Radiohead

A Moon Shaped Pool

XL Recordings

Zeit für einen Tauchgang! Das neue Radiohead-Album ist für Radiohead-Verhältnisse durchschnittlich, oder wie andere Bands sagen würden: fantastisch.

Die Wege von Radiohead-Songs sind unergründlich. Als die Band zum ersten Mal „True Love Waits“ vor Publikum spielte, war Bill Clinton noch im Weißen Haus, Chris Martin in keiner Band und John Lennon fast auf den Tag genau seit 15 Jahren tot. Damals sang Thom Yorke das Stück noch allein, meist zur Zugabe, bewaffnet nur mit einer akustischen Gitarre. Auf der letzten Radiohead-Tour vor vier Jahren schmolz die Ballade mit „Everything In Its Right Place“ zusammen, ehe sie jetzt endlich in ihre finale Form gegossen wird: „True Love Waits“ beendet 21 Jahre nach seiner Geburt das neue Album von Radiohead. Wahre Liebe muss eben warten.


Dabei wirkt das Stück wie eine Art hörbares Fossil, das irgendwann im Pleistozän der Bandgeschichte von Ondes Martenot und Drum-Computer fortgespült und verschüttet wurde, und jetzt, ausgegraben und saubergepinselt, ganz anders dasteht als früher. Weniger Pathos, mehr entrückte Schönheit, Tasten statt Saiten, irgendwie entkitscht und trotzdem menschlich, vor allem aber: zum Heulen schön. „True Love Waits“ fasst die Evolution der sonderbarsten aller Bands perfekt zusammen.

Nun ist dieses Wachsenlassen von Liedern kein Einzelfall, nicht in der Geschichte von Radiohead und erst recht nicht auf A MOON SHAPED POOL. Zählt man die wenige Tage zuvor veröffentlichte Single „Daydreaming“ auch nicht mit, bleiben auf dem Album lediglich drei Songs, die noch nie zuvor durch den Mikrokosmos der Band gegeistert sind. Und nicht jedem Lied hat die Wartezeit gleich gut getan.

„True Love Waits“ beendet 21 Jahre nach seiner Geburt das neue Album von Radiohead. Wahre Liebe muss eben warten.

Nehmen wir „Ful Stop“: 2012 ins Live-Programm aufgenommen, versickerte damals ein Großteil des Zierrats im Echo der Musik, was blieb, war ein stoischer Beat und viel Matsch drum herum. In der Studioversion klingt das jetzt ganz anders: Bläser, bedrohliche Bässe, Synthesizer-Schwaden, irgendwann ein Gitarrenlick – alles schält sich nach und nach glasklar hervor, beklemmend und klaustrophobisch, einer der Höhepunkte der Platte. Bei „Identikit“, das zur gleichen Zeit entstand, ist genau das Gegenteil passiert. Auf der Bühne hielten Radiohead das Stück absolut minimalistisch, jetzt ist es beladen wie ein Packesel, sogar ein Chor setzt irgendwann ein. Zum Schluss darf Jonny Greenwood noch grandios ein Gitarrensolo verhühnern, das er lieber nie geschrieben hätte. (Vielleicht entdeckt er ja noch seinen inneren Kanye und bringt es nachträglich in Ordnung.)

Was die beiden Songs, wie auch die übrigen auf „A Moon Shaped Pool“, eint und zusammenhält, das ist das Gewusel im Hintergrund. Egal wo wir hinhören, von überall klimpern Klaviere und Glockenspiele durcheinander, drängen sich Ambient-Flächen dazwischen, nichts darf einfach für sich stehen. Es ist, als hätte die Band jeden Tropfen in diesem Pool einzeln geformt, stets mit pedantischer Sorgfalt. Von sich aus starke Stücke wie „The Numbers“ und „Tinker Tailor…“ wertet das deutlich auf, doch andere Songs wie „Desert Island Disk“ werden dadurch nicht interessanter, sonder bleiben schlicht: normal.