Udo Lindenberg


Skeptiker, Zweifler und Neider werden wohl oder übel umdenken müssen. Udo Lindenberg, 31, Ziehvater der deutschsprachigen Rock-Kultur, hat die Krise in der Mitte seiner Karriere überwunden. Die letzte Platte ließ es ahnen, die jüngste Tournee bewies es. Werner Zeppenfeld sah die Lindenberg-Show in Essen.

Treulich habe ich einem Bekannten, so einem selbstbewußten Rock-Konsumenten, erzählt, daß ich beim Lindenberg war. Er hat mich vielsagend angeguckt und gemeint, da wäre es ja nur noch eine Frage der Zeit, bis ich ihm was von Peter Maffay vorschwärmen würde. Die ZDF-Hitparade sähe ich doch bestimmt auch schon regelmäßig?

Fiasko und Wiederaufstieg

Mich hats eigentlich kaum angefochten, nur: von dieser Sorte Mensch gibt’s so unsäglich viele. Dem Zeitgeschmack prinzipiell um Lichtjahre voraus, natürlich auch unter den ersten gewesen, die auf Lindenberg gestanden haben, damals, „Daumen im Wind“ und als auf der „Andrea Doria“ noch alles klar war. Wie sich der ganze Rock-Pöbel dann auf dem „Ball Pompös“ zu drängeln begann, haben sie sich naserümpfend abgesetzt, über den „Sprücheklopper“ noch ein paar Sprüche geklopft, bei „Wotan Wahnwitz“ na ja und bei „Galaxo Gang“ au weia gesagt und Lindenberg dann ganz aus ihrem unbefleckten Avantgarde-Bewußtsein getilgt. Bis heute würden sie sich eher den kleinen Finger abhacken als ihr schickes Insider-Renommee durch den Besuch eines Udo-Auftritts zu strapazieren. Solche Borniertheit hat ihnen in der Tat das Live- und Langrillen-Fiasko mit Namen „Sister King Kong“ erspart. Aber an ihnen ist auch die überraschende Wiedergeburt jenes Phänomens vorübergegangen, das einmal stellvertretend stehen wird nicht nur für die Hamburger, sondern für die gesamte deutsche Rock-Szenerie des ablaufenden Jahrzehnts.

Schon mit der achten LP hatte Lindenberg seinen Kritikern alles andere als den Gefallen getan, den letzten Nagel in seinen allenthalben herbeiorakelten Schallplattensarg zu hämmern. „Panische Nächte“ wurde schlicht das Nonplusultra seiner bisherigen Soloambitionen. Und die in diesen Tagen zuendegegangene Mammuttournee durch 36 Städte deutet einmal mehr darauf hin, daß mit unserem Udo wieder zu rechnen

Viertausend Fans wurden in Essen ganz prächtig unterhalten

Ich habe mir die 78er Tour in Essen angeschaut – und mich prächtig amüsiert, zusammen mit viertausend wahrhaftigen Fans. Mein Gott, von so einem Publikum kann jeder andere deutsche Artist nur träumen. Da singen Teenie-Pärchen, die aus Strampelhosen direkt in Keine-Panik-Jeans hineingewachsen sind, voller Inbrunst den kompletten Text von „Sie war 40“ mit; da werden bierschwitzende Rot-Weiß-Essen-Rüpel zu lammfrommen „Bodo-Ballermann“-Chorknaben; da kühlt sich die toupierte Mittdreißigerin im neuen Karstadt-Pelz auf der halben Strecke von Udos „Erster Liebe“ mit kaltem Händchen die glühende Wange. Eins ist Lindenberg längst: ein Volkskünstler im wahrsten Sinne des Wortes, einer, der die Alltagsrealität und die flüchtigen Illusionen abertausender rockbegeisterter Jugendlicher verstanden und in so populäre Formeln gegossen hat, daß jeder sich in ihnen wiederfinden kann. Da stört es auch niemanden, daß Lindenberg für die meisten längst kein Altersgenosse mehr ist: auf der Bühne steht halt Onkel Udo, Autorität und Kumpel zugleich. Wie kumpelig er sein kann, wie gründlich er seine blasierte Flippigkeit des letzten Jahres wieder über Bord geworfen hat, das belegen am ehesten die unkalkulierten kleinen Pannen am Rande. Etwa, wenn da ein weinflaschenschwankender Zeitgenosse auf die Bühne stolpert und ihn an seinem privaten Promille-Fest teilhaben lassen will, ein Roadie den wankenden Störenfried schon am Kragen hat – und Udo gelassen abwinkt: statt Rausschmiß ist ein untergehakter Pas de deux auf den Rock-Brettern angesagt.

Udo schafft sich. Zweieinhalb Stunden lang hängt er den wüsten Rocker raus, oder eigentlich eher: dessen Karikatur. Er schlüpft linkisch zwischen den Monitorboxen herum, schlenkert mit krampfhafter Lässigkeit das Mikrofon durch die Luft, verwackelt mit schlaksigen Hüftschwüngen seinen allerletzten Anflug erotischer Ausstrahlung. Natürlich parodiert er niemanden, es ist halt Udo, und man könnte ihn herzen für seine rührende Unbeholfenheit.

Rockige Sektlaune auf der Bühne

Unentwegt sucht er den Dialog mit dem Publikum, und wenn spontane Rückmeldungen kommen, blüht er förmlich auf. Nicht minder viel Spaß scheint der Auftritt seiner ausgezeichneten Musiker-Riege zu machen, die loslegt, als wäre sie gerade im Begriff, den Rock’n‘ Roll zu erfinden: „Sweet“ Steffi Stephan (30) am Baß, Jean-Jaques Kravetz (30) an den Keyboards, Thomas Kretschmer (29) und Paul Vincent (27) an den Gitarren. Leicht aus dem Rahmen unkomplizierter Natürlichkeit fällt nur Bertram Engel (19): mit pfauenhafter Eitelkeit setzt er seine durch einen schwarzen Tarzanschlüpferkaum verhüllte Göttergestalt zwischen den Pauken in Pose.

Die rockige Sektlaune auf der Bühne macht auch vor den sieben gesetzten „Pustefix-Bläsern“ der Herbolzheimer-Truppe (Derrick Watkins, Wilton Gaynor, James Tofsey, Ian Hammer, Jan Oosthof und Rudi Füsers samt behäbigem Bandleader) nicht halt. Sie swingen kräftig mit, verpassen dem ohnehin schon kernigen Sound ein Blechkorsett, das sich fürwahr hören lassen kann.

Ein Genuß sind auch die drei deutschen Rock-Ladies, denen Lindenberg ein Forum für breiteste Publicity bietet und das mit einem Minimum an männlicher Gönnerlaune. Da ist natürlich zuvorderst Jutta Weinhold (25), eine teutonische Tina Turner, die mit brünftiger Stimme eine so geile Show hinlegt, daß die Jungs im Parkett glasige Augen kriegen. Jedesmal, wenn ich sie live sehe, ärgere ich mich wieder aufs neue über ihr total verwässertes Plattendebüt. Dann Ingeborg Thomsen (28), bekannt geworden als Schockerin bei Rudolf Rock, nicht ganz so vokalgewaltig und rein äußerlich der exakte Gegenpol zur Weinhold: wo diese ihre hüftlange schwarze Mähne über’s wogende T-Shirt fliegen läßt, wackeln bei der hochgeschlossenen Thomson allenfalls der züchtige blonde Pferdeschwanz und die Rock ’n‘ Roll-Gumrnieknie. Dazwischen die knabenhafte Ulla Meinecke (24), mit einer Stimme, die auch Schlagerproduzenten würde aufhorchen lassen, aber auch mit einem Köpfchen, dem man unemanzipiertes Trivialgestammel wohl kaum abverlangen könnte. Ihr Song „Was hat er dir denn zu bieten“ beweist das genauso wie ihre Mitautorenschaft bei Udos „Sie ist 40“ und „Schneewittchen“. Dieser letzte Song über die Kinderkiller vom Rauschgiftsyndikat nämlich ist musikalisch und textlich das Beste, das Udo je in die Rille und auf die Bühne gebracht hat – wer beim Todesflash im Bahnhofsklo keine Gänsehaut kriegt, kriegt nie mehr eine.

Udo rockt quer durch die Rockgeschichte

Überhaupt hat Lindenberg für seine Show nur die besten Songs aus seinem satten Plattenfundus rausgepickt. Rührselige Peinlichkeiten vom Schlage eines „Radio Song oder eines „Sie war 14“ bleiben ausgespart, Belanglosigkeiten (wie der overgagte „Cowboy“) sind die Ausnahme. Die optischen Kalauer der letzten Tourneen spuken zwar immer noch in King-Kong-Pose und Mutanten-Manier über die Bühne, aber angesichts der packenden Musikalität der Show offenbaren sie sich als das, was sie schon immer hätten sein müssen: peppiger Zuckerguß statt alles verkleisternder Gag-Soße.

Die „Panischen Nächte“ wurden (natürlich) fast ganz vorgestellt, die Lindenbergschen Evergreens in einem routinierten Zusammenschnitt abgehakt. Für die musikalische Überraschung des Abends sorgte Udo mit einem pfiffig-nostalgischen Rock-Medley, das all jene Klassiker in zum Teil souverän eingedeutschten Versionen präsentierte, mit denen er und sein Publikum akustisch aufgewachsen sind: von „Tutti Frutti“ über „Johnny B.Goode“ und „We’ve Got To Get Out Of This Place“ bis „Penny Lane“. Und dem Vernehmen nach soll diese historische Rock-Revue auch ein Glanzlicht von Udos Neunter abgeben, deren Erscheinen noch für das Frühjahr angekündigt ist.