Platten

„We’re so geil. You’re so geil. I’m so geil. Geil“

„Geil“, Bruce & Bongo, 1986

Betr.: Alles (neu) II: Redesign, Rebrush, Relaunch vulgo: Geilermachung von allem in diesem Heft Meine Fresse, war das ein Stress, bis das Heft 1/2013, das wir intern Die-Schöner- und-Geiler-Ausgabe nennen, fertig war. Ein renommiertes Marktforschungsinstitut (München-Berlin-Zürich-Mumbai-Paris) hat ermittelt, dass der Musikexpress jetzt genau 20 Prozent geiler als vorher ist. Es war so stressig, dass an dieser Stelle beim letzten Mal ein paar wichtige Neuerungen einfach nicht genannt wurden. Aber jetzt. Neu 1: Die Kommentare beim „Krieg der Sterne“ müssen sich nicht unbedingt auf die „Platte des Monats“, sondern können sich auf jede andere aus der Auswahl beziehen. Neu 2: Ein Kasten (diesmal auf Seite 90) informiert über auffällige Merkwürdigkeiten im Plattenteil. Neu 3: Die Singles werden jetzt auch mit Sternchen bewertet. Neu 4: Die „Key Tracks“ unter den Besprechungen fallen (wegen der großen Resonanz) weg. Dafür gibt es „Die Songs des Monats“ (Seite 95). Alt 50: Plattenmeister Koch

Horace Andy

Broken Beats

Echo Beach/Indigo (VÖ: 11.1.)

Reggae/TripHop: Gelungene Neubearbeitungen zeitloser Klassiker von Horace Andy.

Horace Andy verfügt über eine der wenigen, absolut unverwechselbaren Stimmen der vergangenen Pop-Jahrzehnte. Davon profitierten nicht zuletzt Massive Attack auf einigen ihrer Alben, auf denen der heute 61-Jährige als Gastsänger zu hören war. In letzter Zeit war es zwar etwas stiller um den Sänger aus Kingston, Jamaika geworden, aber seine Stimme hat darunter nicht im geringsten gelitten – wie er auf seinem neuen Album zeigt. Im Gegensatz zu den meisten vergleichbaren Remix-Projekten hat Horace Andy für Broken Beats die Gesangsspuren alle neu eingesungen. Seine Stimme klingt zwar ein wenig tiefer als früher, hat aber nichts von ihrer Magie verloren. Das Label Echo Beach hat für die Neuinterpretation der Horace-Andy-Klassiker einige alte Bekannte aktiviert wie zum Beispiel Rob Smith aka RSD, bekannt als Teil von More Rockers und Smith & Mighty, sowie die Wiener Soundtüftler von Dubblestandart, aber auch viele neue Gesichter wie Fenin und Oliver Frost verpflichtet. Entsprechend abwechslungsreich klingen die 15 Tracks auf Broken Beats. Dabei ist es nur verständlich, dass es Nummern wie „Skylarking“, „Bad Man“ und „Money Money“ gleich mit jeweils zwei oder drei Versionen auf das Album geschafft haben. So lassen sich die oft sehr unterschiedlichen Ansätze der einzelnen Produzenten besonders gut vergleichen. Aus den vielen gelungenen Bearbeitungen ragen neben der wunderbaren Dubblestandart-Version von „Money Money“ vor allem Rob Smiths ganz dem Erbe des klassischen Bristol-Sounds verpflichtete Interpretation von „Bad Man“ heraus, bei dem der MC Million Teeth zusätzlich ein paar Verse beisteuert. Sehr schön klingt zudem auch Eva Bs Dubversion von Oliver Frosts „Skylarking“-Aufnahme, die noch einmal eine ganz neue Klangperspektive eröffnet.

**** Franz Stengel

The Analog Session

April

Hot Elephant (Digital only)

Von Disco über Synth-Pop bis House: Italo-Legende Alexander Robotnick reitet auf analogen Synthesizern durch die Zeiten und Stile der elektronischen Musik.

Neulich die Aussage eines altmeisterlichen Elektronikpioniers gelesen: (sinngemäß) mit Hardware-Instrumenten zu spielen sei die wahre Sache, und das unschöne Wörtchen „handgemacht“ kam auch vor in dem Zitat. Jetzt nimmt die Generation von elektronischen Musikern aus den 70er-Jahren die Worte in den Mund, die die Gegner ihrer Musik seit 40 Jahren benutzen. So weit ist es gekommen. In dieselbe Kerbe haut die Idee, auf die der Altmeister der italienischen elektronischen Musik, Alexander Robotnick (aka Maurizio Dami), zusammen mit seinem Freund Ludus Pinsky gekommen ist. Mit Vintage-Synthesizern aus den 70er- und 80er-Jahren ein Album aufnehmen – genaugenommen ist es das zweite, das erste erschien 2010 noch unter den Namen der Protagonisten und sein Titel ist heute der Name des Projekts: The Analog Session. Der Mix aus Disco, Hi-NRG, Synth-Pop, Techno und House klingt wie nicht wenige aktuelle Alben der elektronischen Musik – in Post-Simon-Reynolds-Zeiten ist ohnehin schwer, zwischen alt und neu zu differenzieren. Der Unterschied ist das analoge Equipment, das selbst den modernistischeren Soundentwürfen auf dem Album ein eigenartiges Gefühl der Unvertrautheit verleiht.

***1/2 Albert Koch

Arbouretum

Coming Out Of The Fog

Thrill Jockey/Rough Trade (VÖ: 25.1.)

Die Doom-Folk-Stoner-Rocker aus Baltimore finden Gefallen an Zügelung und liefern ein Album ab, das sich gut für den Einstieg in ihre Welt eignet.

Der Vorgänger The Gathering war wunderbar, obwohl es Arbouretum dem Fan damit nicht leicht gemacht haben. Die Band ging bis an die Grenzen. Sie hielt mit einem Song von Jimmy Webb melancholisch inne, ließ einen kosmischen Donnerhall folgen, holte mit langen Soli alles aus sich heraus und explorierte überdies mit poetischer Sprache die Tiefen der Psyche. Jetzt unternehmen Leader Dave Heumann und seine drei Gefolgsmänner keinen verzweifelten Versuch, den Intensitätsgrad noch einmal zu steigern. Sie verlassen sich auf das, was sie können. Gleich zu Anfang, in „The Long Night“, werden für das Schaffen der Gruppe aus Baltimore typische Grundbausteine in verträglichen Dosen verabreicht. Heumann ist für sie alle verantwortlich: Für das bohrende, an den Stoner-Rock grenzende Gitarrenspiel mit einem echten Solo mittendrin, für die beschwörende, entfernt an Bryan Ferry erinnernde Stimme und für die mit Naturbildern gespickte Erzählweise, die alles immer ein wenig geheimnisvoll erscheinen lässt. In „The Promise“ erkennt man, dass Keyboarder Matt Pierce mittlerweile gut in diese Band hineingefunden hat. Er ergänzt Heumanns erdiges Spiel mit elektronischem Beiwerk. Die schönsten Songs sind die sanfteren. Man höre den wunderbar eingeflochtenen Country-Touch in „Oceans Don’t Sing“ und sei erneut begeistert.

****1/2 Thomas Weiland

Asaf Avidan

Different Pulses

Universal

Der israelische Folkrock-Superstar versucht, von seinem Image als Janis-Joplin-Wiedergänger wegzukommen.

Am Schluss packt er dann doch noch die Janis Joplin aus: jene überschnappende Vokalakrobatik, die Asaf Avidan weltweit bekannt gemacht hat. Davor ist unüberhörbar: Der 32-jährige Israeli will nicht mehr länger vor allem der Wiedergänger einer vor mehr als vier Jahrzehnten verstummten Bluesrockröhre sein. Avidan sucht auf seinem dritten Album DIFFERENT PULSES ein neues Klangbild, dazu hat er sich von den Mojos, seiner bisherigen Begleitband getrennt, und den Folkrock, vor allem dessen zweite Hälfte, den Rock, zu den Akten gelegt. Auch seine Stimme, die so schwerelos zwischen Falsett und tiefergelegtem Bass wechseln kann, turnt nicht mehr die Oktaven entlang, sondern schwebt entspannt durch die Songs, von denen die große Mehrheit nun Balladen sind. Dass Avidan hierzulande im vergangenen Sommer mit dem Wankelmut-Remix von „The Reckoning“ die Spitze der Charts erklommen hat, zeigte ihm eine andere stilistische Ausweichmöglichkeit auf: In manchen Stück wird die zwar zurückgenommene, aber immer noch erstaunliche Stimme von halbwegs modischen Elektro-Beats umspielt. Janis Joplin starb 1970, Asaf Avidan ist nun immerhin in den 90er-Jahren angekommen

***1/2 Thomas Winkler

James Chance And The Contortions

Incorrigible!

LADTK/Broken Silence

Fake-Funk und Rumpel-Jazz mit No-Wave-Ikone James Chance.

Als James Chance erstmals mit seiner Band The Contortions den New Yorker Underground betrat, war selbst Brian Eno hin und weg von dem, was ihm da um die Ohren flog. 40 Jahre später besitzt Chance immer noch sein krudes Stil-Mix-Gen. Und selbst The Contortions gibt es wieder – wenngleich durchweg besetzt mit französischen Musikern. Aber so ähnlich muss es sich damals angehört haben, als sich Chance tatsächlich bei manch Schwerhörigem den Ruf als „weißer James Brown“ erarbeitete. Obwohl er gleich zu Beginn von incorrigible! zum feisten Funk sogar einen James-Brown-Gedächtnisschrei raushaut, ist sein Organ immer noch so herrlich zerbeult wie sein Saxofon-Sound. Mit dem anarchistischen Gemüt seines Sax-Kollegen Ted Milton und der flippigen Hybrid-Jazz-Einstellung von Medeski, Martin & Wood zeigt dieser Hipster, dass er weiterhin in absoluter Topform ist. Und auch wenn dieser bunte Hund im Grunde noch nie richtig singen konnte, gelingt ihm das, was selbst Edel-Jazz-Sirenen nicht geschafft haben: er trifft die Billie-Holiday-Ballade „Yesterdays“ bis ins Mark.

**** Guido Fischer

Big Boi

Vicious Lies And Dangerous Rumours

Def Jam/Universal

Das zweite Solo-Album des Outkast-Rappers ist eine bunt bestückte psychedelische Pop-Collage.

Alle warten zunehmend sehnsüchtig auf das nächste Album von Outkast. Und was kommt zuerst? Das zweite Album von dem Mitglied, das nicht André 3000 ist. Da sind einige schon wieder enttäuscht. Aber das können nur diejenigen sein, die sich nicht genauer mit Big Bois Auftritt als Sir Lucious Left Foot vor zwei Jahren beschäftigt haben. Seitdem ist zweifelsfrei geklärt, dass der große Junge sehr wohl auf seinen eigenen Füßen stehen und selbstbewusst sein Ding drehen kann. Dieses Mal hat er die Single „Mama Told Me“ vorab als Appetizer gereicht, aber so richtig auf den Geschmack ist man deshalb nicht unbedingt gekommen. Ein Beat, der sich wie der in „When Doves Cry“ von Prince anhört, und Kelly Rowland als Sängerin machen zusammen nicht gerade eine spektakuläre Figur. Auf dem Album vicious lies and dangerous rumours ist der Track ein Puzzlestück, das sich problemlos in das Gesamtkonzept einer modernen Entsprechung von Sgt. Peppers lonely heart’s club band einfügt. Big Boi mischt alles bunt durcheinander. In „Thom Pettie“ spielt Rock eine Rolle, wie man es bei einem Song mit diesem Titel auch erwarten darf. In den drei mit Sarah Barthel von Phantogram entstandenen Aufnahmen kommt es zu Elektro-Transfusionen. Das schon auf dem Albumcover ersichtliche psychedelische Element spielt immer wieder eine Rolle in der Musik, etwa im Finale „Descending“ mit Yukimi Nagano von Little Dragon. Den Flow stört eigentlich bloß „In The A“ mit T.I. und Ludacris. Es ist der konventionellste Rap-Track auf diesem Album, und ausgerechnet der fällt merklich ab. Big Boi blüht offenbar erst dann auf, wenn er musikalisch aus der Reihe tanzen kann.

****1/2 Thomas Weiland

Brokeback

Brokeback and the Black Rock

Thrill Jockey/Rough Trade (VÖ: 25.1.)

Bei Doug McCombs heißt Postrock jetzt Black Rock.

Ältere werden sich erinnern: Postrock stellte eine höhere Rockmusik in Aussicht, ohne Rock, also ohne die lächerlichen Posen und die langweilige Liedform. Doug McCombs hat sich darum verdient gemacht, vor allem als Bassist bei Tortoise. Kürzlich hat er mit Eleventh Dream Day ein Comeback gefeiert und Pink Floyd gecovert. Manchmal spielt er angestrengten Jazz mit einer Gruppe namens Toe 2000. Postrock war ein großartiger Irrtum. Das hat Doug McCombs mit seiner eigenen Band herausgefunden. Brokeback hatten zur Jahrhundertwende Alben aufgenommen, die wie Doktorarbeiten betitelt waren: Field Recordings from Cook County Water Table und Morse Code in the Modern Age: Across the Americas. Es folgte Looks at the Bird als glühendes Bekenntnis zur Naturromantik im Gitarrenrock. Dann folgte leider fast zehn Jahre nichts mehr. Dennoch knüpft McCombs mit Brokeback daran an, als wäre nichts geschehen. Er hat neue Musiker um sich geschart von Bands wie Pinebender und Head Of Skulls für seine Ausflüge auf der Gitarre. Manche dauern anderthalb Minuten, andere elf. Es sind neilyounghafte Exkurse, acht vertonte Landschaftsbilder wie McCombs sie auf dem Cover zeigt: die Wüste und der blaue Himmel, eine Tankstelle und Telegrafenleitungen. „The Wire, The Rag And The Playoff“ und „Don’t Worry Pigeon“, so heißen die Programmstücke. Produziert hat alles John McEntire, auch er ein ehemaliger Postrocker.

***** Michael Pilz

Jake Bugg

Jake Bugg

Mercury/Universal (VÖ: 25.1.)

Mit dem 18-jährigen Wunderkind aus Nottingham und seinem Debütalbum fängt die Popmusik wieder von vorne an.

Glück ist eine rostige Gitarre. „Gonna sing you an old country song, from the heart, from the strings of this old rusty guitar“, knödelt Jake Bugg. Man fragt sich einiges, wenn man das hört: Können Gitarren rosten? Wieso ist ein 18-Jähriger so fasziniert vom Alter? Weshalb feiert alle Welt ihn wie einen Erlöser? Warum feiert man im Geiste mit? Wieso, weshalb, warum? Jake Bugg blickt einem mürrisch rauchend von seinem Debütalbum entgegen, zünftig mit Gitarrenkoffer. 14 Songs hat er geschrieben und gesungen, und kein einziger ist Schrott, alle sind rundherum gelungen. Da ist „Trouble Town“, mit dem er vor knapp einem Jahr bei YouTube aufgetaucht war und die Menschheit an die Eisenbahndynamik früher Sun-Singles erinnert hatte. Es gibt Hymnen übers Kiffen unter Freunden („Two Fingers“), Klagelieder über unratsame Drogen („Seen It All“) und Zeilen wie „Someone told me a girl I liked, fell in love and all I did was cry, woahoo!“ Es stimmt schon, dass Jake Bugg singt wie ein Everly Brother, ein erkälteter Donovan, ein Don McLean auf Helium. Aber das heißt nicht, dass er nichts Eigenes oder etwas Falsches täte. Ein Song, „Fire“, knackt und knistert, weil er ihn mit seinem iPhone aufgenommen hat. Was kann Jake Bugg dafür, dass iPhones heute klingen wie Transistorradios aus den frühen 60er-Jahren?

****1/2 Michael Pilz

Story S. 26

Courteeners

Anna

V2/Coop/Universal (VÖ: 1.2.)

Die Band aus Manchester bestückt auf dem dritten Album ihren Indie-Rock mit klassischen Britpop-Ingredienzen, steckt aber immer noch in ihrer Findungsphase.

Die Insel-Gitarrenbands, die im vergangenen Jahrzehnt groß gewesen sind, bauen ab oder lösen sich auf, aber die die Courteeners sind noch da und können sich immer noch etwas ausrechnen. Das war so keineswegs zu erwarten, da sie ihren Ruf mit ihrem Debütalbum St. Jude im Jahr 2008 praktisch schon verspielt hatten. Die Musik war der reinste Libertines-Abklatsch und die Typen kamen genauso herüber, wie man sich nordenglische Arbeiterjungs so vorstellt: Bier in der linken Hand, das iPhone mit Fußballergebnissen in der Rechten und immer einen unkorrekten Spruch gegenüber Mädchen auf den Lippen. Mit dem Nachfolger Falcon zwei Jahre später hatte sich die Band mit Erfolg neu erfunden, die Songs waren besser und seriöser und mit dem treibenden Rhythmus in „You Overdid It Doll“ trafen sie voll ins Schwarze. In Deutschland hat davon kaum jemand etwas bemerkt, das Album war nur als Import zu haben. Aber man hat den Courteeners trotzdem einen dritten Anlauf gestattet, der mit „Are You In Love With A Notion?“ sehr gut beginnt. Man weiß ja, dass Morrissey für diese Kollegen eine Schwäche hat und wenn man hört, wie Sänger Liam Fray mit wohlformulierten Sätzen ins Gewissen spricht, weiß man, warum. In „Welcome To The Rave“ ist es anders. Da wird die Melodie mit vollem Rhythmuseinsatz so herausgeschleudert, wie man es manchmal bei Maximo Park beobachtet. Auch dem stampfenden Beat aus „Personal Jesus“ von Depeche Mode können die Herren etwas abgewinnen. Die Courteeners haben sich immer noch nicht entschieden, was genau sie machen wollen. Aber über Optionen verfügen sie zuhauf. Und das ist ja schon mal besser als gar nichts.

**** Thomas Weiland

Darkstar

News From Nowhere

Warp/Rough Trade (VÖ: 1.2.)

Die erste von zwei größeren Neuverpflichtungen des Warp-Labels für das Jahr 2013: News From Nowhere beginnt dort, wo das Darkstar-Debütalbum seinerzeit aufgehört hat. Mit bezaubernden und verspielten Elektro-Pop-Geschichten.

Bevor es mit den Post-Everything-Britbasslern Mount Kimbie im Sommer den Königstransfer ins Rennen schicken wird, hat das englische Traditionslabel Warp das Londoner Trio Darkstar von Hyperdub abgeworben. Denen ist vor gut zwei Jahren mit North ein herausragendes Album gelungen, das mit Dubstep und UK Funky im Rücken eine Reihe entrückter Popsongs präsentierte und der Bassmusik eine neue Nuance verpasste. Für das zweite Darkstar-Album News From Nowhere wurde nicht viel an dieser Formel verändert, stattdessen werden die Songs noch mehr Songs und die Stimmung wird wesentlich heller. „Wake me up, wake me up“, heißt es mehrfach im Intro. Hinaus aus dem Traum – auf in das Nirgendwo. Der Weg dorthin führt über sanfte Elektro-Pop-Beats und Rummelplatz-Melodien, die an die älteren Tracks des Briten Four Tet erinnern. Gerade in Songs wie „Timeaway“, der ersten Single, in der ein leicht melancholisch schunkelndes Musikgerüst von der verfremdeten Stimme James Butterys begleitet wird, wird deutlich, dass ein grummelnder Bass das Letzte ist, wofür diese Band stehen sollte. Buttery ist seit dem Jahr 2010 festes drittes Mitglied der Band und war erstmals von Beginn an in die Albumaufnahmen bei Darkstar involviert. „Amplified Ease“ ist dann schon so viel bunt bepinselter Experimental-Pop, dass der Vergleich mit Animal Collective alles andere als mutig wäre. Vor drei Jahren bei ihrem ersten Album sprachen Darkstar noch davon, nicht genau zu wissen, wohin sie die musikalische Reise führen würde. Ob das „Nowhere“ ihr Ziel ist? Man weiß es nicht, wenn dort aber solche Alben entstehen wie dieses, scheint die Luft ganz gut zu sein.

**** Christopher Hunold

Diverse

Dial T For Tapete – 10th Anniversary Compilation

Tapete/Indigo

Indie-Pop: Bilanz einer unwahrscheinlichen Erfolgsgeschichte.

In den Liner Notes zu DIAL T FOR TAPETE bringt es Tele-Sänger Franceso Wilking auf den Punkt: Die Don Quixotes des Indie-Rock sind es, die Tapete machen und die auf Tapete herauskommen. Als das Label 2002 von Dirk Darmstaedter gegründet wurde, dachte man: „Jetzt? Ein Label gründen? Da hat wohl einer genug Geld mit den Jeremy Days verdient, um sich nicht um ökonomischen Selbstmord sorgen zu müssen.“ Nun muss man bilanzieren: Rufrettung auf ganzer Linie gelungen. Zehn Jahre und mehr als 200 Platten später kann man auf diesen vollgepackten zwei CDs nachhören, dass Tapete nicht nur zur allerbesten Adresse geworden ist für einheimischen (Tele, Superpunk, Anajo, Moritz Krämer) und internationalen (Hellsongs, The Horror The Horror, Josh Ottum, Maplewood) Pop und Rock, sondern auch Schutzhafen für verdiente Pioniere (Fehlfarben), längst vergessene Lieblingsbands (Samba) und nicht kaputt zu kriegende Entertainer (Bernd Begemann). Im Überblick fällt allerdings auch auf: Abgesehen von Mobylettes, Herpes, Hidalgo (mit Frauen) und Schwefelgelb (Synthie-Pop) scheint Tapete nur Männer zu verpflichten, die eine Gitarre geradehalten können.

****1/2 Thomas Winkler

Delphic

Collections

Chimeric/Coop/Universal (VÖ: 1.2.)

Die Klassenbesten der Manchester-Schule haben sich auf ihrem neuen Album zu viel vorgenommen.

Weil New Order in den 80er-Jahren die vielleicht beste Band der Welt gewesen waren, hatte vor zwei Jahren niemand etwas gegen Delphic einzuwenden: Sollten doch auch die Jüngeren ihre Ausgabe von New Order haben. Eine Band, der man die Stadt, in der sie wirkte, auch in der Musik anhörte. Acolyte, das erste Album von Delphic, klang durchweg nach Manchester und blauen Montagen, nach Factory Records und 24-Stunden-Partymenschen. Jetzt erscheint das zweite. Es klingt nach zwei Jahren harter Arbeit. Dabei hatte es im Sommer des vergangenen Jahres eine hoffnungsvolle Vorahnung gegeben: „Good Times“ war eine der amtlichen Olympiahymnen, ein Stück schwungvoll komponierter Euphorie. Jetzt fehlt ausgerechnet dieser Song auf Collections. Es habe zu sehr nach Acolyte geklungen, fanden Delphic. Übrig bleiben zehn bemühte Songs. Zuletzt hatten sie einen Tonmeister vor Ort beschäftigt, die Elektrofachkraft Ewan Pearson. Diesmal reisten sie mit DFA-Produzent Tim Goldsworthy nach Bristol, anschließend nach Atlanta zu Ben Allen, der bevorzugt Freak-Folk formatiert. Von Bristol hört man nichts. Atlanta kann man ahnen auf diesem ambitionierten Album. Alles wurde festgehalten: Chöre, Anrufe von Freundinnen, sämtliche Synthesizer. Als New Order hatten Delphic einfach Indie-Pop als Tanzmusik gedacht. Mehr hat keiner verlangt.

*** Michael Pilz

Story S. 20; CD im ME S. 19

Diverse

Pop Ambient 2013

Kompakt (VÖ: 21.1.)

20 Jahre Kompakt. Das Jubiläumsjahr des Kölner Electronica-Labels wird feierlich eröffnet. Mit einer neuen Ausgabe der hervorragenden Reihe Pop Ambient.

Mal wieder POP AMBIENT. Auch wenn die einzelnen Beiträge auf der aktuellen Ausgabe der Reihe des Kompakt-Labels im Rahmen der Möglichkeiten höchst unterschiedlich ausfallen, geben sie in ihrer Gesamtheit doch ein schönes Bild ab vom Variationsspielraum des Genres. Von den kontemplativen Eno-ismen Leandro Frescos in „Cuando El Sol Grita La Manaña“ bis hin zum nachgerade dramatischen „Recombination“ von Mikkel Metal. Dazwischen treibt „Kurator“ Wolfgang Voigt „Sully“, dem Track seines Label-Kollegen Michael Mayer, die Bassdrum aus und malt auf eigene Rechnung mit „Rückverzauberung 7“ Klanglandschaften von Caspar-David-Friedrich’schen Ausmaßen in den Himmel über Köln. Und ganz zum Schluss der Compilation kommt dann tatsächlich so etwas wie Pop ins Spiel. Bei Terrapin, dem neuen Projekt von Jörg Burger und Matias Aguayo und ihrer Coverversion des psychedelischen Folk-Songs „Cirrus Minor“ von Pink Floyd. Auch das Original aus dem Soundtrack zum Film „More“ aus dem Jahr 1969 kam ohne Schlagzeug aus – wenn das mal nicht das untrügliche Erkennungszeichen eines Pop Ambient-Tracks ist. Die Veröffentlichung der aktuellen Ausgabe der hervorragenden Compilation-Reihe markiert den Beginn des Jubiläumsjahres in Köln. Das Kompakt-Label feiert seinen 20. Geburtstag.

**** Albert Koch

Dutch Uncles

Out Of Touch In The Wild

Memphis Industries/Indigo (VÖ: 18.1.)

Nervosität als roter Faden: Wer sind die cleversten Indie-Popper im Land? Dieses Fivepiece aus Manchester erhebt Ansprüche auf höhere Plätze in den Hitlisten für komplexe Klangwerke.

Ach ja, diese schöne Musik aus den letzten Löchern der Verschwendung. Eigentlich ist das Genre Defying ja auch schon wieder ein Genre für sich, ein gar nicht mehr junges zudem. Dutch Uncles, das Fivepiece aus Manchester, zählt zu seinen ambitioniertesten und ruhelosesten Vertretern seit der Bandgründung im Jahr 2006. Die Songs von Dutch Uncles verraten das Studium der Prog-Rock-Historie und neuerer Kammerpop-Entwicklungen, eine gewisse Vorliebe für das Kribbeln im Funk, die lyrische Grandezza einer Kate Bush, die cleveren Klangstrukturen von Radiohead – all das und noch einiges mehr will nun in Beiträgen auf OUT OF TOUCH IN THE WILD zwischen drei und sechs Minuten Platz finden. Man kann sich schwer vorstellen, dass dieses dritte Album der Band ohne heftige Dispute im Studio, wochenlanges Hin- und Herschieben von Songparts und die abschließende Begutachtung durch kritische Soundsachverständige entstanden ist. Die Nervosität der Beteiligten ist bis in die letzten Soundschichten dieser Platte zu spüren, sie stellt sozusagen den roten Faden, der sich durch die Songs auf OUT OF TOUCH IN THE WILD zieht. Das reicht von den Beats und Breaks über irrlichternde Pianomelodien zum leicht strapaziösen Falsettgesang Duncan Wallis. Man wird von Hördurchlauf zu Hördurchlauf mehr Details und Sound-Verliebtheiten auf diesem Album entdecken, sich in die eine oder andere Melodie vergucken und doch nicht so richtig Freund mit diesen Uncles werden. Wie müde schöne Musik doch auch machen kann.

*** Frank Sawatzki

Esben And The Witch

Wash The Sins Not Only The Face

Matador/Beggars/Indigo (VÖ: 18.1.)

Das zweite Album der Neo-Goth-Dreampopper aus Brighton.

Schon gut, dass die Welt zu jedem Zeitpunkt ein paar konkrete Untergangsszenarien bereithält, sonst könnte der Pop nicht so schön reagieren mit abstrakten, ungreifbaren Eskapisten-Genres wie Dream Pop und Neo-Goth. Die ermöglichen doch so wunderbare Fluchten aus der sogenannten Realität und vor Gedanken an eine Zukunft, die längst ihre Verheißungen verloren hat. Zum Beispiel: VIOLENT CRIES, das Debütalbum von Esben And The Witch, das war so ein Eskapistending. Es wurde im Januar 2011 veröffentlicht – zu einer Zeit, in der die Zukunft sicherlich ernsthaft bedroht war von diversen Szenarien, die wir in der Zwischenzeit natürlich alle wieder vergessen haben – bis auf die Evergreens Nahostkonflikt und Finanzkrise(n). Das Schöne an Esben And The Witch ist, dass ihre Musik zu jedem Zeitpunkt mit ihrer Artifizialität hausieren geht und nicht um vermeintliche Poptugenden wie Authentizität bemüht ist. Es ist reinste Kunstmusik, und das will sie uns auch mit jeder Note sagen. Fast genau zwei Jahre nach dem Albumdebüt kommt das Trio aus Brighton mit seiner zweiten Platte Wash The Sins Not Only The Face. Das Album geht einen komischen Weg. Es beginnt mit ätherisch-verhuschtem Dream Pop, den man von Esben And The Witch wohl auch so erwartet, bei dem man aber nicht unbedingt Songs erwartet, sondern eher Sounddesign. In der Mitte wird es immer konkreter, mit der Folge, dass manche Passagen der ersten Single „Deathwaltz“ nicht mehr sehr weit weg zu sein scheinen vom Mainstream-Goth-Pop, wie etwa dem letztjährigen Eurovision-Song-Contest-Gewinner „Euphoria“. Zum Schluss hin wird es dann wieder ätherisch-verhuscht. Dazwischen ist Platz für einen Song wie „The Fall Of Glorieta Mountain“, ein wundersames Stückchen Goth-Folk.

**** Albert Koch

Story S. 10

Everything Everything

Arc

RCA/Sony Music (VÖ: 25.1.)

Die englischen Art-Rocker zeigen sich erneut experimentierfreudig.

Einige hatten sich am Anfang mehr erwartet. Die Herrschaften beim Geffen-Label zum Beispiel, sie haben den Vertrag mit der Band nach nur einem Album nicht verlängert. Alle Singles blieben in den tiefsten Tiefen der britischen Charts stecken, das war der Todesstoß. Nach künstlerischem Eindruck allein geht ja keiner mehr. Aber auf den kommt es bei Everything Everything unbedingt an. Jeder Song ist ein kleines Königreich für sich. Das ist auch jetzt noch so, da sie es bei einem anderen Major versuchen. „Armourland“ beginnt mit einem eckigen elektronischen Beat und erreicht mit einem warmen Refrain den Höhepunkt. Im „Duet“ kommen praktisch nur Streicher und Chorgesang vor. Das auch bei Foals zu beobachtende, von Afrobeat und Math-Rock beeinflusste Gitarrenspiel ist in „Choice Mountain“ zu hören. Ganz anders „Radiant“, hier stößt schweres Schlagzeug auf eine fernöstlich anmutende Gitarrenmelodie. Sänger Jonathan Higgs beherrscht vom Flüstern bis zum Falsett alle Stimmlagen und trägt mit zur Flexibilität der Band bei. Mit der übertreibt es das Quartett dieses Mal nicht.

**** Thomas Weiland

FaltyDL


Hardcourage

Ninja Tune/Rough Trade (VÖ: 25.1.)

Drew Lustman, der einst britischst klingende Amerikaner der Szene, entwächst dem 2Step und schickt eine überzeugende Light-Version von verspieltem Chicago House ins Rennen.

Es ist durchaus berechtigt und okay, die zahllosen 12-Inches und EPs von Drew Lustman alias FaltyDL etwas besser zu finden als die beiden Alben, die der Amerikaner bislang unter das Volk brachte. Sein vom Afro-Funk beeinflusster Mix aus Garage-House und 2Step gibt sich auf 12 Zoll etwas experimenteller und direkter, will mal mit Burial durch die Nacht ziehen, mal Smilies auf dein T-Shirt malen. Er gibt jedem Label seinen Stempel und jeder A-Seite seinen Hit. Das Ausformulieren der Ideen funktionierte allerdings auf der letzten Platte You Stand Uncertain überraschend gut. Hardcourage, Album Nummer drei, ist nochmals eine Spur introvertierter und ruhiger. Der gute Mann soll das Album unter massivem Einfluss von Endorphinen produziert haben: Er ist schwer verliebt. Mit dem Glücksgefühl verabschiedet er sich nahezu gänzlich vom 2Step-Gestus der Vorgänger und bedient sich mehr beim Chicago House, was vor allem beim Opener „Stay I’m Changed“ und dem straighten Beat in „Uncea“ hörbar ist. Das Album kommt ohne den Staub und Schmutz der Mid-90s aus, fährt in „For Karme“, dem Track, den er seiner Auserwählten widmet, in außerirdische Sphären und klingt nach dem Space-Elektro von Kuedo und Konsorten. Der Sample-Katalog von FaltyDL ist ausbaufähig, er nutzt seit einigen Jahren die gleichen Schnipsel und Vocals für unterschiedliche Tracks, so auch im eigentlich hervorragenden „Straight & Arrow“. Das soll dann auch das größte Problem der Platte sein, die zwar weder auf dem unverschämt hohen Level des Vorgängers agiert, noch mit den EPs der vergangenen Jahre konkurrieren kann, aber in knapp 50 Minuten genug Zeit hat, um den Stilwandel zur vollen Zufriedenheit rüberzubringen.

**** Christopher Hunold

Foxygen

We Are The 21st Century Ambassadors Of Peace & Magic

Jagjaguwar/Cargo (VÖ: 25.1.)

Ein kleines Pop-Meisterwerk zwischen Velvet Underground und Psychedelic.

Ihre Obsession für das Brian Jonestown Massacre haben Jonathan Rado und Sam France alias Foxygen auf ihrem zweiten Album weitgehend abgelegt. Im Vergleich zu ihrem Debüt Take The Kids Off Broadway scheinen ihre neuen Helden jetzt eher Velvet Underground zu sein, gewürzt mit Abstecher in Richtung Psychedelic. Produzent Richard Swift hat das Duo auf den richtigen Weg gebracht und ihnen alle Flausen ausgetrieben. Das Ergebnis gibt ihm recht. Dass das Duo Songs schreiben kann, ist seit ihrem Debüt bekannt, doch diesmal scheinen ihnen die Stücke besonders leicht aus der Feder geflossen zu sein. Ihr Gespür für die Dramaturgie und Struktur, das gute Songs auszeichnet, hat sich deutlich weiterentwickelt. In manchen Momenten, wie zum Beispiel bei der etwas zu niedlich geratenen Psychedelic-Hymne „San Francisco“ schießen Foxygen zwar über das Ziel hinaus, doch das spielt keine Rolle, solange die beiden mit Songs wie „Shuggie“ die kleinen Ausrutscher wieder ausbügeln. Zu ganz großer Form läuft das Duo kurz vor dem Ende des Albums beim Titelsong „We Are The 21th Century Ambassadors Of Peace And Magic“ auf. Es ist eine mit allerlei schönen Zitaten angereicherte Rock’n’Roll-Hymne, an der auch Alan Vega von Suicide seine Freude haben dürfte.

**** Franz Stengel

Friska Viljor

Remember Our Name

Crying Bob/Cargo (VÖ: 18.1.)

Mit dem Folk-Pop auf ihrem fünften Album beleben die Schweden den toten Winkel zwischen Mumford & Sons und Beirut.

Ach ja, möchte man stöhnen, hat man doch alles schon gehört. Folk-Pop, ein bisschen schräg, aber immer eingängig. Ein paar bärtige Hipster, die überall dort geklaut haben, wo man mit einem Interrail-Ticket so hin kommt. Aber dann legen Joakim Sveningsson und Daniel Johansson das alte Erfolgsrezept noch einmal auf, drehen hier an einem Schräubchen, kippen dort einen Schalter um, und beleben mit REMEMBER OUR NAME den toten Winkel zwischen Mumford & Sons und Beirut. Dass dort erstaunlich viel Platz geblieben ist, weisen Friska Viljor aus Stockholm mit ihrem fünften Album nach, das nicht nur ihr bestes, sondern auch ihr abwechslungsreichstes geworden ist: Durch „Easy Is Hard“ klimpert eine Mandoline, lustig hoppelt der „Stalker“ dahin, in „Flageoletten“ klagen Klarinette und Schifferklavier, mal hupt es osteuropäisch, dann trötet es irgendwie französisch, in „Until The End“ singt ein Kinderchor ein großes „Lala“ und der Titelsong taucht per Orgel ab ins Sakrale. Ein wenig klingen Friska Viljor auf REMEMBER OUR NAME immer wie eine Kindergartengruppe, die in einem Musikaliengeschäft sich selbst überlassen wurde. Mittlerweile allerdings wurde auch noch der Sicherungskasten geknackt und durch „Boom Boom“ pluckern ein paar elektronische Beats. Das allerdings ist der einzige etwas schwächere Moment eines Albums, das einen vor Freude seufzen lässt.

***** Thomas Winkler

CD im ME S. 19

Adam Green & Binki Shapiro

Adam Green & Binki Shapiro

Rounder/Universal (VÖ: 25.1.)

In barockem 60s-Folk verhaftetes Duettalbum des New Yorker Freigeists und der Sängerin von Little Joy.

Adam Green kann mittlerweile machen, was er will. Mit der großen internationalen Karriere wird’s sowieso nichts mehr, auch sein Erfolg in Deutschland beschränkte sich auf lediglich ein Album, Gemstones (2005). Seitdem veröffentlichte er drei weitere Platten, die das Niveau seines Hitalbums zu keiner Stelle deutlich unterschritten, postet regelmäßig mit Philosophie spielenden Quatsch auf Facebook und stellt allerhand abstruse Bilder – unter anderem den Künstler selbst in diversen Phasen der Onanie zeigend – auf sein Fotoblog thelakeroom.com. Jetzt wollte er eben ein Duettalbum aufnehmen, was angesichts seiner offensichtlichen Vorbilder Frank Sinatra und Lee Hazlewood überhaupt nicht überrascht. Ebenso wie die Musik darauf. Formelhaft waren Greens Songs immer („Emily“ beispielsweise folgt derselben Standardstruktur wie „Beinhart“ und „Resi, i hol di mit mei’m Traktor ab“) und sie sind es auch im Zusammenspiel mit Binki Shapiro, die man als Mitglied von Little Joy, der Band um Stroke und Green-Spezi Fabrizio Moretti, kennen kann. Mit viel Hall und Engelschören ausgestatteter 60s-Folk ist das, barocker Pop, hier und da gibt es Ausflüge in Psychedelia und Surfrock. Da das Duo im Vorfeld der Aufnahmen jeweils mit einem Beziehungsende klarkommen musste, drehen sich die Texte um Liebe und deren Verlust. Auch hier keine Überraschungen. Doch Green weiß, dass er Spannung nie lange aufrechterhalten kann. Und so wendet er auch hier seinen alten Trick an: Bevor Langeweile aufkommt, ist der Song vorbei. Acht der zehn Stücke erreichen die Drei-Minuten-Marke nicht. Was diese Platte allerdings davon abhält, so kurzweilig wie Greens bisheriges Werk zu sein, ist die Ermangelung mindestens eines Hits. Der eine Haken, der eine Hook fehlt.

*** Stephan Rehm

CD im ME S. 19; Fotoalbum ME 1/2013

Guided By Voices

The Bears For Lunch

Fire Records/Cargo

Alternative: Das dritte Album innerhalb eines Jahres zeigt alle Stärken und Schwächen der Band aus Ohio.

Robert Pollard befindet sich anscheinend im kreativen Rauschzustand. Dabei ließ es der Kopf der Lo-Fi-Indie-Rocker Guided By Voices nach deren Wiedervereinigung 2010 offen, ob es über Konzerte hinaus auch ein neues Album geben würde. Nun sind es gar drei geworden, dazu kommen noch zwei Solo-Alben Pollards. Aber das ist nichts Neues, seit sieben Jahren liefert der Sänger und Songwriter seine eigenen Werke regelmäßig im Doppelpack ab. Da häuft sich sehr viel Material an, und man muss wohl überirdische Fähigkeiten besitzen, um zu verkennen, dass dieser Veröffentlichungsirrsinn nicht auch einige unterirdische oder zumindest durchschnittliche Songs mit sich bringt. Von diesem Makel bleibt auch THE BEARS FOR LUNCH mit seinen 19 Stücken nicht verschont, und so klingen manche Songs wie Skizzen, einfach in den Raum geworfene Ideen, Home-Recordings mit sprödem Charme. Leider mit der Folge, dass GBV das Potenzial der anmutigen Akustiknummer „Waking Up The Stars“ und dem nur vom Piano getragenen Stück „The Military School Dance Dismissal“ und anderen Songs nicht ausschöpfen. Und was nur hätten sie aus „Have A Jug“ machen können, dessen klasse Melodie nach 1:09 Minuten einfach versandet. Die Zeit zum Ausarrangieren hätte sich die Band aus Ohio nehmen sollen, anstatt sie mit dem völlig uninspirierten „Dome Rust“ zu verschwenden. Aber diese Kritik trifft lange nicht auf alle Stücke, die gewohnt zwischen Einflüssen wie The Beatles und R.E.M., Riff-Geschredder, Rumpel-Drums, anmutigen Balladen und schroffem Indie-Rock pendeln, zu. Immer, wenn Guided By Voices Sorgfalt walten lassen, sind sie zu Großtaten fähig. „Waving At Airplanes“, dominiert von Akustikgitarre und Chorgesang, gehört wie das furiose „King Arthur The Red“ zu den Höhepunkten des Albums. Es hätten mehr sein können.

**** Sven Niechziol

Petra Haden

Petra Goes To The Movies

Anti/Indigo (VÖ: 18.1.)

Und noch ein neues Genre: Alternative A cappella.

A-cappella-Gruppen heißen Bauchklang, Mundwerk oder Singer Pur. Ihre natürliche Umgebung sind die Kleinkunstbühnen. Man wird unbegleitete Gesänge nie mehr hören können, ohne an lustige Stimmakrobaten und ihr sektseliges Publikum zu denken. An die Hits der 50er, 60er, 70er, 80er und 90er im heiteren Biosound, ohne industrielle Instrumente. Petra Haden singt bekannte Kinomelodien. Aus Italowestern, amerikanischen Komödien, Dramen und Schmonzetten, aus James-Bond-Filmen, von „Psycho“ bis „The Social Network“. Sie singt mit sich selbst auf zahlreichen Gesangsspuren. Sie ahmt gestopfte Bläser nach und wild gewordene Geigen, alles sehr beeindruckend und kunstgewerblich. Aber vielleicht ist es ungerecht, das so zu hören. Petra Hadens Vater Charlie hat den Free Jazz miterfunden, schon als kleines Mädchen sang sie fröhlich nach, was aus dem Probenkeller und den Platten kam. Später wirkte sie in tadellosen Bands wie The Decemberists und That Dog mit. Sie sang mit Sunn O))) und Beck. 2005 nahm sie bereits den Rockklassiker Sell Out von The Who als A-cappella-Album auf. Jetzt also Soundtracks: Selbstverständlich stellt sich Petra Haden dabei in die ehrwürdige Tradition der Vokalpolyphonie, des Doo Wop und der King’s Singers und nicht in eine Reihe mit den Barbershop-Bands und den Flying Pickets. Dennoch: Man kommt sich vor wie im Varieté.

** Michael Pilz

I Am Kloot

Let It All In

PIAS/Rough Trade (VÖ: 18.1.)

Das Trio aus Manchester serviert einmal mehr hochwertigen Indie-Pop.

Die Songs von I Am Kloot springen einen nicht durch die Vordertür an. Sie schleichen sich von hinten an, packen einen und lassen dann nicht mehr los. Das ist auf LET IT ALL IN nicht anders als auf den fünf Studioalben vorher. Auch diesmal hat Sänger John Bramwell zwar tiefgründige, aber keine spektakulären Lieder geschrieben. Das und die Tatsache, dass sie wenig für irgend einen Hype taugen, mag ein Grund sein, warum das Trio aus Manchester ähnlich lange wie seine Freunde von Elbow (Guy Garvey ist hier wieder Produzent) in England kaum wahrgenommen wurde. Mittlerweile sind Elbow olympiatauglich und I Am Kloot so anerkannt, dass sie auch mal auf der Nominierungsliste für den Mercury Prize stehen. Auf LET IT ALL IN justieren die Nordengländer ihren Sound nicht nennenswert um, akustische Balladen und melodiöse Midtempo-Nummern prägen das Album. Unter den zehn Songs befinden sich unscheinbare, aber makellose Schönheiten wie „Even The Stars“, „Masquerade“ und „Some Better Day“ mit seinen dezent eingewobenen Bläsern. Der auffälligste heißt „These Days Are Mine“, eine psychedelische Nummer mit exotischen Klängen und Bläsern, die an die Zeit erinnern, als sich die Beatles auf ihrem Indien-Trip befanden. Und dann sind da einmal mehr die bittersüßen Themen Zweifel, Angst und Vergänglichkeit, die Bramwell – wie in „Bullets“- in Worte zu kleiden vermag wie kaum ein anderer Songwriter: „… I kept the note you never wrote, and put it with the rest I haven’t got … You keep your mind like a cheap hotel, somewhere you stay but never stuck …“

**** Sven Niechziol

Wiz Khalifa

O.N.I.F.C.

Atlantic/Warner

Der Rapper aus Pittsburgh sieht sich als Spitzenkraft, hat aber immer noch mit alten Schwächen zu kämpfen.

Nein, Wiz, das geht wirklich nicht. Du musst doch wissen, dass Cover-Designs eine entscheidende Rolle bei der Bewertung des Künstlers spielen. Wie kann man seinen tätowierten Oberkörper zeigen, über den arrogant ein weißer Pelz mit schwarzen Punkten hängt? Diese seltsame Hose, die höchstens von Zirkusdompteuren getragen werden darf, komplettiert das Geschmacksdesaster. Soll so der „einzige, Nigga‘ in der ersten Klasse“ aussehen, der mit der Abkürzung im Albumtitel gemeint ist? Mit diesem Outfit wirst du schleunigst aus dem Flieger verwiesen. Ist ja schön und gut, dass du mit „Black And Yellow“ die Spitze der amerikanischen Charts erreicht hast und mit Rolling Papers auch erfolgreich warst. Da feiert man schon mal, klar. Aber jetzt geht es wieder los und da hatte man sich mehr Bodenständigkeit gewünscht. Wenn man dir so zuhört, hat man ja schon das Gefühl, dass du dich auf das Wesentliche konzentrieren konntest. Deine Produzenten I.D. Labs, Pharrell Williams, Stargate und Drumma Boy halfen dir dabei, sie haben dich in einen futuristischen Space-Trip verwickelt. Die Sänger Akon, Courtney Noelle und The Weeknd sind eine gute Wahl. Leider bleibt dein eigener Vortrag monoton. Du erzählst immer noch zu viel über die Vorzüge von Rauchwaren und von deinen Kumpels von der Taylor Gang. Hör dir mal Frank Ocean und Kendrick Lamar an, die haben die Latte in puncto Textgehalt gerade um einiges höher gelegt. Ein Lob bekommst du aber für „No Limit“. Ein Song, der neun Minuten dauert und mit tollen Wechseln aufwartet, ist bei Rappern wahrlich nicht die Regel. Dieses Ding ist wirklich erstklassig.

***1/2 Thomas Weiland

Felix Kubin

Orphée Mécanique

Intermedium Records (VÖ: 25.1.)

Ein elektronischer Comic aus der Unterwelt der Geräusche, der mit Orpheus und Eurydike spielt und in einer neuen Geschichte endet.

„Erinnert ihr euch noch an den Lärm der Welt, den Lärm der Straßen, der U-Bahnen, der Elektronik-Industrie, der Wälder und Flüsse? Jetzt in dieser unerträglichen Stille sehnt ihr euch danach zurück, nicht wahr?“ Wenn Lars Rudolph diese ersten Zeilen spricht, hat das was von Klaus Kinski, eine seltsame Zärtlichkeit klingt in den Worten mit, sie umkreist das Thema dieses Projektes: Ist das Leben da draußen nicht immer dann voller Liebe, wenn man sie irgendwo weit weg (oder weit unten) so sehnsüchtig sucht? Welche Gedanken spielt uns die Erinnerung in unserer Wahrnehmung zu? Das könnten Fragen sein, mit denen sich der Elektro-Exzentriker und Hörspielmacher Felix Kubin in seiner Neuinterpretation des Orpheus-Mythos beschäftigt, basierend auf Dino Buzzatis Comic „Orphi und Eura“ (1968) und seinem eigenen Hörspiel ORPHEUS‘ PSYKOTRON (2006), aufgezeichnet für den Bayerischen Rundfunk. Orpheus ist ein gefeierter Popstar, der Gedankenströme in Klänge verwandelt. Welches „Hitpotenzial“ das haben kann, hören wir in „Gespenster“, einer Art Pop-Art-Totenschau, die aus den Giftschränken des Düsseldorfer Plan entwendet worden sein könnte. Kubin switcht geschickt von der Erzählung zu den Geräusch- und Pop-Sequenzen und lässt so eine neue Geschichte entstehen, die auf den verschiedenen Perspektiven basiert, die über 50 Minuten mehr und mehr Konturen annehmen. Mit der „Schlussmusik“ sind wir im freien Jazz angelandet, einem Lärm, der die unerträglich beredte Stille für eine gute Minute hinter sich gelassen hat.

****1/2 Frank Sawatzki

Lavender Diamond

Incorruptible Heart

ADA/Warner

Das zweite Album der Band aus Los Angeles ist eine einzige Ode an den Hall: Er ist groß, dick und plüschig und ebnet im Idealfall nicht nur alles ein, sondern gerinnt zu reiner Pop-Schönheit.

Eigentlich müsste die Sängerin Becky Stark jeden Abend eine Kerze anzünden und dem lieben Gott dafür danken, dass er den Hall erschaffen hat. Der große, dicke, plüschige Hall nämlich ist das bevorzugte Stilmittel auf INCORRUPTIBLE HEART, dem zweiten Album von Becky Starks Band Lavender Diamond. Der Hall verschnürt so unterschiedliche Stücke wie „I Don’t Recall“, das klingt, als sei es von Lou Reed geschrieben worden, und „Light My Way“, das wiederum aus dem Repertoire von Kylie Minogue zu stammen scheint, zu einem einheitlichen Soundpaket. So übermächtig ist der Hall auf diesem Album als Stilmittel, dass er über ein denkbar tiefes Eintauchen in den Kitsch wie zum Beispiel im Song „Oh My Beautiful Dream“ ebenso sein schützendes Mäntelchen zu legen versteht wie über ziemlich deplatzierte, bummernde Dance-Beats, gemeingefährlich schwülstige Geigen-Arrangements und weihevolle Bläsersätze. Der Hall ist auf dem aktuellen Lavender-Diamond-Album sogar dazu in der Lage, Gefühle wie Melancholie und Euphorie einzuebnen. Nicht verhindern kann der Hall allerdings, dass fast die Hälfte der Songs auf INCORRUPTIBLE HEART in einem zeitlupenartigen Walzer-Rhythmus daherrollt. Aber dieses zweite Album der Band aus Los Angeles, das fünf Jahre nach dem allseits beliebten IMAGINE OUR LOVE erschienen ist, geht so in seiner einzigen, alles beherrschenden Klangidee auf, dass der Hall seinen gewöhnlichen Status als purer Sound-Gimmick hinter sich lässt, ja nicht einmal in Verdacht gerät, als Parodie gemeint zu sein und stattdessen zu reiner musikalischer Schönheit gerinnt. Das sollte Grund genug sein, nicht nur für Becky Stark, um jeden Abend eine Kerze anzuzünden.

*** Thomas Winkler

Local Natives

Hummingbird

Frenchkiss/PIAS/RTD (VÖ: 29.1.)

Der Harmonie-Pop der Fleet-Foxes-Konkurrenten ist so schön, dass er kaum noch schöner werden kann.

Schönheit kann ganz schön nerven. Aber was soll man machen, wenn man eben schön ist? Einfach weiter schön bleiben, haben sich Local Natives gedacht und lassen fast vier Jahre nach ihrem wunderschönen Erstling GORILLA MANOR nun ein fast genauso schönes zweites Album folgen. Das heißt HUMMINGBIRD, hat aber mit dem titelgebenden und hektisch herumflirrenden Kolibri kaum etwas gemein. Die Songs, die erstmals nicht im heimischen Kalifornien, sondern in Montreal und New York aufgenommen wurden, sind zwar durchgehend lauter und drängender als die auf dem Debüt, ja sogar der Schlagzeuger bekommt diesmal endlich mal vernünftig Arbeit. Aber die Versuche, ein eindeutigeres musikalisches Profil zu gewinnen und sich von den Vergleichen mit Fleet Foxes oder Vampire Weekend abzusetzen, sind Makulatur, wenn sich in jedem Stück würdevoll die so altbekannten wie berückenden Harmoniegesänge erheben. Stimmen umschlingen sich und verschmelzen, turnen haltlos in die Höhe und steuern stets wie zwangsläufig auf einen Moment zu, der der Erleuchtung schon ziemlich nahe kommt. So schön, dass es kaum schöner geht.

**** Thomas Winkler

CD im ME S. 19

Lord Huron

Lonesome Dreams

PIAS/Rough Trade (VÖ: 18.1.)

Americana an der Grenze zur neokonservativen Propaganda.

Man darf ruhig sagen: Ben Schneider hat falsche Erwartungen geweckt. Das, was die ersten, hoch gelobten EPs seines Projekts Lord Huron noch ausmachten, dass sie amerikanisches Songwriting mit der elektronischen Moderne verschmolzen, das ist auf dem ersten Album LONESOME DREAMS nun wieder vergessen. Lord Huron sind zu einer Band gewachsen und auf dem Weg dorthin sind sehr viele der avancierten Ideen verschwunden. Was bleibt, das sind aber immer noch unglaublich eingängige Songs, ein wundervoll warmes Klangbild aus akustischen Gitarren, Mundharmonika und Fiedel. Kurz: das Beste aus Americana und Alternativ-Country, auch wenn sich die harmoniesüchtigen Gesänge allzu sehr an den Fleet Foxes orientieren. Sicher: Noch mehr Mönche im Pferdesattel, die so schön singen können, die kann man sich immer anhören, vor allem wenn man die Texte nicht weiter verstehen will. Denn die rekapitulieren bloß ein naives, vollkommen unironisches Zurück-zur-Natur, feiern an der Grenze zur neokonservativen Propaganda die Ursprünglichkeit der Landschaft und die erhebende Größe edler Gefühle. Diese Gefühle aber bleiben leer, so wundervoll sie auch klingen mögen.

*** Thomas Winkler

CD im ME S. 19

Naked Lunch

All Is Fever

Tapete/Indigo (VÖ: 1.2.)

Knurriger Indie-Rock für die Generation 40 plus. Das achte Album der Band aus Österreich.

Nahezu 15 Jahre ist es her, als Pulp mit dem Titel ihres sechsten Albums trotzig behaupteten: This Is Hardcore. Nun sammeln Naked Lunch endgültig die Scherben auf: „Keep It Hardcore“ heißt der erste Song auf dem achten Album der Band aus Klagenfurt – und tatsächlich scheint ALL IS FEVER beseelt zu sein vom Verlangen, dem Indie-Rock eine neue Relevanz zu verschaffen, ihm seine modische Belanglosigkeit auszutreiben und ein Gefühl von Gefährlichkeit zurückzugeben. Dazu wählt die österreichische Band ein ähnliches Verfahren wie damals Pulp: Hardcore bedeutet eben nicht, lauter und schneller und wütender zu werden, sondern seine eigene Altsackhaftigkeit demonstrativ herauszuarbeiten und zur Schau zu stellen. Das führt im Fall von ALL IS FEVER zu einem seltsam verhuschten, bisweilen wie absichtlich hingeschlampt wirkenden Klangbild. Zu Rhythmen, die manchmal einfach stehen bleiben, bevor sie sich dann doch noch ein Stückchen weiter schleppen. Zu Gitarrensounds, die wie ergraut wirken, aber gerade noch über so viel Kraft verfügen, dass sie mürrisch knurren können. Zu Songs wie „Lonely Boy“, die frustriert und einsam durch die Straßen schlürfen wie ein „Kreativer“ auf dem Weg in seine Werbeagentur, die nur deshalb überleben kann, weil sie sich mit jedem neuen hirnlosen Auftrag ein bisschen mehr ans Entertainmentgeschäft verkauft. „Keep it Hardcore, keep it real, from the beginning ‚til the end“, heißt es bei Naked Lunch, die als Band längst von der Arbeit für Staatstheater leben. Das mag noch Ironie sein oder schon Zynismus, aber so klingt er wohl, der stimmige Indie-Rock für die Generation 40 plus.

****1/2 Thomas Winkler

CD im ME S. 19

Christopher Owens

Lysandre

Turnstile/PIAS/Rough Trade

(VÖ: 25.1.)

Der Folk-Rocker aus San Francisco beweist, dass er auch ganz gut ohne Girls kann.

Früher war Christopher Owens eine Hälfte von Girls. Dann hat er die Indie-Rock-Band aus San Francisco verlassen und die Trennung damit begründet, es wäre zu einfach gewesen, noch ein weiteres Girls-Album zu machen. Nun, wenn man sein erstes Solo-Album LYSANDRE gehört hat, darf man sich fragen: Warum hat er dann als Solist doch ein weiteres Girls-Album aufgenommen? Nicht, dass das schlimm wäre. Der sanfte, mit irischer Schwermut angezuckerte Folk, der von der fragilen Stimme Owens‘ ein paar nötige Brüche zugefügt bekommt, erinnert musikalisch doch sehr an das, was der Singer/Songwriter bereits mit den Girls machte – und das war ja beileibe nicht das Schlechteste. Ausnahmen allerdings, die diese Regel bestätigen, gibt es auf LYSANDRE auch zu hören: In „Here We Go Again“ verrutscht der Folk in Richtung Rock und in „New York City“ probt er sogar den Soul. Im wunderschön verbummelten „Riviera Rock“ spart sich Christopher Owens seinen eigenen Gesang und lässt stattdessen zu hingetupfter Sommerlichkeit bloß Frauenstimmen säuseln. Der große Unterschied aber sind die Texte, in denen Owens immer wieder die eigene Rolle als Musiker hinterfragt. „What if I’m just a bad songwriter and everything I say is said before?“, fragt er zum Beispiel in „Love Is In The Ear Of The Listener“. Aber da kann man ihn dann doch beruhigen, denn was auch immer Owens geritten haben mag, die Girls zu Grabe zu tragen: Mit Lysandre beweist er, dass er sehr gut alleine klarkommt.

**** Thomas Winkler

CD im ME S. 19

Christine Owman

Little Beast

Glitterhouse/Indigo (VÖ: 18.1)

Folk-informierte Indie-Kunstlieder voller unheimlicher Geräusche: Willkommen zu Miss Owmans Hexensabbat.

Ein trefflicher Albumtitel: Dieses kleine Biest von Platte schabt und schnarrt, es kratzt und knarzt, es schnaubt und fiept. Basis für Christine Owmans LITTLE BEAST mag der beizeiten ins Kunstlied kippende Folk sein, doch, um mal einen geschätzten Kollegen zu zitieren: „Kuschelfolk it ain’t“. Die schwedischstämmige Multiinstrumentalistin (Gitarre, Cello, Violine, Säge, Ukulele, Piano, Melodica, Glockenspiel, Percussion) mit der Feenstimme kümmert sich kein bisschen um Konventionen, lässt ihre Lieder mäandern, gibt ihnen ein Eigenleben. Manch melodische Preziose erschließt sich beinahe auf Anhieb, die meisten indes erst nach unzähligen Spins. Das mag nicht jedermanns Sache sein, ist aber – wenngleich gelegentlich nervig – allzeit faszinierend. Zweimal, beim famosen, in den Lyrics „Blue Suede Shoes“ (!) belehnenden „One Of The Folks“ und bei „Familiar Act“ grundiert Mark Lanegan den Hexensabbat mit sonoren Vokalismen. „Deathbed“ tönt spukig, „Devil’s Walk“ hätte in seiner nachtschwarzen Grandezza gut gepasst auf Kate Bushs THE DREAMING. Kein Spaß all das, und doch die reine Freude. Paradox? You bet.

**** Peter Felkel

Qluster

Lauschen

Bureau B/Indigo (VÖ: 25.1.)

Elektronik-Altmeister Hans-Joachim Roedelius in großer Form.

Die Beharrlichkeit, mit der Hans-Joachim Roedelius seine Diskografie erweitert, ist bemerkenswert. Mit LAUSCHEN veröffentlich der 78-jährige Elektronikpionier innerhalb von 20 Monaten das vierte Album seiner 2010 gegründeten Band Qluster. Die Umbenennung war nötig, weil sich Roedelius und sein langjähriger Partner Dieter Moebius mal wieder trennten und die Weiterarbeit unter dem Namen Cluster (vormals Kluster) nicht infrage kam. Die phonetische Nähe der jüngsten Inkarnation des Projekts kommt allerdings nicht von ungefähr, denn Roedelius macht mit seinem neuen Mitspieler, dem Klanginstallateur und Tontechniker Onnen Bock, dort weiter, wo Cluster aufhörten. Nämlich auf dem weiten, fast grenzenlosen Feld zwischen Experimentalmusik, Elektronik und Ambient. Nach dem Abschluss der Trilogie FRAGEN (Studioalbum), RUFEN (Live) und ANTWORTEN (Klavierwerk) gehen Roedelius & Bock auf LAUSCHEN wieder neue Wege. Die live auf dem Zodiak-Festival im Februar 2012 in Berlin eingespielten Tracks sind Improvisationen und entstanden mit dem Gast und Weltmusiker Armin Metz. Der Titel der Platte ist daher kein Zufall, denn hier gehen nicht drei Männer auf Individualreise, sie hören sich gegenseitig zu, entwickeln die Ideen des jeweils anderen weiter, füllen sie mit einer Masse an Einfällen aus. Die neun übergangslosen Stücke befinden sich zwar im Fluss, aber der mäandert bei bedächtiger Fließgeschwindigkeit in alle Richtungen. Mal verliert sich das Trio mit seinen analogen Keyboards in kühler Atonalität („Kalliope“, „Urania“), um dann in ruhiges, ambientes Wasser zu tauchen, worauf maschinenhafte Rhythmen („Terpsichore“) dominieren, ehe dann Drohkulissen („Thalis“) aufgebaut werden. Der Höhepunkt in der noch jungen Geschichte von Qluster.

****1/2 Sven Niechziol

Pere Ubu

Lady From Shanghai

Fire Records/Cargo: (VÖ: 11.1.)

Rhythmus ist doch kein Tänzer oder You can ring my bell, my bell: das Dance-not-dance-Album der Avantgarde-Band aus Cleveland.

Als Anita Ward im Spätsommer 1979 mit „Ring My Bell“ weltweit in den Top 10 der Singles-Charts stand, waren Pere Ubu gerade dabei, ihr drittes Album NEW PICNIC TIME zu veröffentlichen. Anita Ward, das Disco-One-Hit-Wonder, und Pere Ubu, die Untergrund-Band um David Thomas, das waren damals die denkbar entferntesten Pole der „populären“ Musik. Die Hitsingle, der keiner entkommen konnte, und die Avantgardisten aus Cleveland, die man erst einmal finden musste im örtlichen Schallplattenladen. Hinter einem Schleier aus Polyrhythmik- und -melodik zitieren Pere Ubu in „Thanks“, dem ersten Song auf LADY FROM SHANGHAI, „Ring My Bell“. Laut David Thomas handelt es sich bei der 15. Platte in der 38-jährigen Geschichte der Band um ein „Dancealbum“, um die „Ubu Dance Party“. „Der Tanz animiert den Körper dazu, sich ohne Erlaubnis zu bewegen“, lautet die Klage. Und: „Zerstört die Hegemonie des Tanzes. Steht still. Der Tänzer ist die Marionette des Tanzes“. Soll hier der alte Grabenkampf zwischen Intellekt und Körperlichkeit, zwischen Hirn und Herz, wieder aufgenommen werden? Tatsache ist, dass sich nicht wenige der Lieder auf LADY FROM SHANGHAI tatsächlich zum Tanzen eignen. Weil sie geraden und repetitiven Rhythmen unterworfen sind. Dazwischen wuchern lieb gewonnene Ubu-esquen, windschiefe Melodien, Thomas‘ Gesangsakrobatik, Blues-Dekonstruktionen, Strukturen von Post-Punk und freiformale Experimente. Tanz oder nicht? Licht ins Dunkel wird wahrscheinlich das begleitende Buch „Chinese Whispers: The Making Of Lady From Shanghai“ bringen. Das erste Album von Pere Ubu heißt übrigens THE MODERN DANCE.

*****1/2 Albert Koch

Wer zum Teufel ist Anita Ward?

Anita Ward, geboren am 20. Dezember 1956 in Memphis Tennessee, war Lehrerin, bevor sie von dem Produzenten Frederick Knight unter Vertrag genommen wurde. Im Mai 1979 erschien die Single „Ring My Bell“, die in der ausgehenden Disco-Ära ein Superhit wurde – allein in Deutschland hielt sie sich 18 Wochen in den Charts. Knight produzierte mit Ward die beiden Alben SONGS OF LOVE und SWEET SURRENDER – ihr einziger Hit sollte jedoch „Ring My Bell“ bleiben.

Mélanie Pain

Bye Bye Manchester

JMS/Rough Trade (VÖ: 1.2.)

Die Stimme von Nouvelle Vague hat jetzt was Eigenes: selbst geschriebenen Retro-Pop.

Dem Grundgedanken nach ist Nouvelle Vague, das Bandprojekt, nicht ohne Charme: Man pflegt die Standards der New Wave im Stil des Bossa Nova, schon weil alles Neue nun mal interessanter altert. Musikalisch wurde diese Nouvelle Vague des 80er-Revivals allerdings rasch fad. Kinder der 80er-Jahre mögen die Coverband aus Frankreich trotzdem irgendwie. Auch wegen ihrer Sängerinnen, die in Mädchenkleidern auf die Bühne stiefeln, Schnütchen ziehen und scheu Songs von früher singen. Vorneweg: Mélanie Pain. Im Jahr 2009 veröffentlichte sie My Name, ihr erstes Solo-Album, jetzt veröffentlicht sie Bye Bye Manchester. Tatsächlich war sie da, in Manchester, und hat sich von der Stadt, aus der viele der Nouvelle-Vague-Originale stammen, zum Verfassen eigener Lieder inspirieren lassen. Melancholisch lief sie durch die feuchten Straßen. Nachts griff sie zu Ukulele oder Kinderkeyboard und schrieb Songs wie „Just A Girl“ und „How Bad Can I Be“. Dann reiste sie nach London und nahm alles auf, mit hymnischen New-Order-Bässen und zickigen Synthesizern aus der guten alten Zeit der Neuen Wellen. Mal auf Englisch, mal Französisch. „Bye Bye Manchester“ heißt auch ein Song, darin beschwört sie die Behaglichkeit der Nostalgie. Mélanie Pain gibt ihren Instrumenten Namen, ihren Lieblingssynthie nennt sie Helmut. Sonst passiert nicht viel.

** Michael Pilz

Producers

Made In Basing Street

India Media/Big Lake/Rough Trade

Retro-Pop: Das Bandprojekt um Lol Creme (10cc, Godley & Creme) mit einer durch und durch zwiespältigen Zeitreise zurück in die 80er-Jahre .

Die Zeiten, in denen Namen wie Lol Creme (ehemaliges Mitglied von 10cc und Godley & Creme), Stephen Lipson (Musiker für Paul McCartney, Annie Lennox) und Trevor Horn (der Produzent der 80er-Jahre) die Musikszene nachhaltig beeinflussten, sind schon lange vorbei. Gemeinsam mit dem Schlagzeuger Ash Soan, der schon für Adele, Cee-Lo Green und James Morrison gespielt hat, nahm das Trio unter dem Namen Producers mit Made In Basing Street ein Album auf, das man als bewusste, wenn auch reichlich wehmütige Hommage an die „goldenen“ 80er-Jahre verstehen darf. In den zwölf Songs des Albums folgt das Quartett weitgehend dem klassischen Sounddesign dieses für die Popmusik so wichtigen Jahrzehnts. Entsprechend nostalgisch angehaucht klingen Nummern wie „Man On The Moon“ und „Waiting For The Right Time“. Diese Art von rückwärtsorientiertem Softrock mag aus der Mode gekommen sein, aber das stört diese vier Herren nicht im Geringsten. So sehr man ihr stures Festhalten an längst überholten Mustern auch bewundern mag, so wenig Spaß macht es auf lange Sicht, ihnen dabei zuzuhören. Die Producers finden mit zunehmender Spieldauer immer mehr Gefallen daran, längst zu den Akten gelegte Sound- und Harmoniemuster wieder aus der Versenkung zu holen, inklusive reichlich prätentiöser Gitarrensoli. Rein musikalisch betrachtet bewegt sich die Band dabei natürlich auf einem recht hohen Niveau und man kann den vier Musikern auch nicht vorwerfen, nicht alles zu geben. An mangelndem Elan scheitert dieses Werk jedenfalls nicht. Dass das Quartett in den vergangenen vier Jahrzehnten an mehr als 200 Hitsingles und Alben mitgewirkt hat, erklärt ganz gut, weshalb Lieder wie „Stay Elaine“ und „Your Life“ so blutleer und berechenbar klingen. Ihre große Routine als Musiker und Produzenten ist in diesem Fall eher ein Fluch statt ein Segen.

** Franz Stengel

Lucy Rose

Like I Used To

Columbia/Sony Music (VÖ: 11.1.)

Singer/Songwriter: Die neue Joan Baez kocht ihren Folk mit etwas zu viel Zucker.

Lucy Rose ist eine wirklich außergewöhnliche Künstlerin. Vor allem, weil sie dafür bekannt ist, bei ihren Konzerten selbstgemachte Marmelade zu verkaufen. Musikalisch allerdings kocht die Engländerin vor allem ein, was dem Publikum schon in den 60er-Jahren sehr gut geschmeckt hat: Folk mit einsamer akustischer Gitarre und Mädchenstimme. Dabei entstehen zwar äußerst berückende Momente wie zum Beispiel das wunderschöne „Night Bus“, aber immer wieder nimmt die Joan-Baez-artige Lieblichkeit überhand. Dann ist ein bisschen zu viel Zucker in der Marmelade.

***1/2 Thomas Winkler

Ulrich Schnauss

A Long Way To Fall

Scripted Realities/RTD (VÖ: 18.1.)

Der in seiner Heimat Deutschland wenig bekannte Wahl-Londoner Ulrich Schnauss beendet für sich das Kapitel Shoegazing.

Ulrich Schnauss ist ein umtriebiger, gerne auch mal sprunghafter Wanderer zwischen den musikalischen Welten – zwischen Indie-Pop und Elektronik, Shoegazing und Ambient. A LONG WAY TO FALL markiert mal wieder einen radikalen Stilwechsel in der 1995 begonnenen Karriere von Ulrich Schnauss, in der der Künstler sich je nach musikalischer Ausrichtung diverse Pseudonyme zulegte (unter anderem Hexaquart und Ethereal 77) . Zusätzlich wirkt der Norddeutsche bei der Dream-Pop-Band Engeneers und bei Longview mit. Wer den in Kiel geborenen und in London lebenden Musiker mit diesen beiden Gruppen oder seinen sehr guten Indietronics-Solo-Alben A STRANGELY ISOLATED PLACE und GOODBYE kennengelernt hat, wird unter Umständen von A LONG WAY TO FALL verwirrt sein. Die stets im Kontext mit Schnauss genannten Einflussgeber wie My Bloody Valentine und Slowdive kommen hier nicht zum Tragen, denn der Wahlbrite setzt auf A LONG WAY TO FALL die drastische Veränderung seines eigenen Musikgeschmacks um. Der führte nach seinen Aussagen weg von den Singer/Songwritern, hin zu Keyboardsounds mit offenen Strukturen. So dominieren nun ätherische Soundflächen und Ambient, unterlegt mit dezenten Beats und manchmal auch gedämpften Störgeräuschen. Das tangiert bisweilen die Grenze zu schläfrigem Emo-Kitsch, weil die hübschen Klangmalereien etwas konturlos an einem vorbeipluckern. Aber es gibt ein paar klasse Wachmacher auf dem Album, wie zum Beispiel „The Weight Of Darkening Skies“ mit seinen wuchtigen Beats und einer zum Songtitel passenden, dramatischen Atmosphäre. „I Take Comfort In Your Ignorance“ heißt der andere Track, in dem die Rhythmen losgaloppieren, als wollten sie der Komfortzone der restlichen Stücke auf dem Album entfliehen.

***1/2 Sven Niechziol

The Ruby Suns

Christopher

Memphis Industries/Indigo (VÖ: 1.2.)

Ryan McPhun hat auf seinen Reisen neue Ziele entdeckt: Euro-Disco, Bläser-Pop.

In den letzten Jahren war Ryan McPhun als Tour-Drummer seiner australischen Kollegen Architecture In Helsinki unterwegs, startete das Dance-Pop-Projekt Spring Break und duettierte für einen Track mit der von ihm bewunderten schwedischen Elektro-Pop-Sirene Robyn. Zu guter Letzt verließ er seine Wahlheimat Neuseeland für einen längeren Oslo-Trip. Man könnte all dies unter dem Titel „Exkursionen“ verbuchen, das, was McPhun von seinen unterschiedlich temperierten Trips in wechselnden Konstellationen mitgenommen hat, dürfen wir nun über die Strecke von zehn dicht orchestrierten, sanft jubilierenden Ruby-Suns-Songs auflesen. Es hört sich hier und da wie eine Beach-Party aus 500 Metern Entfernung an, manchmal wie ein Filterkunstwerk mit Geisterstimme und Beats. McPhun besitzt die Gabe, sich mit seinem Falsett weit über eine Melodie hinauszuschrauben und diese dann über alle Soundwolken hinwegzusingen. Er hätte damit auch eine funktionierende House-Platte machen oder ein 24-minütiges Acid-Folk-Mantra aufnehmen können. Hier und heute hat er einen Stopp in der Euro-Disco eingelegt („Desert Of Pop“), sich in Piano-Melodien und Bläser-Pop verguckt („In Real Life“): Top-20-Radio nicht mehr außer Reichweite.

*** Frank Sawatzki

Ron Sexsmith

Forever Endeavour

Cooking Vinyl/Indigo (VÖ: 1.2.)

Ein beseeltes Singer/Songwriter-Album, diesmal fast ganz ohne Pop.

Auf seinem letzten Album, Long Player Late Bloomer (2011), überraschte der Sänger und Songwriter aus Kanada mit ungewohnt geradlinigen, geradezu poppigen Tönen. Davon ist auf dem Nachfolgeralbum Forever Endeavour so gut wie nichts mehr zu hören. Ron Sexsmith hat sich wieder mit Produzent Mitchell Froom zusammengetan, der bereits seine ersten drei Alben sowie das 2006 veröffentlichte Time Being produzierte. Der Singer/Songwriter spricht von seinem mit Abstand persönlichsten Werk und das ist keine Übertreibung. Fans seines Frühwerks werden jedenfalls von Forever Endeavour begeistert sein, denn so nachdenklich und introvertiert klang der Musiker schon lange nicht mehr. Eingespielt hat Ron Sexsmith die zwölf neuen Songs in den Santa Monica Studios von Mitchell Froom mit Unterstützung von ausgesuchten Studiomusikern wie Schlagzeuger Pete Thomas, Bassist Bob Glaub, Pedal-Steel-Gitarrist Greg Leisz und dem Caler Quartet, das die ausgezeichneten Streicherklänge beisteuert. Forever Endeavour ist eine jener selten gewordenen Platten, die dann am besten funktioniert, wenn ihr vom ersten bis zum letzten Song aufmerksam und mit höchster Konzentration einfach nur zuhört. Und was für versteckte Perlen es da zu entdecken gibt, angefangen bei „Sneak Out The Back Door“ über „She Does My Heart Good“ bis hin zu „Me, Myself And Wine“, einem Song, in dem Ron Sexsmith erklärt, warum er sich so gerne die Zeit nimmt, bei einem guten Glas Wein seinen Lieblingsplatten zu lauschen. Das mag in unseren Zeiten schrecklich altbacken wirken, besitzt aber einen nicht zu unterschätzenden Charme.

**** Franz Stengel

Sin Fang

Flowers

Morr Music/Indigo (VÖ: 1.2.)

Der Seabear-Gründer schwelgt auf seinem dritten Solo-Album im siebten Pop-Himmel.

Sindri Már Sigfússon hat es mit merkwürdigen Bärten. Auf dem Cover seines Debütalbums CLANGOUR – da nannte sich der Isländer noch Sin Fang Bous – hingen ihm Papierstreifen im Gesicht, auf dem Nachfolger SUMMER ECHOES waren es dann verzierte Häkeleien. Nun drapiert ein Blumenstrauß das jugendliche Antlitz, und das passt auch sehr gut. Nicht nur, weil das Album FLOWERS heißt, sondern mit seiner zügellosen Lust auf Pop auch genauso klingt. Dazu auch ein bisschen verschwurbelt, experimentierfreudig, verspielt und kindlich – also genau so, wie man das von vielen isländischen Bands und Musikern wie Amiina, Múm oder den wunderbaren Of Monsters And Men kennt. Die rätselhafte Sóley gehört auch dazu, mit ihr spielt Sin Fang bei den von ihm gegründeten Seabear. Indie-Pop, Folk und Elektronik bilden auch auf FLOWERS die Eckpfeiler, zwischen denen sich Sigfússon jedoch mit einer so nie gekannten Euphorie und Leichtigkeit tummelt, als sei in ihm der Frühling explodiert. Oder als habe er gerade Sufjan Stevens, Fleet Foxes, Elliott Smith, Animal Collective, Grizzly Bear und Mercury Rev auf einmal für sich entdeckt, und weiß nun gar nicht mehr wohin mit all den frischen Eindrücken. So quellen die insgesamt zehn stets kurzweiligen Songs über vor digitalen und analogen Soundspielereien, Samples, akustischem Folk, Chorgesängen, Streichern und vor allem hinreißenden Melodien.

**** Sven Niechziol

Tomahawk

Oddfellows

Ipecac/Soulfood (VÖ: 1.2.)

Experiment: They call them Oddfellows. Das vierte Album der Supergroup um Mike Patton ist wieder nicht so super geraten.

Nur sechs Tage haben Tomahawk gebraucht, um ihr neues Album in den Easy Eye Sound Studios von Black-Keys-Sänger Dan Auerbach aufzunehmen. Effizientes Arbeiten ist für die Musiker, die sich in der Vergangenheit in Bands wie Mr. Bungle, Fantômas, The Jesus Lizard und Helmet verdient gemacht haben, ein Leichtes. Doch trotz der hochkarätigen Besetzung und des unbestreitbaren Talents aller an diesem Projekt Beteiligten, will es bei Tomahawk einfach nicht so richtig klick machen. Mike Pattons gewaltige Stimme, Duane Denisons verschlepptes Gitarrenspiel, John Staniers präzises Schlagzeug und die Basslines von Neuzugang Trevor Dunn – das alles steht mehr nebeneinander, als dass es ein stimmiges Ganzes ergibt. Die Stücke beginnen meist vielversprechend, kommen aber nie richtig in Fahrt, weil jeder Song wie ein Kompromiss zwischen den unterschiedlichen Geschmäckern der einzelnen Bandmitglieder wirkt: „South Paw“ zum Beispiel fängt als Punk-Song an und wird dann von ruhigen Strophen gebrochen, „Choke Neck“ eint Spaghetti-Western-Gitarren mit Krawallattacken, „Rise Up Dirty Waters“ flirtet mit Jazz. Am besten sind Tomahawk, wenn sie eher traditionell dahinrocken, wie bei „Stone Letter“ und „Waratorium“. Es bleibt jedoch sehr verblüffend, dass es dieser einmaligen Konstellation von Musikern nicht gelingt, bedeutsamere Musik zu machen.

*** Reiner Reitsamer

Toro Y Moi

Anything In Return

Carpark/Indigo (VÖ: 25.1.)

Mit seinem dritten Album in knapp zweieinhalb Jahren opfert Chaz Bundwick einen Hauch Klasse für ebenso viel Zugänglichkeit in seinem Funk-Pop.

Vorab: Hier wird ungefähr auf ähnlichem Level gejammert, wie es Lionel Messi tut, wenn statt vier nur drei Tore pro Spiel auf sein Konto gehen. Underneath The Pine von Toro Y Moi ging hier völlig zu Recht mit sechs orangeleuchtenden Sternen vom Platz, da muss ein neues Album natürlich doppelt und dreifach punkten, um dem gerecht zu werden. Frei von unfairen Erwartungen sind das 13 Songs, die jedem Radioprogramm dieser Welt gut stehen würden, ohne platt zu sein und mit dem Stigma „zum linken Ohr rein, zum rechten Ohr wieder raus“ behaftet zu sein. Das Album sucht die Ohrwürmer direkter und findet sie zum Glück auch. Der Funk selbst bleibt dabei leicht auf der Strecke. Chaz Bundwick, der zwischendurch auf Daphnis Label Jiaolong unter dem Alias Les Sins eine House-EP veröffentlichte, geht jetzt zwar keinen elektronischen Weg, pflastert seine funkigen Pop-Pfade allerdings vermehrt mit allerhand Spielereien, wie zum Beispiel in „Touch“, das mit seinem zurückgezogenen bassbetonten Beat und dem souligen Gesang auch ein frühes Hot-Chip-Werk sein könnte, oder dem Opener „Harm In Change“, der in Indie-Discos eher zu fortgeschrittener Stunde gespielt werden dürfte. Songs wie „So Many Details“ sind astreine Ohrwürmer mit genügend Sex-Appeal, und sollte je ein Video zu „Cake“ gedreht werden, dürfte es Strandbuggys und eine Slow-Motion-Dusche des Protagonisten mit offenem Hemd und Goldkette zeigen. „She knows. Imma be her boy forever“, heißt es da. Was für den einen vielleicht noch als funky Ballade durchgeht, kann im falschen Ohr, auch wie die cheesigste Boybandnummer der 90er-Jahre klingen. Das falsche Ohr sitzt allerdings nicht auf dem Kopf des Rezensenten, deshalb gibt es einen Daumen nach oben als Kaufempfehlung.

**** Christopher Hunold

Widowspeak

Almanac

Captured Tracks/Cargo (VÖ: 18.1.)

Hypnagogic Pop, der aus der Bulimie-Falle zu entkommen versucht.

Der von den Maya für den 21. Dezember vergangenen Jahres prognostizierte Weltuntergang hat zum allgemeinen Bedauern ja dann doch nicht stattgefunden, beschert uns dafür aber ein neues Album von Widowspeak. Die Songs, die das Duo für ALMANAC geschrieben hat, sind mit Blick auf die drohende Apokalypse entstanden und heißen nicht nur „The Dark Age“ und „Devil Knows“, sondern handeln auch von den eher weniger erbaulichen Dingen des Lebens: Dunkelheit und Verdammnis, Tod und Teufel. Dazu dängelt und dämmert Robert Earl Thomas‘ Gitarre bedrohlich und bedeutungsschwanger, während Molly Hamilton singt, als würde sie demnächst das Zeitliche segnen. So unmerklich hebt sie die Stimme, so sphärisch und körperlos haucht sie die Worte, dass man nicht nur befürchten muss, Hamilton wird bewusstlos, sondern – schlimmer – der 2012 beherrschende Hauntology-Hypnagogic-Pop-Trend rettet sich hinüber ins neue Jahr. Als hegten Widowspeak dieselben Ängste, ziehen sie hin und wieder das Tempo an, geben mehr Saft auf den Gitarrenverstärker und ihrer Sängerin endlich was zu essen. Es besteht also Hoffnung: Bulimie-Pop ist heilbar.

*** Thomas Winkler

Jah Wobble & Keith Levene

Yin & Yang

Cherry Red/Rough Trade

Zwei Protagonisten des Post-Punk zeigen den Adepten, dass sie noch immer im Vorsprung sind.

In seiner Autobiografie hat Jah Wobble die Schwierigkeiten im Umgang mit seinem ehemaligen PiL-Kollegen Keith Levene so auf den Punkt gebracht: sehr guter Gitarrist, aber viel zu heroinabhängig. Eine Wiederannäherung der beiden Musiker schien deshalb für lange Zeit komplett ausgeschlossen. Bedingt durch Wobbles Sinnieren über die Vergangenheit, Gerüchte über eine Reunion der klassischen Besetzung von PiL und die Meldung von Levenes überstandener Drogenabhängigkeit sind sie dann aber doch wieder zusammengekommen. Das war eine gute Entscheidung, denn wie schon auf den jüngsten Alben von Gang Of Four und Magazine spürt man auch hier eine brodelnde Energie, die auf diese Art nur Alt-Aktivisten des Post-Punk hervorbringen können. Jah Wobble sorgt mit seinem bis in die tiefsten Tiefen gehenden Bass für gehörigen Antrieb und Keith Levene gibt mit ständigen Störattacken einen großartigen Quälgeist. Harten knochentrockenen Funk kriegt das Duo auf dieser Basis ebenso hin wie Blues-Impressionen aus dem Süden der USA, Dub-Reggae, Jazz aus Miles Davis‘ Dark Magus-Ära und eine noch indisch angehauchtere Version von George Harrisons „Within You Without You“. Das imposante Kernstück des Albums bilden die zehn Minuten von „Jags And Staff“. Wobbles eindringliche Ansprache setzt sofort zu und Levene stolziert dermaßen martialisch über einen trippigen Beat, dass man sich wünscht, es würde ewig so weitergehen.

***** Thomas Weiland

Veronica Falls

Waiting For Something To Happen

Bella Union/Coop/Universal (VÖ: 1.2.)

Indie-Jinglejangle aus einer Wartehalle voller Fragezeichen: Wie ist das mit dem Erwachsenwerden? Und wie viel Vergangenheit darf die Zukunft des Pop kosten?

Das erste Teenage-Pop-Album im neuen Jahr. Oder besser: Die erste relevante Pop-Band im neuen Jahr, die den ganz gemeinen Unebenheiten im Leben von Heranwachsenden auf der Spur ist. Davon zeugt nicht nur ein kleiner Heuler mit dem programmatischen Titel „Teenage“, Veronica Falls wildern im evergreenen Themenpark des Growing Up mit einer Melancholie, die nur Young Adults aufbringen können, die das Gröbste gerade hinter sich gelassen haben. Die Songtitel erzählen davon – „Broken Toy“, „Everybody’s Changing“, „My Heart Beats“, „Buried Alive“. Im Vergleich mit dem 2011er-Debütalbum klingen die neuen Songs leicht poliert, ohne deshalb gleich zu glänzen, in diesen Drei-Minuten-Jinglejangle-Popsongs ist immer noch die leicht verhuschte C86-Kapelle zu entdecken, die ihr Herz an die Boy-Meets-Girl-Gesänge aus einer ganz anderen Pop-Epoche verloren hat. Mit „If You Still Want Me“ gelingt Veronica Falls ein kleiner Dark-Pop-Hit, an anderen Stellen verliert die Band aus London ihren Fokus im so selbstverständlichen Geschrammel. Mit den 13 Songs auf WAITING FOR SOMETHING TO HAPPEN betritt auch die Fangemeinde eine Wartehalle voller Fragezeichen: Gibt es eine Zukunft für das, was einmal als Britpop mit viel Getöse aus den Startlöchern schoss? Und wie viel Vergangenheit darf diese Zukunft kosten?

***1/2 Frank Sawatzki

Yo La Tengo

Fade

Matador/Beggars (VÖ: 11.1.)

Wer will ihnen das noch nachmachen? Das Hoboken-Trio hat nach beinahe 30 Jahren Bandgeschichte ein sanftes Pop-Meisterwerk aufgenommen.

Yo La Tengo haben schon wieder zugelegt. Man weiß gar nicht, wo Ira Kaplan, Georgia Hubley und James McNew diese Kräfte herholen, und das mit einer beinahe 30-jährigen Bandgeschichte im Rücken, die den meisten ihrer Zeitgenossen längst das Genick gebrochen hätte. Vielleicht liegt es daran, dass Yo La Tengo ihre Energien in einem behutsamen, oft sanften Aufeinanderzugehen neu finden und bündeln können. Der Abrieb, der bei der Arbeit mit den E-Gitarren entsteht, wird im Strudel der Chorgesänge freundlicherweise wieder aufgefangen, nachzuhören auf dem Eröffnungstrack „Ohm“. Alles bleibt im Fluss auf FADE, und damit schließt sich der Neuling des Hoboken-Trios an einige der besten Band-Alben an, I CAN HEAR THE HEART BEATING AS ONE (1997) oder POPULAR SONGS (2009) etwa. FADE könnte auch ein Best-of-Album quer durch die Bandhistorie sein, mit den schwebenden Indie-Pop-Songs „Well You Better“ und „Stupid Things“, einer Folk-Ballade à la Yo La Tengo („I’ll Be Around“) und ambienten Erkundungsgängen, die man früher einmal Soundscapes genannt hätte („Two Trains“). „Before We Run“ zum Finale des Albums ist das definitive Stück Orchesterpop, das uns in der Yo-La-Tengo-Sammlung noch gefehlt hat, mit Bläserarrangements, wie man sie von dieser Band dann so noch nicht gehört hatte – die musikalische Bebilderung eines uralten Songtitels von 1992: „Detouring America With Horns“. John McEntire (Tortoise, The Sea And Cake, The Red Krayola) hat FADE mit gehörigem Feinschliff produziert.

***** Frank Sawatzki

Story S. 52