer wieder durchbrochen vom schrillen Zirpen einer Sängerin. Kacirek und Schneider könnten sich mit dieser Sammlung auf die Arbeiten des Field Recorders Alan Lomax berufen, aber sie ziehen sich lieber zurück, selbst die Liner Notes hat Swaleh Mwatela Masai verfasst.

****1/2 Frank Sawatzki

Metaboman

Ja/Noe

Musik Krause/Rough Trade

Begnadete Songs zwischen Minimal-House und verschachteltem Elektro-Funk.

Über den Namen Metaboman ist in den vergangenen zehn Jahren sicherlich bereits jeder gestolpert, der sich für Clubmusik jenseits des 4/4-Diktats interessiert. Metaboman ist eine Hälfte des Krause Duo und Gründer des Labels Musik Krause. Mit jedem seiner neuen Tracks hat er seine Fanbase vergrößert. Für die Veröffentlichung seines Debütalbums ja/noe hat sich der Musiker und Produzent allerdings bewusst Zeit gelassen. In den Entstehungsprozess von Ja/Noe ist all das Wissen über fortschrittliche Clubmusik, das er in den vergangenen zehn Jahren angehäuft hat, eingeflossen. Die zehn Tracks des Albums sind angesiedelt im Niemandsland zwischen Funk, Elektronik, House und Pop und doch so viel mehr, als diese Schnittmenge erahnen lässt. Metaboman, dessen musikalische Sozialisation mit HipHop begann, was man zwischendurch immer mal wieder heraushört, begeistert in Tracks wie „Wonderboy“ und „Kontrapfiffe“ mit einer aufreizenden Lässigkeit, was den Umgang mit Tempo, Groove und Harmonien angeht. Und genau aus diesen nur schwer zu beschreibenden Tugenden entsteht die kontemplative Kraft, die diese Songs so unvergleichlich macht. Mit Unterstützung von Musikern wie Berk Offset, San Proper, Flowin Immo, Stefan S. Hepper, Thomas Prestin und Ian Simmonds ist Metaboman ein Album gelungen, das Genregrenzen ignoriert und als richtungsweisend für die elektronische Musik der Zukunft gelten darf.

****1/2 Franz Stengel

OMD

English Electric

BMG Rights/Rough Trade

Der Synthie-Pop der vermeintlichen Kultband aus England klingt immer noch genau wie damals vor drei Jahrzehnten.

Die Behauptung, dass sich niemand mehr an die 80er-Jahre erinnern kann, der damals tatsächlich dabei gewesen ist, machen sich OMD schamlos zunutze. Die inszenieren sich nämlich seit ihrer Wiedervereinigung im Jahr 2006 als Kultband aus jenen dunklen Tagen, als sie noch Orchestral Manoeuvres In The Dark hießen. Tatsächlich aber war ihr Synthie-Pop schon immer ein arg einfallsloser, aber selbstverständlich radiofreundlicher Abklatsch der Musik weitaus innovativerer Kollegen wie The Human League, Heaven 17 oder Yazoo. ENGLISH ELECTRIC, das zwölfte OMD-Album und das dritte seit dem Comeback, knüpft an diese Tradition an: Weitgehend ereignislos, aber immer ein wenig melancholisch piepsen die Vintage-Synthesizer zu stets mittelschnellen, eintönigen 4/4-Rhythmen. Aber immerhin jene, die einst dabei gewesen sind, können nun ihren Enkeln ENGLISH ELECTRIC vorspielen und sagen: Hör mal, so klang das damals, als Opa noch jung war.

** Thomas Winkler

Interview ME 4/2013

Rhye

Woman

Universal

Das dänisch-kanadische Duo serviert einen Cocktail-Pop, der nur mit knapper Not seinen eigenen guten Geschmack überlebt.

Gibt es das, ein Übermaß an gutem Geschmack? Wie ist das, wenn alles perfekt ist? Wenn jeder Synthie-Quieker genau die richtige Temperatur besitzt, jedes kleine Klaviermotiv die korrekte Länge hat und wenn dann auch noch jedes klitzekleine Background-Huhu an der einzig denkbaren Stelle im Song platziert ist? Kurz: Wie ist das, wenn man Rhye ist? Im Vergleich zu WOMAN, dem Debütalbum des dänisch-kanadischen Duos, wirkt selbst der Sade-Klassiker DIAMOND LIFE wie lieblos hingerotzt und das Gesamtwerk von The xx wie aufgedrehter Punkrock. Die Gefühle, die Mike Milosh in diesen Liedern besingt, sind so schaumgebremst, dass sie keine Flecken auf der teuren Designercouch hinterlassen, während Robin Hannibal den Rhythmus so cool mit den Fingern schnippen lässt, dass die Longdrinks nicht überschwappen. Dazu tröten hochnäsige Trompeten, tropfen elegante Beats, und edle Streicher verzieren den schier unerträglich schönen Cocktail-Soul-Pop noch zusätzlich. Aber egal, so perfekt austariert auch jeder der eigentlich sattsam bekannten Effekte sein mag, so teuer und chic und gediegen das Album WOMAN auch klingen mag: Man kann sich dem Reiz der Perfektion, der Verführung, dem Luxus nicht entziehen. So viel gutem Geschmack erliegt man dann halt doch nur allzu gern.

**** Thomas Winkler

Omar Rodriguez Lopez

Solo Extrano

Rodriguez Lopez Productions

Free Rock: Der beste Gitarrist seiner Generation dringt endgültig ins Unerforschte vor.

Es sei an dieser Stelle noch einmal eine Träne, ach was, ein Sturzbach aus Rotz und Wasser geheult über die Trennung von The Mars Volta, der unwahrscheinlichsten Rockband der Nullerjahre. Kollege Koch sagt die Reunion für 2018 voraus. Wir wollen ihm glauben. Das vorläufige Aus verkündete im Januar Sänger Cedric Bixler-Zavalas beleidigt in einem Tweet: „Soll ich so tun, als ob ich eine progressive Hausfrau bin, die kein Problem damit hat, wenn ihr Partner andere Bands fickt?“ Tatsächlich ist sein Kollege Omar Rodriguez Lopez nicht nur immer schon der musikalische Kopf der Gruppe gewesen, sondern ein geradezu exzessiv promisker Musiker. Manche Menschen hören in ihrem ganzen Leben weniger Platten wirklich an, als dieser Mann in zwölf Monaten herausbringt. Im März 2013 etwa hatte er schon drei Platten veröffentlicht, da erscheint mit Solo Extrano auch schon die vierte. Ein solches Tempo muss vorlegen, wer 26 Soloalben seit 2004 veröffentlicht hat – und keine Anzeichen zeigt, es langsamer angehen zu lassen. Auf den ersten, zweiten, dritten und vierten Blick macht Rodriguez Lopez auf Solo Extrano wieder alles alleine. Gitarre spielen, Keyboard spielen, Beats programmieren, überraschend okay singen und an Knöpfchen drehen, vor allem an Knöpfchen drehen. Am Rad sowieso. Schwerlich dürfte der aufgeschlossene Musikfreund dieser Tage andere Klänge hören, die ihm spontan mehr an den Nerven zerren dürften, als Songs wie „Discursos“ und „House In The Sand“, die aus schwer gestörten Störgeräuschen zu bestehen scheinen. Ein kleinteiliges, immer wieder verrutschendes Mosaik aus Tönen, das auch mit Abstand nur weißes Rauschen zeigt. Erst auf den fünften Blick fällt auf, dass da als einziger Gast der von The Mars Volta bekannte Deantoni Parks hinter den Drums sitzt – und es sich auch um ein geheimes Deantoni-Parks-Soloalbum handeln könnte. Er liefert erst die rhythmische Matrix, in die hinein Rodriguez Lopez seinen kakofonischen Irrsinn pflanzen kann. Er ist es auch, an dem der Hörer sich halbwegs festhalten kann. Wer es bis zum Avantgarde-Elektro-Free-Jazz von „Quemamos Lo“ durchhält, wird erleben, wie das flirrende Chaos plötzlich stillzustehen scheint wie die Felgen eines sich schnell drehenden Rades. Das ist Kunst, wo sie hingehört – an den Rand des Wahnsinns. Ein gefährliches Geschenk.

Ohne Wertung Arno Frank

Simian Mobile Disco

Live

Delicacies/Kompakt (VÖ: 15.4.)

Greatest Tech-House-Live-Hits der Briten auf dem neuesten Sound-Stand.

Wenn das Wörtchen „live“ auf einem Konzertankündigungsplakat oder -flyer in Klammern hinter dem Namen eines elektronischen Musikers zu lesen ist, bedeutet das auf jeden Fall zwei Dinge: Der Künstler wird an diesem Abend anwesend sein und er wird nur seine eigene Musik spielen. Wie er das aber tut, ist seine Sache: mit Hardwareinstrumenten, am Laptop oder sonstwie. Wir waren leider nicht dabei, als James Ford und Jas Shaw am 7. Dezember 2012 in Philadelphia auftraten und diesen Auftritt mitschnitten, der jetzt unbehandelt als LIVE veröffentlicht wird. Und so können wir die gute Stunde mit 15 Tracks ganz unvoreingenommen anhören. Es gibt Hits aus allen Phasen des Duos, das nun auch schon wieder neun Jahre existiert: „It’s The Beat“, „Cruel Intensions“, „Sleep Deprivation“, „Seraphim“, „Hustler“. Und die sind auf den aktuellen Tech-House-Sound-Stand der Londoner gebracht. Es handelt sich also um kein Live-Album im klassischen Sinne, auch weil zum Glück keine Publikumsgeräusche zu hören sind, sondern eher um eine Standortbestimmung von Simian Mobile Disco.

**** Albert Koch

Sølyst

Lead

Bureau B/Indigo (VÖ: 12.4.)

Avantgarde: Schlagzeuger Thomas Klein entfernt sich noch ein Stück weiter vom Mutterschiff Kreidler.

Knapp zwei Jahre ist es her, da veröffentlichte Thomas Klein, der Schlagzeuger von Kreidler, sein Solodebüt. Kleins Rhythmusarbeit ist stilprägend für den Sound der Post-Rock-Elektroniker aus Düsseldorf. Aber sie steht auch in einem Bandkontext, den er in der Rolle des Sølyst verlassen kann. Das gelingt ihm mit LEAD noch besser, noch zwingender als auf dem Debüt SØLYST. Natürlich geht der Rheinländer trotz hörbar gestiegenen Selbstbewusstseins nun nicht neue Wege, die Zutaten seiner konsequent instrumentalen Stücke klingen vertraut. Sie verzichten erneut auf Komplexität, und so sucht man vergebens nach Klangschichten, die nur mühsam zu durchdringen sind. Der Sølyst stellt dafür den wuchtig groovenden Rhythmus ins Zentrum seiner Tracks, macht die zehn dunkel-atmosphärischen Stücke durchlässig, aber dennoch nie einfach zu durchdringen. Denn da tauchen wie beim Erstling Tribal-Beats, metallische Geräusche, Dub-Elemente und auch krautige Passagen auf. Melodien oder Songstrukturen gibt es hier nicht. Klein komponiert keine Lieder, sondern Tracks, die immer dann ganz stark klingen, wenn er die Zügel locker lässt, um in den Galopp überzugehen.

**** Sven Niechziol

The Thermals

Desperate Ground

Saddle Creek/Cargo (VÖ: 12.4.)

Das Punk-Pop-Trio aus Portland kehrt zu alter Stärke zurück.

Man war schon in Sorge, wie das mit Hutch Harris und Kathy Foster weitergeht. Die letzten beiden Alben Now We Can See und Personal Life waren zu solide und ließen an der Band zweifeln. Nichts ist fader als Punkrocker, die mit zunehmender Zeit erwachsener, professioneller und überlegter klingen. Zum Glück haben die beiden Gründer der Thermals das eingesehen. Harris holt jetzt wieder haufenweise Springsteen-Herzblut hervor und droht trotzig: „We are alive, we will fight to the end.“ Er klingt aufgekratzt und so, als wolle er die Welt besser machen. Den Verstärker dreht er schön auf und der Akkordaufwand ist minimal. Die Rhythmusgruppe hat es eilig. Damit erhält die Band bestimmt nicht die Höchstwertung in der Kategorie Erfindungsreichtum, aber darum geht es nicht, sondern darum, dass sich das, was sie machen, richtig anfühlt. Und das tut es. Der ein oder andere Song drängt sich mehr auf („I Go Alone“, „Our Love Survives“), aber im Grunde sind alle zehn Teil eines gut geschnürten Kraftpakets. Die Rückkehr auf den Pfad der Tugend könnte mit der Gesellschaft zu tun haben, in der sich The Thermals jetzt befinden. Sie haben bei Saddle Creek unterschrieben. Conor Oberst dürfte sich erinnert haben, dass Harris und Foster die erste Show von Bright Eyes in Portland organisiert hatten. Daran sieht man, dass gute Freunde immer von Vorteil sind. Gerade in diesem Geschäft.

**** Thomas Weiland

Justin Timberlake

The 20/20 Experience

Sony Music

Mit epischen Stücken zwischen R’n’B, Soul und HipHop kommt der Superstar nach sieben Jahren zurück.

Auch wenn er beim mal wieder hundsmiserablen „Wetten, dass …?“ einen passablen Elvis gab und sich im Booklet seines neuen Albums, bei ersten Liveauftritten und im Video zur Single „Suit & Tie“ als gegelter Crooner im Anzug mit Fliege und Hut präsentiert: Musikalisch völlig neu erfunden hat sich Justin Timberlake mit THE 20/20 EXPERIENCE nicht. Zwar wirbeln direkt zu Beginn des Openers „Pusher Love Girl“ zuckersüße Streicher herauf, die tatsächlich einen munter drauflos croonenden Timberlake in Aussicht stellen – doch als nach einer halben Minute ein verschleppter Beat einsetzt, JT gleich recht sexy ins Falsett hochrutscht und sich bald ein wunderbar warmer Background-Gesang dazugesellt, zeigt sich: zum Glück doch kein Swing, sondern vielmehr R’n’B, Soul und HipHop als wesentliche Konstituenten eines Albums, das unverkennbar von Timberlake stammt, dabei jedoch in seiner im Folgenden stetig changierenden Klangästhetik ein extrem fett produziertes, detailverliebtes Füllhorn an Ideen darstellt. So eklektisch klang der Mann aus Memphis, Tennessee, nie. Es flowt, groovt, klackert und knistert, dass es eine Freude ist. Umso schöner, dass der amerikanische Superstar sich einen feuchten Kehricht für das gängige Drei- bis Vier-Minuten-Radiopop-Format interessiert: Gerade mal drei der zehn Songs gerieten kürzer als sieben Minuten. So lassen sich auch die Höhepunkte ausgiebig genießen: Neben retrosouligen Ohrenschmeichlern wie „That Girl“ sind das vor allem das von Tablas angetriebene „Don’t Hold The Wall“, die in Dynamik, Frische und Ausdruck sehr gelungene OFF THE WALL-Hommage „Let The Groove Get In“ und die Ballade „Blue Ocean Floor“. Besonders Letztere dürfte durch ihre wabernden Klangflächen und Pianotupfer nachhaltig im Ohr bleiben. Ganz am Ende dann tatsächlich noch mal kurz die Streicher, die aber bald deutlich vernehmbar im Meer versenkt werden – was er uns damit wohl sagen will?

***** Martin Pfnür

Vampire Weekend

Modern Vampires Of The City

XL/Beggars/Indigo (VÖ: 3.5.)

Die New Yorker renovieren ihren Indie-Welt-Pop und setzen auf Nachdenklichkeit und ihren Spieltrieb.

In der Haut dieser Leute möchte man nicht stecken. Zwei Alben, und schon ist vieles gesagt. Wie macht man da weiter? Wie bleibt man trotz des Erfolges unbekümmert? Wie kriegt man ein neues „Oxford Comma“, „A-Punk“, „Walcott“ oder „Cape Cod Kwassa Kwassa“ hin? Wie hält man den Afro-Pop-Ansatz frisch, der so folgenreich war? Das sind nur einige der Probleme, mit denen sich Vampire Weekend herumschlagen müssen. Bei der Suche nach einer Lösung verzichten sie auf einen Abklatsch ihres Debüts. Auf diesem Gebiet sind The Strokes ohnehin unschlagbar. Stattdessen spielen sie ein Lied über Diane Young, das sehr aufsässig und nach wildem Surf-Punk klingt. Frau Young hat vor über 30 Jahren den ersten amerikanischen Hautpflegesalon eröffnet. Ihre Konzepte gegen vorzeitiges Altern behagen Ezra Koenig offenbar gar nicht. Er rastet richtiggehend aus. In „Unbelievers“ gibt sich die Band wieder mal sehr international, dieses Mal mit einem Break, in dem man Spuren von keltischem Folk entdeckt. „Finger Back“ geht in gewissem Sinne in eine ähnliche Richtung, hier lässt Chris Tomson sein Schlagzeug wie in U2s „Sunday Bloody Sunday“ poltern. Und der Hit? Hält sich irgendwo versteckt, wo man ihn nicht hören kann. Vampire Weekend ziehen das Abenteuer, die Spielerei und einen düsteren Unterton vor und werden immer mehr zur Album-Band. Vielleicht kriegen sie ja so tatsächlich die Kurve, die in eine lange Zukunft führt.

**** Thomas Weiland

Story S. 48

The Veils

Time Stays, We Go

Pitch Beast Records/Rough Trade (VÖ: 26.4.)

Gewohnt eigenwilliger und brodelnder Indie-Rock von den britisch-neuseeländischen Underdogs.

Diese Band kennt man, weil sie das Baby des Sohns von Barry Andrews ist. Andrews war mal bei XTC und ist immer noch treibende Kraft von Shriekback. Über schlechte Startbedingungen konnte sich der Spross nie beklagen. Er heißt Finn und hat sich mit den bisherigen Alben von The Veils jedweder Kategorisierung verweigert. Er hat immer wieder Songs abgeliefert, die nicht banal sind und in denen vulkanische Unruhe brodelt. Für den Durchbruch reichte es indes nicht. Das fand Geoff Travis, der Chef von Rough Trade Records, am Ende so enttäuschend, dass er die Band nach drei Alben nicht weiter unterstützen wollte. Bei einem solchen Vertrauensentzug kann man schon mal die Krise bekommen und an sich zweifeln. Andrews hat sich aber nicht aus dem Konzept bringen lassen. Das neue, im Laurel Canyon von Los Angeles aufgenommene Album erscheint beim eigenen Label und lässt keine Abnutzungserscheinungen erkennen. Im ausgezeichneten „Dancing With The Tornado“ steckt viel von dem, was der Titel verspricht. Andrews wirkt aufgebracht, so wie Nick Cave in seinen rabiaten Momenten. Aber er verliert nicht die Kontrolle. Es soll ja noch zu dem passen, was er sonst noch zu bieten hat. Zur Britpop-Schwärmerei „Another Night On Earth“. Zum Folk-Anflug in „Birds“. Ein Mann bleibt dran.

**** Thomas Weiland

Kurt Vile

Wakin O A Pretty Day

Matador/Beggars/Indigo

Der Indie-Slacker aus Philadelphia betrachtet die Welt nicht mehr nur aus der schlafwandelnden Perspektive.

„I will promise not to smoke too much and I will promise not to party … too haaaard“, nuschelt er an einer Stelle halb angeregt. Solche Versprechen sind natürlich von vornherein zum Scheitern verurteilt, wenn Kurt Vile sie abgibt. Seine Musik hört sich nun mal so an, als sei er gerade erst von einer längeren Sause zurück und auf dem Sofa mit Rauchutensilien beschäftigt. Bei anderen Leuten klingt so die Nacht aus. Bei Vile beginnt da der Arbeitstag. Daran hat sich auch dieses Mal nichts geändert. Dennoch ist die Musik nicht dieselbe, die man schon von vier Alben des Philly-Slackers kennt. Früher war er meistens um Kompaktheit bemüht, aber dieses Mal beginnt und beschließt er den Reigen mit Songs, die sich zehn Minuten lang wie durch einen Tagtraum schleppen. Dazwischen ist Vile bemüht, Kontrastpunkte zu setzen. Durch „Was All Talk“ zieht sich ein Synthesizer-Beat, der ein ganz schönes Tempo vorgibt. In „Never Run Away“ ist eine Hookline versteckt, die diesen Song zu einem Hit im Vile-Programm machen könnte. „Shame Chamber“ (großartiger Titel!) endet mit wilden Schreien im Hintergrund. Wegen solcher Griffe ist man geneigt, an ein kleines Meisterwerk zu glauben.

****1/2 Thomas Weiland

Story S. 12

Vondelpark

Seabed

R&S/Alive

Der Dreampop des Londoner Trios fällt auf dem ersten Album gelegentlich zu seicht aus.

Zum Frühlingsbeginn gibt sich das erste Album von Vondelpark nach einiger Verspätung endlich die Ehre – es hätte schon im vergangenen Jahr veröffentlicht werden sollen. Das Trio aus London faszinierte vor zweieinhalb Jahren auf den beiden EPs „Sauna“ und „NYC Stuff And NYC Bags“. Das war melancholischer, elektronisch verfremdeter Pop, irgendwo zwischen James Blake und King Krule, der mit wenig bis gar keiner Stimme ausgekommen ist. Der Vondelpark-Song „Camels“ bleibt unerreicht und wird immer noch wärmstens als Ausgangspunkt für die Beschäftigung mit der Band empfohlen. Auf SEABED nehmen wir Vondelpark stärker in den Fokus und suchen den Song – nur finden wir ihn viel zu selten. „Blue Again“ und „Always Forever“ wirken vollkommen ziellos, einzig „Dracula“ bringt zu Beginn noch etwas Spannung rein. Dass sich der Sound der Londoner mittlerweile eher zu koventionelleren Strukturen gedreht hat, hören wir zudem auf der Neuauflage des EP-Songs „California Analog Dream“. In der neuen Version wird er seiner größten Stärke, der Atmosphäre, beraubt. Der Song selbst ist gut, aber nicht in der Lage, sich durch die unspannende Neukonstruktion zu tragen. Als spätes Highlight kommt das fantastische Experiment „Bananas (On My Biceps)“, das mit Samples und puckerndem Beat die Klasse der alten Vondelpark-Zeiten besitzt.

**1/2 Christopher Hunold

Westbam

Götterstrasse

Vertigo/Universal (VÖ: 26.4.)

Ein überraschend vitales Lebenszeichen von einer der prägenden Figuren der Raveszene. Auf der götterstraße trifft sich eine unglaubliche Anzahl von Gaststars: von Iggy Pop über Lil Wayne und Brian Molko bis Kanye West.

Über die Bedeutung von Maximilian Lenz alias Westbam für all das, was sich heute hinter der relativ schmucklosen Abkürzung EDM verbirgt, kann kein Zweifel bestehen. Vor allem, was Westbams Wirkung auf die europäische Musikszene betrifft. Nach einer langen Phase des Schweigens – sein letztes, halbwegs relevantes Album, Do You Believe In The Westworld, erschien im Jahr 2005 – präsentiert Westbam pünktlich zu seinem 30-jährigen Jubiläum als DJ, Produzent und umtriebiger Szenepapst eine Platte, die trotz aller rückwärtsgewandten Ausrichtung erstaunlich lebendig klingt. Rein musikalisch landet Westbam mit Götterstrasse – was, nur am Rande bemerkt, ein durchaus selten bescheuerter Titel für ein Album ist – genau dort, wo er seine größten Erfolge feierte: mitten in den 90er-Jahren. Ein schlauer Schachzug, denn die Wiederentdeckung dieses Jahrzehnts, das der Raving Society den großen Durchbruch gebracht hat, steht ja gerade wieder auf der Tagesordnung all der ziellos umhertreibenden Hipster, deren Geschichtsbewusstsein nicht weiter reicht als bis zum vorletzten Eintrag in ihrem Tumblr-Blog. Wobei man zugeben muss: Bei der Wahl seiner Gäste hat Westbam diesmal ein sehr gutes Händchen bewiesen. Allein dafür, Richard Butler von den Psychedelic Furs für die erste Single „You Need The Drugs“, einer Art moderner, sentimentaler Antidrogenhyymne, zu verpflichten, muss man dankbar sein. Trotzdem ist seine „Ode an die Nacht“, wie er Götterstrasse wohl selbst versteht, alles andere als frei von Schwächen. Daran ändern auch durchaus unterhaltsame Gastauftritte von Lil Wayne, Brian Molko, Iggy Pop und Kanye West nur wenig. An wohlkalkuliertem Aufwand wurde jedenfalls nicht gespart, Westbams Comeback im Verbund mit den richtigen Namen auch die nötige internationale Breitenwirkung zu verleihen. Das klingt manchmal herrlich altmodisch wie beim Titel „She Wants“, dem Bernard Sumner von New Order seine unverwechselbare Stimme leiht, manchmal aber auch nur berechenbar öde wie bei der Nummer „Götterstraße“ feat. Inga Humpe von 2Raumwohnung. Allerdings gebührt Westbam das Verdienst, neben Richard Butler auch Hugh Cornwell, der bis Ende der 80er-Jahre Sänger bei den Stranglers war und sich hier bei „A Night To Remember“ austoben darf, der weitgehenden Vergessenheit entrissen zu haben.

**1/2 Franz Stengel

Story S. 23

Auffällig oft …

… fällt in dieser Ausgabe der Name J Dilla. Dilla (bürgerlich: James Dewitt Yancey) war in den 90ern Gründungsmitglied der Detroiter Underground-HipHop-Band Slum Village und wurde in der Folge zu einem der einflussreichsten HipHop-Produzenten. Er arbeitete u. a. mit Common, A Tribe Called Quest und De La Soul. Der „Dilla-Beat“ ist zu einem geflügelten Wort geworden. J Dilla starb am 10. Februar 2006, drei Tage nach seinem 32. Geburtstag, in L.A. an Kreislaufstillstand.