Spurensuche


Unsere Autorin Amy Raphael arbeitete Anfang der 90er-Jahre als Redakteurin beim britischen Popkultur-Magazin „The Face“ und erlebte Britpop hautnah mit. Für uns hat sie auf einem Spaziergang durch London die Stätten des Britpop noch einmal besucht.

Ich lebte in einer winzigen Souterrainwohnung in Camden Town. In meinem Kopf war ich eigentlich in Amerika zu Hause, an der Westcoast vor allem: Hole und Nirvana waren Stammgäste auf meinem Plattenspieler. Ich war jung und schaute mir mindestens sechs Bands pro Woche an, manchmal auch zehn. Ich konnte gar nicht genug kriegen – Musik war mein Leben.

Ich wohnte gleich in der Nähe eines schummrigen, versifften Pubs namens „The Falcon“. Hier sah ich zum ersten Mal Morrissey an der Bar, hier lernte ich Damon Albarn kennen. Er sah unglaublich jung aus, mit seinen riesigen blauen Augen und diesen Haaren, die wie eine Puddingschale auf seinem Kopf klebten. Natürlich sprach man nur über Musik und die Konzerte, die man allabendlich besuchte. Ich besaß die beiden ersten Blur-Singles, „She’s So High“ und „There’s No Other Way“, die immer dann auf meinem Plattenspieler landeten, wenn ich eine Prise mitreißenden Pop brauchte. Ich schloss Damon ins Herz und begann, regelmäßig zu Blur-Gigs zu gehen.

London, vor allem Camden, war mit einem Mal ein unfassbar cooler Ort. Ich wechselte vom „Falcon“ zum „Good Mixer“, wo Graham Coxon, Blurs bebrillter Gitarrist, regelmäßig am Tresen abhing. Manchmal schien er sich zu erinnern, dass wir uns bereits mehrfach begegnet waren, manchmal starrte er mich nur ausdruckslos an. Ständig sah man neue Gesichter von gerade angesagten Bands: Sonya Madan von Echobelly etwa war da und Louise Wener von Sleeper. Ich erinnere mich noch dunkel, dass Gaz Coombes von Supergrass einmal auf dem Tisch tanzte. Es war letztlich ein stinknormaler Pub im Herzen von Camden Market, der aber langsam zum Brennpunkt einer neuen Szene mutierte. Nach dem „Good Mixer“ ging es meistens noch zu einem Gig ins „Barfly“, wo sowohl Blur als auch Oasis gerne auftraten. In Chalk Farm, nur ein Stück die Straße hoch, hatte sich Noel Gallagher Mitte der 90er eine große Doppelhaushälfte gekauft, die er „Supernova Heights“ taufte. Dort wohnten auch seine beiden Katzen „Benson“ und „Hedges“, benannt nach Noels Lieblingszigarettenmarke. Noel ging gern in den Pub „The Haverstock Arms“ auf der anderen Straßenseite, wo auch Damon verkehrte – bis zwischen Blur und Oasis die Blutfehde ausbrach.

Die Tatsache, dass Britpop eine eher männliche Angelegenheit war, machte eine Band wie Elastica, die zu drei Vierteln aus Frauen bestanden, umso aufregender. „Stutter“, ihre Debütsingle, erschien 1993 und war sicher nicht sonderlich originell, hatte aber diese post-punkige Energie, die dem eher poppigen Britpop abging. In jenem Jahr besuchte ich ihre Sängerin und Gitarristin Justine Frischmann in ihrer Wohnung, gleich in der Nähe der Kensington High Street. Sie war zu diesem Zeitpunkt nicht mehr mit Brett von Suede zusammen, sondern hatte nun ein Techtelmechtel mit Damon von Blur – ihre Beziehung sollte bis August 1998 dauern. Justine trug ein Adam-&-The-Ants-T-Shirt, eine abgegriffene Lederjacke und schwarze Leggings. Sie erzählte mir, dass sie sich immer – kaum dass sie zur Tür reinkommt – alle Kleider vom Leib reißt, dabei aber regelmäßig vergisst, dass die Fenster keine Vorhänge haben. „Und prompt hocken draußen die Blur-Fans auf einer Parkbank. Ich muss also auf Händen und Füßen durchs Wohnzimmer kriechen, um mir eine Tasse Tee zu machen“.

20 Jahre später scheint Britpop wie ein flüchtiger Traum. Ich spaziere durch die Berwick Street in Soho, wo das Cover von Oasis‘ (What’s The Story) Morning Glory? entstand. Auf der Plattenhülle ist die Straße noch blitzsauber, seit ein paar Jahren ist sie meistens mit Abfällen übersät. Es wirkt fast wie eine Metapher auf das marode England. Heute bleibe ich vom Müll verschont. Der englische Regen hat ihn weggespült.

Ich nehme die U-Bahn nach Camden und sehe mich fassungslos mit einem touristischen Mekka konfrontiert. Schnatternde Teenager aus aller Welt drängen sich durch die Straßen. Vom „Good Mixer“ scheint niemand Notiz zu nehmen. Ich werfe kurz einen Blick hinein und sehe noch ein paar alte Gesichter, doch Mitglieder von Menswear oder anderen hängengebliebenen Britpop-Losern sucht man auch in den dunkelsten Ecken vergebens. Das „Haverstock Arms“ und das „Barfly“ sehen zwar noch genauso aus wie damals, doch von einem Britpop-ähnlichen Esprit ist hier nichts mehr zu spüren.

Ich gehe die Steeles Road entlang und komme an Gallaghers altem Haus vorbei. Früher huschte Kate Moss hier im Morgengrauen heraus, doch inzwischen parkt ein teures Auto in der Einfahrt, man sieht Überwachungskameras und geschlossene Jalousien. Kein Hinweis darauf, dass „Little Britain“-Comedian David Walliams und seine Supermodel-Frau Lara Stone hier vor einigen Jahren einzogen. Für einen Moment packt mich die Nostalgie. Ich denke an meine verflossene Jugend, an die berauschende Zeit mit Blur, Oasis, Suede, Elastica und all den anderen. Britpop is dead. Long live Britpop.

1990

Der britische Journalist Steve Sutherland fasst im „Melody Maker“ erstmals eine Reihe von Londoner Bands in einem Artikel zusammen. Er nennt den losen Verbund von Freunden, die in Bands wie Blur, Moose, See See Rider und Stereolab spielen, „the scene that celebrates itself“.

Frühjahr 1992

Die Singles „Popscene“ von Blur und „The Drowners“ von Suede erscheinen und werden von der britischen Musikpresse gefeiert. Der „Melody Maker“ nennt Suede „The best new band in Britain“ und widmet ihnen eine Coverstory.

April 1993

Die Musikzeitschrift „Select“ befeuert die neue Bewegung mit dem Slogan „Yanks go home“ – und hebt den vor der Nationalflagge des Vereinigten Königreichs posierenden Suede-Sänger Brett Anderson aufs Cover.

Mai 1993

Alan McGee, Chef der Plattenfirma Creation (u. a. Ride, My Bloody Valentine), sieht Oasis live in Glasgow und gibt ihnen sofort einen Plattenvertrag.

Mai 1993

Modern Life Is Rubbish erscheint. Das zweite Album von Blur ersetzt den leicht schlaftablettigen Sound ihres Debüts Leisure durch energetischeren, vor allem aber textlich smarteren Beinahe-Glampop.