Step‒Brothers


Stress in der Familie Dubstep: Während der jüngere Bruder mit allerhand Geklingel die Arenen, Charts und Werbespots erobert, legt sich der alte den Zusatz „Post“ zu und verzieht sich in die Ecke. Dennoch die Prognose: Die Kirmes wird weiterziehen, die Nische spannend bleiben.

Das T-Shirt-Label des Comicduos Katz & Goldt nennt sich Rumpfkluft und verkauft T-Shirts, die mit allerhand lustigen Sprüchen und Bildern bedruckt sind. Hintersinnige Sachen zumeist, eben wie man es von den Bildergeschichten der beiden gewohnt ist. Ein Verkaufsschlager in diesem Jahr trug die Aufschrift „Post-Dubstep Forever“. Das ist lustig. Einerseits. Andererseits trifft es ins Volle – zumindest für alle Leute, die Dubstep nicht erst seit gestern kennen und für die Burials Untrue das bislang wegweisendste Album des Jahrtausends ist. Der ursprüngliche Dubstep nämlich, dessen tiefe Dub-Bässe aus britischen Kellerlöchern krochen und dessen synkopische Steps manch einem den Kopf verdrehten, hat einen Bruder bekommen – und der ist dem Älteren innerhalb weniger Monate über den Kopf gewachsen. Frecherweise lässt sich der Junge auch Dubstep rufen. Da hat sich der Alte lieber schnell in Post-Dubstep umgetauft. Damit da nichts durcheinander gerät.

2012 war das Jahr des jungen Bruders. Es war das Jahr, in dem der größenwahnsinnige Dubstep endgültig den Mainstream erreichte. Wohlgemerkt nicht den Club-Mainstream, denn ordentlich besuchte Dubstep-Partys gibt es selbst in der Provinz schon seit fünf, sechs Jahren. Gemeint ist der Mainstream, in dem sich die vier letzten verbliebenen Schatzinseln der Musikindustrie befinden: Awards! Arena-Konzerte! Nummer-eins-Hits! Werbeeinsätze! Skrillex – Boulevard und „Bravo“ nennen ihn nur noch „Mega-DJ“ – bunkerte sich im Frühjahr drei Grammys und zelebrierte seinen effekthascherischen Rummelplatz-Dubstep (Codename: Brostep) auf amerikanischen Sommerfestivals vor bis zu 80.000 Leuten. Klar, das ist Kirmes. Aber dumpf ist es nicht. Eher wie Metal mit digitalen Mitteln. Und wohl deshalb auch in den USA so erfolgreich: Worauf Mum und Dad früher bei „Enter Sandman“ abzielten, holen sich die Kinder jetzt bei Skrillex.

Auch ein paar Hits hat der ehemalige Screamo-Shouter Skrillex schon gelandet, doch das Rennen um die erste deutsche Dubstep-Nummer-eins gewann ein anderer: Alex Clare, 2006 für ein paar Monate mit Amy Winehouse zusammen, hatte sein Album The Lateness Of The Hour schon 2011 veröffentlicht. Der Szene war die Mischung suspekt: Oben herum braver Pop mit leichtem Soul-Einschlag, untenherum deftige Bässe, produziert vom US-Checkerduo Major Lazer. Die Masse zuckte verzögert auf die Single „Too Close“. Bis zum Refrain ist das Stück nicht furchtbar weit von James Blunt entfernt, dann kommen die enormen Wobbler-Bässe, die hier so simpel gehalten sind, dass man in der Disco dazu bangen kann. Im Mai 2012 stand der Song an der Spitze der deutschen Single-Charts.

Eine gute Portion Dubstep kann also aus leichten Liedchen echte Brecher machen – und zwar ganz ohne die Notwendigkeit, sich weitere Gedanken übers Songwriting zu machen. Logisch, dass diese Methode Nachahmer findet. Zum Beispiel Taylor Swift. Für viele Europäer mag sie nur eine unter den vielen kaum unterscheidbaren amerikanischen Pop’n’Country-Stimmchen sein, doch die Frau weiß sich sensationell zu verkaufen: 35 Millionen Dollar verdiente Taylor Swift im Jahr 2011, Platz eins in der Geldrangliste, vor U2 und Lady Gaga. Und sie weiß: Um ganz oben zu bleiben, muss man sich treu bleiben – und dennoch Neues probieren. Im Refrain ihrer 2012er-Single „I Knew You Were In Trouble“ holte sie den Dubstep-Hammer raus, und wer das Genre wirklich liebt, hört es mit Grausen.

Und dann wurde die Werbung auf Dubstep aufmerksam. Alex Clares „Too Close“ unterlegte den Spot für Windows‘ Internet Explorer 9. Keine große Überraschung, schließlich haben die Computergiganten immer ein Ohr am Puls der Zeit. Doch dann lief zur Fußball-EM dieser Dubstep-Mercedes-Spot. Zunächst ein Grund zur Freude: Vorbei die Zeit, als jeder Autobauer glaubte, seinen Absatz mit dem Einsatz von luftig-lauen Folk-Liedchen von frechen Feist-Kopien zu erhöhen. Stattdessen also Dubstep. „Guardians At The Gate“ heißt der Track zum Spot. Er erinnert zunächst an die Champions-League-Hymne, dann legen sich Beats wie Peitschenhiebe und vollendete Wobble-Bässe auf diesen orchestralen Kitsch; schließlich gleitet der zu bewerbende Mercedes zum Klang einer digitalen Kreissäge ins Bild. Werbung ist immer laut – aber diese 45 Sekunden übertrumpften alles: Ein Spot wie eine Attacke. Um einen Mercedes zu verkaufen.

Die Produzenten des Tracks sind Experten für Werbemusik, und weil sich diese Branche gerne selber entlarvt, nennen sie sich Audiomachine. Die Leute dort verstehen ihr Dubstep-Handwerk, keine Frage. Aber ist elektronische Musik nicht genau die Form von Musik, in der das Handwerk nicht zum Selbstzweck werden darf? Oder anders gefragt, wer braucht noch Dubstep, wenn es längst leicht bedienbare Software und Dubstep-Apps für 1,59 Euro gibt?

Darum hören die Checker heute Post-Dubstep. Und da gibt es einiges zu entdecken. Kahn aus Bristol, dessen träumerische Tracks mit Roboter-Vocals eine Brücke zum Chill-Wave schlagen. Oder Synkro aus Manchester, der so sehr die tiefen Frequenzen vernachlässigt, dass eine atmosphärische Garage-Version entsteht. Oder Biome, der Dubstep so sehr entrümpelt, dass klar wird, wie sehr das Genre seinen Wurzeln im Dub-Reggae hat.

Keiner dieser Kerle muss befürchten, dass morgen der Geist einer großen Plattenfirma in seiner Soundcloud erscheint und ein unmoralisches Angebot vorlegt. Der kleine Bruder des großen Dubstep hat sich in die Ecke verzogen. Er traut sich nicht einmal mehr auf die Partys, die in seinem Namen stattfinden, weil er keinen Bock hat, vom Geboller des großen Bruders an die Wand gerammt zu werden. Seine Visitenkarten sind daher wieder leicht überteuerte aber grandios klingende Twelve-Inch-Maxis. Sein T-Shirt gibt’s bei Katz und Goldt im Rumpfkluft-Store. Unter dem großen „Post-Dubstep Forever“ steht übrigens kleiner gedruckt: „Maybe not forever, but until 2014 (reicht ja auch)“. Der Witz ist gut. Die Wahrheit ist jedoch, dass dieses gute Zeug den Dubstep-Rummelplatz locker überleben wird. Es wird nur kaum jemand mitbekommen.