Rocko Schamoni


MIT DEM PROJEKT „DIE VERGESSENEN“ POLIERT ROCKO SCHAMONI VERSCHÜTTETE POP-PERLEN IM GROSSEN STIL NEU AUF. EIN PROBENBESUCH.

Noch schöner wäre es natürlich, wenn „Surf ’n’Schlurf“ an der Tür stehen würde – so heißt das Internetcafé, das Dickie Schubert in dem Film „Fraktus“ betreibt, gespielt von Rocko Schamoni, der Hauptfigur unserer Geschichte hier. Doch dass die Kinder im „Saus & Browse“ durchs Netz surfen dürfen, das ist ja auch nicht zu verachten. Die Kinder der Veddel sind gemeint, einer Hamburger Elbinsel. Heute haben die Schüler allerdings frei, sonst hätte ja nicht Rocko Schamoni sein eigens zusammengestelltes Orchester Mirage zur Probe in die Stadtteilschule laden können.

Die Wohnbebauung, alles Rotklinker rundherum, beschwört den alten „Asterix“-Gag herauf, dass eine Beschreibung des Hauses unter Umständen nicht ausgereicht hätte („Asterix bei den Briten“, wo er eben Hausnummern zu schätzen lernt) – man erkennt die Handschrift des Oberbaudirektors Fritz Schumacher, nach dessen Plänen auch die Schule gebaut wurde, die neben der heute noch existierenden Bücherhalle eine Zahnklinik und ein Kino beherbergte, als sie 1932 in Betrieb genommen wurde. Es war damals die größte Volksschule Hamburgs. Die Zeiten ändern sich: „Die Schularztstelle und Mütterberatung gibt es nicht mehr“ informiert ein Schild an einer blauen Tür, die Rocko Schamoni öffnet, um den Gast in die Schulaula zu geleiten.

14 Musiker haben sich hier zusammengefunden, allesamt in Schwarz gekleidet, schließlich ist die Fotografin da. Doch heute ist kein Showtag, sondern einer, an dem konzentriert gearbeitet wird: Dirigent Sebastian Hoffmann scrollt sich am Laptop durch die Partitur und geleitet die Band, die Bläser, die Streicher und Rocko Schamoni durch ein Lied von Ton Steine Scherben – aber kein Hausbesetzer-Gassenhauser wie „Macht kaputt was euch kaputt macht“, sondern das eher unbekannte „Morgenlicht“(vom 1981er-Album IV) – ein fast vergessener Titel also, passenderweise, für das Projekt „Die Vergessenen“.

Unter diesem Titel präsentierte Rocko Schamoni im Juni 2013 auf der Schweizer Crowdfundingseite wemakeit.ch sein Konzept für eine Suche nach verschütteten Perlen der deutschsprachigen Popmusik. Er wolle Songs von Manfred Krug, Die Regierung, Lassie Singers, Hildegard Knef, Jeans Team, Mutter, Romy Schneider und anderen -„den brillanten Unperfekten mit ihren rissigen Liedern“ – fulminant neu arrangieren, sie mit 16-köpfigem Orchester live aufführen, aber auch aufnehmen. Der Aufruf wurde reichlich geteilt in den Sozialen Medien, und es fanden sich bis September immerhin 631 Unterstützer, die insgesamt 41 701 Euro für „Die Vergessenen“ zur Verfügung stellten. „Das ist unser Budget, richtig“, sagt Rocko Schamoni, der allerdings auch auf einige Schwierigkeiten hinweist, die einem beseelten, aber unerfahrenen Crowdfunder vielleicht gar nicht bewusst sind: Von dem Geld sind zum Beispiel etwa 3 200 Euro alleine an Portokosten zu zahlen für die Belohnungen der Einzahler. Andere Ausgaben, die ebenfalls nicht direkt in die Musik fließen, kommen hinzu. Am Ende bleiben etwa 35 000 Euro, von denen die Studiokosten und die Musikergagen den Hauptteil ausmachen. Dazu kommen Abmischen, Proberaummiete, Promoter, Kostüme, Video/Grafik, das Plakat und zahlreiche Kleinigkeiten.

Doch zuerst kam der Moment, als das komplette Projekt zu scheitern drohte: Die Ruhrfestspiele, bei denen zu Pfingsten die Produktion hätte debütieren sollen, in großem Stil, waren abgesprungen -der Hauptgeldgeber. Doch Rocko wollte nicht aufgeben, sah sich den Crowdfundern verpflichtet: „Deren Geld liegt da, die haben uns ihr Vertrauen gegeben, dann lasst uns mal versuchen, das umzusetzen. Das ist ja auch ein ganz guter Produktionsetat, den wir da haben. Was soll uns schon passieren? Scheißen wir drauf und machen eben keine große Bühne, keine Videoshow und kein fettes großes Kostüm.“

So sind sie also in der Aula der Schule angekommen, an der die Freundin des Dirigenten unterrichtet. Schamoni und Hoffmann haben sich kennengelernt bei der Inszenierung des 2011 uraufgeführten Studio-Braun-Stücks „Fahr zur Hölle, Ingo Sachs“ am Deutschen Theater in Berlin, bei dem der Jazz-Posaunist Sebastian Hoffmann die Orchesterleitung übernommen hatte. Die weiteren Musiker, die sich gerade durch die komplizierten Takte eines Ennio-Morricone-Stücks kämpfen, sind eine buntgemischte Gruppe.

Es sind einige vertraute Weggefährten Schamonis dabei, wie etwa der Schlagzeuger Matthias „Tex“ Strzoda (einst Gründungsmitglied von Studio Braun und unter anderem auch Andreas Dorau treu verbunden) und der Pianist Jonas Landerschier -Strzoda und Landerschier bildeten auch schon Schamonis Begleitband Little Machine. Lieven Brunckhorst spielte die kontrovers beurteilten Saxofonsoli auf den Blumfeld-Songs „Graue Wolken“ und „Wir sind frei“, daneben gehört er wie auch Landerschier und der Bassist Ali Busse zu Jan Delays Band Disko Number One. „Jedenfalls sind das alles Jazzer, außer Tex und mir“, stöhnt Rocko in einer Rauchpause mit Blick auf den Fußballplatz hinter der Schule: Klub Kosova spielt hier auf Grand, wie der Hamburger den Ascheplatz nennt.

Ennio Morricone habe die Musiker ganz schräge Dinge machen lassen, sagt Schamoni. Wie eben bei „La moglie piu bella“, dem Schaustück für Morricones Gesangsmuse Edda dell’Orso: „Das hat eine Zählzeit, die ich so in meinem Leben noch nie gezählt habe, wo auch unser Schlagzeuger immer denkt:,Wo sind die gerade?'“ Morricone gehe sehr weit, stelle Ansprüche an seine Zuhörer: „Er bringt einen in so dunkle, hohle Räume, wo man nicht genau weiß, wie man sich orientieren kann.“

Für seine Vorstellung von Orchester-Musik sieht Rocko Schamoni den italienischen Filmmusik-Meister als eines seiner Vorbilder an: „Ich habe da so einen Morricone’schen Ansatz“, sagt er. „Ich will natürlich schon, dass die Bläser genau sitzen und dass es auch mal knallt. Aber es darf genauso gerne in so einen dunklen Schacht runtergehen und sich da sieben Minuten lang verhalten, sodass man schon leicht irritiert dasitzt, bis man wieder auftaucht.“

Aus Deutschland kennt Schamoni keine Vorläufer für Pop mit Orchester, die seinen Maßstäben standhalten. Das habe historische Gründe: Weil Orchestersound assoziiert war „mit deutschem Spießertum und mit den Großvätern, mit denen man nichts mehr zu tun haben wollte“, sei eine Anti-Kultur enorm wichtig gewesen im Deutschland der 60erund 70er-Jahre. Erst nachdem „die Widerwehr gegen das politische Establishment richtig aufgestellt war und die Sechziger, Siebziger und Punkrock alles klargemacht hatten“, konnte man sich daran wagen, „mit glatten Sounds zu arbeiten oder mit Orchestersounds, die ja durchaus auch dissidentisch sein können“. In anderen Ländern habe man damit weniger Probleme gehabt.

Im Aufruf zum Crowdfunding für „Die Vergessenen“ hatte Schamoni bereits auf die von ihm gesehenen Unterschiede zwischen den Ländern hingewiesen: „Es gibt meiner Ansicht nach in Deutschland eine wunderbare Tradition toller Popmusik, die aber in der Öffentlichkeit bei Weitem nicht so wahrgenommen wird wie zum Beispiel die landesübliche Popmusik in England von den Engländern oder in Frankreich von den Franzosen und in Italien von den Italienern. Und auf diese tollen Musiker und Künstler und Songs möchte ich verweisen bei diesem Projekt.“

Gefragt, woran er diese Unterschiede festmache, sagt Schamoni: „Ich habe das Gefühl, dass in diesen Ländern die unsauberen Helden etwas mehr verehrt werden. Also: von Lucio Battisti über Celentano, der auch ein äußerst merkwürdiger Vogel ist, bis hin zu Serge Gainsbourg in Frankreich.“ Diese Sorte Typen sei hier nie so richtig geliebt und gepflegt worden.

Eine Ausnahme von der Regel sieht er allerdings in Udo Lindenberg. „Udo ist natürlich im weitesten Sinne so eine Art sonderbarer, schräger Typ“, bei den „Vergessenen“ ist er vertreten mit einer Textübersetzung: Lindenberg schrieb die deutschen Zeilen für Lucio Battistis „Unser freies Lied“. Frankreichs Vertreter im Feld ist Michel Piccoli: Der Schauspieler sang für die deutsche Fassung des Films „Die Dinge des Lebens“ als Duettpartner von Romy Schneider das „Lied für Helène“. Eigens für „Die Vergessenen“ wurde der Text zu „Michelangelo Antonioni“ von Caetano Veloso ins Deutsche übertragen -denselben Song hatte zuletzt auch Beck für seinen Beitrag zu einem Tribute-Album für den brasilianischen Tropicalia-Star ausgewählt.

Auf der Elbinsel haben die Musiker inzwischen ganz offenbar ihren Groove gefunden. Und wenn doch nicht, spricht Dirigent Hoffmann in ganz ruhigem Ton mit den Instrumentalisten. Tex Strzoda geht zwischendurch hinter den Bühnenvorhang zum Telefonieren, Lieven Brunckhorst badet sein Mundstück in einer Kaffeetasse voller Wasser, und die Kinder der zweiten Geige schauen geduldig zu. Mit dem freien Spiel übertreiben sie es noch nicht, aber dennoch rutscht Rocko Schamoni, der die Takes mit dem Diktafon mitschneidet, zwischendurch ein „Schon ganz schön Jazzrock“ heraus. Warnung oder Auszeichnung?

Später am Nachmittag in einem Café am Rande der City wird Schamoni bekennen, man gehe musikalisch ein großes Risiko ein: „Zwischen dem kleinen und dem großen Muck ist nur ein Spaltbreit Platz.“ Doch wenn die Leute sagten, es sei ganz schön muckig, „dann ist mir das total wurscht. Ich habe zum Glück eine diebische Freude daran, das auszuhalten.“ Gerade Jazzrock sei tatsächlich Feindesland, aber es mache Spaß, da zu wildern. „Da an der Grenze, wo man denkt: ,Oha, halten wir das noch aus?‘ Da bringt’s Spaß, weil es da irgendwie warm ist. Da muss man rumfuhrwerken und gucken.“

Das Spiel mit Geschmackstabus war Rocko Schamoni schon immer ein Ansporn, wenn man sich beispielsweise in Erinnerung ruft, dass er schon 1990, also acht Jahre vor Guildo Horn, mit dem Schlager-Schlachtross Michael Holm zusammenarbeitete. Ironie der Subkulturgeschichte: Rockos Fundamentalkritik an dem Schlager-Move, der sich einmal im Jahr durch St. Pauli wühlt, wurde zuletzt vielfach bei Facebook und Twitter weitergereicht. Auf der Probebühne lächelt er denn auch sein genießerisches Lächeln in Vorfreude auf die nächste Wendung. Mit Schlager hat das „Die Vergessenen“-Projekt nichts zu tun, aus der älteren Generation wird nur die von ihm sehr bewunderte Hildegard Knef gecovert und Manfred Krug, zu dessen Aufnahmen aus der DDR-Zeit Schamoni meint, kein Deutscher sei Marvin Gaye im Sound damals so nahegekommen.

Dann gibt es noch eine ganze Reihe Titel, deren Interpreten Rocko Schamoni sowohl zeitlich als auch vom Milieu her näher sind: GUZ aus der Schweiz sei genannt (alias Oliver Maurmann von Die Aeronauten), aus Hamburg Knarf Rellöm, Saal 2 und Die Regierung, aus Berlin die Lassie Singers (deren wundervoll depressivem „Ist das wieder so ’ne Phase“ mit interpretatorischer Freiheit ein „komischer goldener Glamour“ verpasst wird), das Jeans Team und Mutter, wobei deren grandioses „Die Erde wird der schönste Platz im All“, noch ein Wackelkandidat ist, weil sich Schamoni nicht sicher ist, ob er das Shouten des Mutter-Sängers nachahmen kann. Lustig in diesem Zusammenhang, dass Schamoni auch sagt, er habe nie versucht, so einen ausgestellten speziellen Style zu finden, wie ihn zum Beispiel Knarf Rellöm gesucht und gefunden hat. „Was ich bei ihm total gut finde. Aber das gehörte gar nicht in meinen Interessenfokus. Ich fand auch Bob Dylan nie interessant. Ich fand immer Sade besser als Bob Dylan.“

Sperrig, aber emotional seien die ausgesuchten Songs, beschreibt Rocko Schamoni die Kriterien der Wahl, wodurch sie sich automatisch einer Funktionalisierung von Musik verweigern, die Schamoni scharf kritisiert – das sogenannte Moods-Management des Radios, aber auch der meisten anderen Airplays in Cafés und Bars: „Morgens sollen die Leute aufwachen, dann sollen sie schön friedlich sein und nachmittags ein bisschen gute Laune bekommen, abends ein bisschen ruhiger werden. Die Gefühle werden gelenkt. Das finde ich abstoßend.“ Dabei sei der neue deutsche Emo-Schlager mit seinen immer gleichen öden Akkordfolgen ein besonders lästiger Bestandteil.

Man hat manchmal den Eindruck, dass sich Rocko Schamoni etwas zu sehr in seiner Idee vom richtigen Geschmack sonnt. Aber vielleicht ist das auch die Haltung von einem, der schon viel ausprobiert hat und dadurch ganz sicher weiß, was er nicht will. Für seine ersten beiden Platten bei der Polydor bekam er Anfang der Neunzigerjahre noch ein Budget von 750 000 Mark. Heute werde es für einen wie ihn schwierig mit einem so ambitionierten Projekt. „Kann sein, dass Roger Cicero das dann kriegt, aber ich bin zu sperrig für große Labels.“

Vor sieben Jahren fasste Rocko Schamoni sogar den Beschluss, ganz aufzuhören mit dem Plattenmachen: „Weil ich, damit das Album rauskommen konnte, 2 000 Euro aus meiner eigenen Tasche drauflegen musste, die ich nie wieder reinbekommen habe. Dadurch wird das Ganze zum Hobby. Und ich wollte kein Hobby ausüben, sondern einen Beruf, von dem ich leben kann. Ich habe mich beleidigt gefühlt von den Umständen. Und zum zweiten: Weil ich mich bei so was immer so aufreiße und mich total zerfleddere im Studio. Also wirklich vor die Hunde gehe. Vor allen Dingen, wenn’s ans Singen geht, weil ich nie an meine eigenen Ansprüche rankomme. Das hat mich so fertig gemacht, sich so zu öffnen, sich so kaputt zu machen dabei, und zu wissen: Man muss dafür 2000 Euro bezahlen, damit das andere Leute mitkriegen. Das war mir dann zu doof, ich dachte: ,Lass mal lieber stecken.'“

Stattdessen lebte Rocko Schamoni zuletzt von seinen Büchern – ein neues, „Fünf Löcher im Himmel“, ist für Oktober angekündigt – und vom Touren in Minimalbesetzung, mal alleine, mal zu zweit. Schön, dass die Zahlungsbereitschaft der vielen ihm mit seinem Orchester noch einmal einen Studiobesuch ermöglicht hat.

So ist nun die Probe zu Ende, werden die Instrumente eingepackt, sie müssen nur einmal über die Brücke und dann gleich rechts ab, nach Rothenburgsort, ins Studio Clouds Hill, das zuletzt sogar von der Boulevardpresse bestürmt wurde -weil Peter Doherty dort aufnahm. Hier nehmen Rocko Schamoni und seine Orchester musiker die Albumversion der „Vergessenen“ auf; eine Veröffentlichung ist für nächstes Frühjahr bei Staatsakt geplant. Auf Tour – durch Theater in Frankfurt, Hamburg, Kiel und Berlin – kommen Rocko und Orchester aber schon ab 26. August.