Schwestern unter sich


Das Material klang kalt, lieblos und fremd. Mehr als ein Jahr hatten die Scissor Sisters schon am neuen Album geschrieben, doch Jake Shears war mit nichts zufrieden. Der Knoten platzte auf einer Sexparty in Berlin. Doch lesen Sie selbst …

Es ist kurz nach sechs in der Früh. Auf der Tanzfläche drängeln sich Männer in engen Leder-Westen und knappen Latex-Shorts. Es wird getanzt, gefummelt und gefistet,der Boden ist versifft: aufgequollene Zigarettenstummel dümpeln in Pfützen verschütteter Drinks, aufgerissene Kondomhüllen (leer) liegen neben kleinen Plastiktütchen (abgesehen von weißen Pulverspuren ebenfalls leer) und vereinzelten Kondomen (nicht ganz so leer). Das bisschen Luft zwischen der Decke und den Köpfen riecht nach Rauch, Suff, Schweiß, Sex, Amylnitrat, Kot und Urin. Dann legt der DJ die ’79er-Schwulenhymne „Walk The Night“ von den Skatt Brothers auf – das Gemisch explodiert, ähnlich wie das im Zylinder eines Verbrennungsmotors. Einem Motor mit geschätzten 100 Kolben …

Wir reden hier nicht von New York 1984. Wir reden von Berlin 2009. Und so schmuddelig sich die Szenerie anhört, so essentiell ist sie für die Entstehungsgeschichte des neuen Albums der Scissor Sisters.

„Auf dieser Sexparty hatte ich eine Eingebung“, erzählt Sänger Jake Shears. „Es war, als wäre die Zeit stehen geblieben. Vielleicht lag es am Special K oder den anderen Drogen, auf alle Fälle wusste ich plötzlich, wie das neue Album klingen sollte und welche Emotionen die Songs erwecken sollten. Ich war immer fasziniert von den hedonistischen 80ern. Alles war voller Energie, und mit einem Schlag war die Party vorbei: Eine ganze Generation wurde durch AIDS ausgelöscht. Ich habe mich immer gefragt: Was wäre, wenn Klaus Nomi oder Sylvester nicht gestorben wären? Wie wäre die Party weitergegangen? Und wie würde sie heute klingen? Das ist die Idee hinter Night Work“.

Über ein Jahr hatten er und seine Bandkollegen Ana Matronic, Babydaddy, Del Marquis und Randy Real bereits im New Yorker Studio am Nachfolgealbum zu Ta-Dah gearbeitet, doch Shears war unzufrieden mit dem Ergebnis: „Ich hatte keine echte Beziehung zu den Songs. Sie waren kalt. Freudlos. Wir hatten zwar jeden Tag ein Studio zur Verfügung, wussten aber nicht genau, was wir eigentlich sagen wollten. Ich wusste, wenn wir die Songs veröffentlichen, dann würden wir es irgendwann bereuen. Also setzte ich mich in den Flieger nach Berlin, mietete mir für drei Monate eine Wohnung in Kreuzberg und drückte den Reset-Button.“

Es war nicht das erste Mal, dass ein Musiker Inspiration in Berlin suchte und fand, doch im Gegensatz zu David Bowie beispielsweise, der hier, angetrieben von seiner „White Diet“ bestehend aus Koks und Milch drei seiner düstersten Alben produzierte (Low, Heroes, Lodger), entdeckte Shears in Berlin die Freude am Leben wieder:

„Vorher fühlte ich mich fast wie eine alte Frau: unattraktiv, unkreativ. Mein Leben war langweilig, doch in Berlin war es auf einmal wieder wunderbar: Ich lernte tolle Menschen kennen. Ich nahm jede Menge, Happy Drugs‘, ging jeden Abend aus: Ich besuchte jede Schwulenparty, die stattfand, und sah Dinge, die ich nie für möglich gehalten hätte. Ich war nicht wirklich schockiert, sondern eher angenehm überrascht, dass es auf der Welt einen Platz gibt, wo so was Verrücktes stattfinden kann. Es war unheimlich inspirierend.“

Einer der „tollen Menschen“, die Shears kennen lernte, war Neil Tennant von den Pet Shop Boys. Der hat zusammen mit seinem Partner Chris Lowe eine Wohnung in Berlin, und er war es, der Shears den britischen Produzenten Stuart Price ans Herzen legte, einen Elektroniker, der schon für Madonna, Kylie Minogue und The Killers gearbeitet hatte.

„Ich kannte Stuart bereits. Wir waren gemeinsam mit seiner Band Zoot Woman auf Tour gewesen, und wir mochten uns. Als ich ihn anrief, sagte er, dass er alles stehen und liegen ließe, um mit uns ein Album zu produzieren. Mein Herz blieb vor Freude fast stehen. Ich ahnte zwar, dass Scott (Babydaddy) und Stuart gut miteinander auskommen würden, aber erst ein paar gemeinsame Clubnächte räumten jeden Zweifel aus. Die anschließenden Aufnahmen gingen dann sehr schnell. Der Knoten war geplatzt.“

Keiner der zuvor aufgenommenen und teilweise auch schon live gespiel-ten Tracks wie zum Beispiel „Television“ oder die Coverversion von Roxy Musics „Do The Strand“ schaffte es aufs neue Album. Stattdessen entstand die wohl schlüpfrigste Songliste seit Soft Cells Non-Stop Erotic Cabaret: „Harder You Get“, „Skintight“ und „Sex And Violence“ heißen ein paar der Titel, in denen die Freuden (und Leiden) exzessiver Sexualität besungen werden, oder auch schlicht „Any Which Way“, in dem Ana stöhnt „Take me any way you like it. In front of the fireplace. In front of your yacht. In front of my parents. I don’t give a damn, baby. Just take me!“

„Oberflächlich ist es ein Partyalbum“, sagt Shears. „Ein Tanzalbum. Und ein Album, zu dem man gut vögeln kann – alle außer mir, denn ich würde es niemals zu meiner eigenen Musik treiben. Aber das Album hat auch düstere Seiten: Auf „Harder You Get“ werden sexuelle Grenzen ausgelotet, und „Sex and Violence“ handelt davon, jemanden mit nach Hause zu nehmen und totzuschlagen. Und der knackige Hintern auf dem Cover ist nicht meiner, sondern der des Mitte der 80er an AIDS verstorbenen Balletttänzers Peter Reed, aufgenommen von Robert Mapplethorpe, der 1989 gestorben ist. Ebenfalls an AIDS.“

Es ist ein delikater Balanceakt zwischen Fun und Fatalismus, doch sowohl Ana als auch Jake wissen um die dunkleren Seiten des Lebens: Anas Vater, der jahrelang ein Doppelleben als verkappter Homosexueller führte, starb Ende der 80er an AIDS, und Jakes Coming-out wurde von seinem Vater alles Andere als begeistert aufgenommen. Früher quälten ihn deswegen Albträume, heute leidet Jake, der auf der Bühne meist wie ein Duracell-Bunny auf Speed wirkt, fernab vom Publikum unter Depressionen.

„Ich kämpfe damit seit unserer ersten Tour. Bei den Aufnahmen zu Ta-Dah war ich komplett katatonisch, stierte nur noch an die Wand. Ich hatte mich nicht richtig ernährt, zu wenig geschlafen, mich auf der Bühne verausgabt, zu viel Irres erlebt. Ich war erschöpft und habe meinem Hirn echten, chemischen Schaden zugefügt. Nur mit Therapie schaffte ich es raus aus diesem Loch, und seitdem bin ich – zumindest während der Arbeit – ein kompletter Gesundheitsfreak. Alkohol und Drogen sind auf Tour tabu.“

Die nächsten 18 Monaten wird er nun also abstinent leben, für das Album trommeln und Konzerte geben, auf prestigeträchtigen Festivals wie dem Glastonbury ebenso wie in kleinen Clubs wie dem New Yorker „Bowery Ballroom“. Denn obwohl die Scissor Sisters in Europa längst Superstars sind und Millionen von Alben verkaufen, gelten sie in ihrer prüden Heimat immer noch als ein obskurer Novelty Act: ein Zwischending aus schwuler Bloodhound Gang und intellektuellen Village People. Shears weiß um die Problematik:

„Wir wurden hier lange Zeit falsch verkauft. Unser Label wollte uns als Popband vermarkten. Die schickten uns zu ‚Dancing With The Stars‘, was unglaublich peinlich war. Dabei war es mir immer egal, ob Wal-Mart unser Album führt oder nicht. Die haben doch eh mehr Waffen als Musik im Regal. Das neue Album wird deshalb in den USA vom Indie-Label Downtown Records verlegt, und in der Ecke sehe ich uns auch – in der Tradition der Chili Peppers, Depeche Mode oder Nine Inch Nails: Bands, die ihre eigene Identität haben, Bands, die in ihrer eigenen Welt und nicht einem Genre existieren.“

Eine eigene Welt ist auch das Musical, an dem Shears nebenbei arbeitet, eine zeitraubende Angelegenheit. Doch Angst vor dem nächsten Burn-out hat der Amerikaner indes nicht: „Ich weiß jetzt, wie man zum anderen Ende des Tunnels kommt. Und wenn ich komplett ausgepowert bin, fliege ich einfach nach Berlin und lade meine Batterien wieder auf.“

Albumkritik S. 76

www.scissorsisters.com