Tropfende Decken, Klaviermusik und die Beatsteaks als Überraschungsgäste – so war es beim Reeperbahn Festival 2014


Das Reeperbahn Festival findet jährlich auf Hamburgs berühmtester Straße statt. Dieses Jahr war es vom 17. bis 20. September wieder so weit: schier unzählige Programmpunkte - Konzerte, Sessions, Konferenzen in nahezu 80 Locations an und um die Reeperbahn herum im Rotlicht-Viertel St.Pauli.

Einmal im Jahr platzt die Hamburger Reeperbahn aus allen Nähten. Wenn sich die üblichen Partywütigen mit den rund 30.000 Fach- und Festivalbesuchern mischen, ist der Begriff „reges und buntes Treiben“ noch weit untertrieben. Das Reeperbahn Festival findet jährlich vier Tage lang im September statt und bietet etliche Programmpunkte – Konzerte, Konferenzen zu Themen der Musikbranche, Kunst und das Ganze verteilt in St. Pauli, dem Rotlichtviertel Hamburgs.

Kunstvoller Donnerstag: Heiße Angelegenheiten im Molotow und Performance-Art im Beton-Bunker

Die ganz großen Namen sucht man hier jedoch vergeblich, denn der Fokus liegt eindeutig darauf Neues kennenzulernen und sich inmitten der Club-Atmosphären verzaubern zu lassen. Ob nun ein schweißtreibendes Indie-Konzert der Briten von Childhood im wiedereröffneten Molotow oder eine Vorführung des deutschen Pianisten Hauschka in der Beton-Architektur des Mojo Clubs. Hektisches Hetzen von Location zu Location steht schon mal nicht auf der Tagesordnung. So findet man sich wieder im sogenannten Neidklub bei einem lärmendem, energiegeladenen Auftritt der kanadischen Punk-Band Dearly Beloved oder aber im futuristisch gestalteten Moondo mit Ballet School, einer Band, die sich an der Berliner U-Bahn-Station Rosenthaler Platz kennenlernte und die nun bei Bella Union unter Vertrag ist, das Label ihrer großen Vorbilder Cocteau Twins.

Den ein oder anderen namhaften Act konnte man sich beispielsweise am Donnerstagabend zu Gemüte führen oder sich eben bewusst gegen The Subways und Boys Noize entscheiden. In „Hamburgs Krimitheater“, dem Imperial Theater, traten nämlich zeitgleich Lisa-Kaindé and Naomi Diaz auf. Die beiden französisch-kubanischen Zwillingsschwestern nennen sich Ibeyi, was so viel bedeutet wie „Zwillinge“ und singen nicht nur auf Englisch, sondern ebenso in Yoruba, die Sprache ihrer afrikanischen Vorfahren. Die beiden sind blutjung, aber lassen das Publikum mit einer Prise offensichtlicher Nervosität und Verlegenheit schmunzeln und selbst ein Texthänger wird verziehen, da sie mit ihrem rohen, authentischen Sound und nahezu lieblichen Stimmen jeden Anwesenden dennoch um den Finger wickeln.

Kontraste am Freitag: Möchtegern-Rock’n’Roll, zarte Stimmchen und die Beatsteaks

Aspekte wie Kunst und aktuelle Branchenthemen kommen jedoch auch nicht zu kurz. Während sich die Menschenmassen über die sündigste Meile der Welt zu den Showcases von Universal, Warner oder Sony schieben, gestalten Graffiti-Künstler Leinwände von riesigen Ausmaßen und spricht Herbert Grönemeyer im Schmidt Theater über Streaming-Kultur. Unbekanntere Künstler wie etwa die australische Sängerin Gossling, die mit süßer mädchenhafter Stimme und Polka-Dot-Hemdchen die Anwesenden an eine junge Kate Bush erinnerte, mussten gegen eine der größten deutschen Bands ankommen – die Beatsteaks. Diese spielten einen spontanen Überraschungs-Gig im Rahmen des Warner Showcase, was zu einem Einlass-Stop im entsprechenden Club und zu hitziger Stimmung im Publikum führte.

Gleichzeitig inszenierten Triggerfinger beim Universal Showcase in der Großen Freiheit ihren üblichen breitbeinigen Poser-Rock’n’Roll nur ohne echten Rock’n’Roll und glücklicherweise ohne Lykke-Li-Cover. Der 24-jährige irische Singer-Songwriter Andrew Hozier-Byrne bot an diesem Freitagabend das Kontrastprogramm zu Triggerfinger: er ersetzte das Bier durch einen Tee und großes Rock-Gehabe durch schüchternes Winken ins Publikum. Seine Pop-Balladen verzauberten daraufhin nicht nur die Mädels in den ersten Reihen. 

Abschluss am Samstag: Architektur, Chicken Dance und Antilopen-Masken

Wie bereits im vergangenen Jahr kamen auch die Kunst- und Architektur-Interessierten auf ihre Kosten. Insgesamt wurden am Samstagnachmittag zwei Führungen durch die Elbphilharmonie angeboten, ein Millionen-Projekt des Schweizer Architekturbüros Herzog & de Meuron, das sich bereits seit sieben Jahr im Bau befindet und laut Angaben der Stadt Anfang 2017 eröffnet werden soll. Eine Kooperation mit dem Reeperbahn Festival sei denkbar und scheint von Seiten des Konzerthauses nicht ausgeschlossen.

Am Wochenende fanden schließlich auch die Arbeitstätigen den Weg auf die Reeperbahn und die konnten sich ohne Eintrittskarte oder Bändchen an der ein oder anderen Band erfreuen, die entweder auf der kleinen Bühne des N-Joy-Reeperbus auftraten oder schlichtweg auf der Straße spielten. Einige Künstler wie The Majority Says, Klaus Johann Grobe oder der Kölner DJ Roosevelt ließen es sich nicht nehmen, zwei Auftritte beim Festival hinzulegen.

Und auch an diesem Abend ist der Versuch sich einen Überblick über das Geschehen in den nahezu 80 Clubs, Cafés und Lokalen zu verschaffen, eine echte Herausforderung. Das französische Duo The Dø schaffte es trotz Streik an Pariser Flughäfen pünktlich auf die Bühne der Großen Freiheit und präsentierte eine Reihe neuer teils tanzbarer, teils sentimental angehauchter Pop-Songs. Die zierliche Sängerin Olivia Merilahti könnte in ihrem roten Overall mit Band-Logo-Print, den Rüschensocken und Turnschuhen mit Klettverschluss ebenso einer TV-Sendung für Kinder entsprungen sein, wirkte jedoch auf skurrile Art und Weise sympathisch. Skurril schien ohnehin das Motto des letzten Festival-Abends zu sein, denn Judith Holofernes forderte ihr Publikum zum „funky, not so funky chicken dance“ auf und performte in ihrer gekonnt naiven Art Stücke über kleine Mädchen, Jonathan, den Kellner und ein Elvis-Costello-Cover.

Ein Highlight des Abends fand in der St. Pauli Kirche statt. Dort trat Lambert, ein maskierter deutscher Pianist auf. Ein Mann, in Schwarz gekleidet, mit einer von einer Antilope inspirierten Maske, der schwerelose, schöne Klavierstücke voller Träumerei und Melancholie zum Besten gibt. Zwischen den Stücken steckt er sich das Mikro unter die Maske und erzählt von seinen Inspirationen – Joggen, Schnitzel essen und ein Instrument seines Großvaters. „Was ich als nächstes spiele, weiß ich nicht“, teilte Lambert schulterzuckend mit, „Ich kann meine Setlist nämlich nicht lesen.“ und ließ das Publikum im nächsten Moment wieder in sanften Piano-Melodien versinken.

Das Motto „Zu viel Kultur für viel zu wenig Zeit“ wäre eine angemessene Umschreibung dieses ereignisreichen Festivals. Andererseits werden hier die unterschiedlichsten Geschmäcker bedient und man möchte meinen, es sei für jeden etwas dabei. Ein innerstädtisches Kultur-Erlebnis ist das Reeperbahn Festival allemal. Irgendwo zwischen Rotlicht, der Elbe und Sex-Shops kann hier ausgiebig gefeiert werden und im Gegenteil zu anderen Festivals ist hier Sonntagmorgen Schluss und es kann sich noch ausgiebig erholt werden. Von so viel Musik und Kunst und Kultur.