Wie Bushido 2005 im ME-Interview über Aggression, Aggro Berlin und sein neues Album „ELECTRO GHETTO“ spricht


Ein Fundstück aus unserem Archiv: Christoph Lindemann sprach vor 10 Jahren ausführlich mit einem jungen Rapper namens Bushido, unter anderem über juristische Konflikte. Hier das Interview.

Je nach Sichtweise liegt die Musikexpress-Ausgabe 01/2005 erst oder eben schon zehn Jahre zurück – wenn man sich ihre Inhalte anschaut, kann man wohl beide Perspektiven gleichermaßen einnehmen. So widmeten wir Tocotronic zur Veröffentlichung von PURE VERNUNFT DARF NIEMALS SIEGEN zum ersten Mal eine ausführliche Cover-Story und ließen die drei Münchner von Sportfreunde Stiller im Fotoshooting ihren ganz persönlichen Härtetest an Instrumenten durchführen. Außerdem führte Christoph Lindemann für uns ein Interview mit Bushido über Selbstjustiz und das Berliner Ghetto. Bereits damals bekannte der „ehemalige Drogendealer“, dass er wohl für immer „aggro“ bliebe. Lest hier das vollständige Interview mit dem Namen, der auch 2015 noch, nun ja, Schlagzeilen schreibt.

„Wahre Angst muss man eh nur vor Gott haben“ – Bushido im Interview im Jahr 2004, erschienen im Musikexpress 01/2005

„Ich bin und bleibe aggro, an meiner Einstellung hat sich nichts geändert“, sagt Bushido, obwohl er im Sommer das Label Aggro Berlin verlassen hat. Das neue Album des Rappers und ehemaligen Drogendealers erreichte die Top 10.

„Aggression“ kommt aus dem Lateinischen (aggredi: „herangehen“, „angreifen“) und bezeichnet feindseliges Verhalten, das die eigenen Interessen unter Verletzung der Interessen des Gegenübers durchzusetzen sucht. In einigen Gegenden in Berlin Kreuzberg, Wedding, Moabit und Schöneberg, im „Ghetto“, einer „Hölle aus Beton“, wie Bushido sagt, gehört das sonst besonders im Tierreich verbreitete Verhalten zur Tagesordnung. Der Sohn einer deutschen Mutter und eines tunesischen Vaters beendete das Gymnasium vorzeitig, gehörte Straßengangs an und verdiente Geld mit Drogengeschäften. Nach einer gerichtlich angeordneten Lehre zum Maler und Lackierer im Ausbildungsheim am Wannsee nahm er sein erstes Tape auf und kam bald bei Aggro Berlin unter Vertrag. Sein aktuelles Erfolgsalbum Electro Ghetto erschien bei dem Major-Label Universal.

ME: Was bedeutet dein Name ?

Bushido: Bushido kommt aus dem Japanischen und ist der Ehrenkodex der Samurai. Da steht drin, wie man ehrenvoll leben und sterben kann.

In der ausführlichen Lehrschrift der Samurai, der Hagakure, geht es viel darum, wie man sein Gesicht bewahrt – ist das wichtig im „Ghetto“?

Moment! Ich möchte nicht darauf rumreiten, dass ich irgendwie aus dem Ghetto komme. Dieses Wort hab ich bewusst übernommen, weil die Leute das nicht akzeptieren. Ich lebe aber in einer Realität, von der man anerkennen muss, dass es sie gibt. Da herrschen zwar keine amerikanischen Verhältnisse, obwohl letzte Woche zwei Leute, die meine Freunde kannten, wegen Blutfehden auf offener Straße erschossen wurden. Aber es gibt da auch die Gewalt, die Drogen, die Verhaltensweisen. Es ist gefährlich und kompliziert. Jetzt zu deiner Frage: Für mich ist immer notwendig, dass ich mich korrekt verhalte, damit ich mein Gesicht wahren kann. Ich hab mich oft geschlagen und einen Riesenstreit mit Aggro Berlin gehabt. Nur wenn ich mich korrekt verhalte, kann ich mit so was abschließen.

Du bist über ein Label bekannt geworden, das sich Aggression auf die Fahne geschrieben hat. Gegen wen richtet sich das bei Aggro Berlin ?

Jetzt wahrscheinlich nur noch gegen mich. Und bald gegen niemanden mehr. Außer Selbstverherrlichung ist da kein Thema angesagt. Gold hier, Gold da, Kette hier … Das ist für mich primitiver, als manche Leute sogar mich einstufen würden.

In welcher Form erlebt man Aggression, wenn man in Kreuzberg aufgewachsen ist?

Die erste Begegnung damit hatte ich in der Grundschule, als ich mich mit einem dicken Idioten so krass geprügelt hab, dass meine Mutter oft reinkommen musste. Der hat immer Hurensohn zu mir gesagt. Das geht halt nicht. Und dann kommt es darauf an, wie sich dein Leben entwickelt. Gehst du schön zur Schule, hast einen anständigen Freundeskreis, dann bekommst du die Aggression nicht so mit. Außer wenn du noch mit der BVG fahren musst, dann wird dir das Portemonnaie abgezogen, weil du halt ’ne reiche Schwuchtel bist. Das ist dann auch okay, einmal im Monat.

Was ist die Alternative?

Du hast asslige Freunde, nimmst und verkaufst Drogen. Du schmeißt die Schule, wirst mit der Polizei konfrontiert. Da kommst du dann mit verschiedenen Arten von Aggression in Berührung: Ziehst du selber Leute ab, wirst du abgezogen? Ich hab nie Schulkameraden die Monatsmarke oder die Jacke geklaut. Aber die Drogen und das Geld schon. Da haben wir halt ’ne eigene Moral: Es ist nicht okay, dir deinen Walkman zu klauen. Aber 4.000 Mark Drogengeld und 200 „E“s: kein Problem. Nehm ich dir weg, cool, hab ich’s.

Und das gibt natürlich Ärger.

Theoretisch, ja. Wenn du extrem primitiv bist, dann musst du dir viel mit Gewalt erkaufen. Wenn ich Leute abgezogen hab, musste ich niemanden schlagen. Die haben erkannt: Heute hab ich die Arschkarte gezogen. Ich muss nur schauen, dass ich am längeren Hebel sitze. Das hängt natürlich damit zusammen, dass man gewisses Charisma und auf der anderen Seite natürlich auch böse Freunde hat. Dann musst du selber gar nicht viel machen.

Hast du Angst kennengelernt?

Auf jeden Fall. Das ist nichts Peinliches. Aber wahre Angst muss man eh nur vor Gott haben.

Und vor den Typen, die auch böse Freunde hatten.

Ne, die hab ich ja in Ruhe gelassen. Man rechnet sich vorher aus, wer das schwächste Glied ist. Natürliche Auslese. Also, wir haben die ja nicht umgebracht.

Bist du leicht reizbar?

Theoretisch ja. Aber nur, weil ich Sachen sehr, sehr ernst nehme und so gut wie möglich alles in sehr kurzer Zeit machen will. Ich flippe schon aus, wenn du beim Schuheanziehen eine SMS schreibst, aber dafür mit dem Schuheanziehen aufhörst. Da sag ich auch, bis‘ du behindert? Zieh doch deine Schuhe an und schreib dabei SMS.

Hast du selbst Gewalt erfahren?

Natürlich. Ich hab auch auf die Fresse bekommen, und man hat mir 400 „E“s, das Handy und die Jacke weggenommen. Danach lag ich im Krankenhaus. Das brauchst du auch. Wenn du als kleiner Junge nicht auf die Herdplatte gefasst hast, siehst du eigentlich keinen Grund, auf deine Mama zu hören.

Kann man im „Ghetto“ gut leben, wenn man versucht, jegliche Form von Aggression zu vermeiden?

Ja. Es gibt verschiedene „Berufe“. Es gibt Soldaten, die ihre Aggressionen mit dem Körper ausleben. Dann gibt es auch so Leute wie bei „Der Pate“ der Consigliere, der einfach ein Ratgeber ist. Der hat keine krassen Muskeln, geht auch nicht pumpen, ist kein Schlägertyp. Hat aber Respekt und bringt seine Intelligenz mit ein. Du brauchst ja auch Nervenenden, die dem Muskel sagen, wann er kontrahieren soll.

Wie reagiert man am besten auf Aggression?

Inzwischen würde ich sagen: solange niemand meine Mutter beleidigt, versuche ich immer zu chillen, Alter. Ich hab gar keinen Bock, mir für irgend ’ne Scheiße die Fresse einzuschlagen. Dafür ist die Gesundheit zu wertvoll. Ich verdiene mit Musik Geld. Wenn ich morgen taub wäre, dann wäre halt Hartz IV.

Solange niemand meine Mutter beleidigt, versuche ich immer zu chillen.

Kann es auch befriedigend sein, Konflikte juristisch auszutragen?

Nein. Wenn ich einen guten Anwalt habe, hat das ja mit mir nichts zu tun. Dann ist der Anwalt cool. Nur das mit Aggro ging nicht mehr anders. Entweder Riesenstreit oder sich irgendwie gerichtlich einigen. Ich hab keinen Bock auf Blutfehden-Massaker. Ich wollte nur den Arbeitgeber wechseln.

Der 75-jährige Mann, der letztes Jahr deinen Freund Maxim im Supermarkt erstochen hat, ist freigesprochen worden. War das für dich Gerechtigkeit?

Für mich persönlich war es keine Gerechtigkeit. So funktioniert eben das System, in dem wir wählen gehen. Auch wenn das in Revision geht – da wird sich nichts mehr ändern. Wir hätten unsere Gerechtigkeit sowieso anders vollzogen. Aber ich misch mich da nicht ein. Wir können damit leben, dass uns jetzt Ungerechtigkeit widerfährt. Wir glauben eher an Gott. Das ist unser Richter. Der Mörder ist freigesprochen worden, aber er kommt eh in die Hölle.

Auf deiner Platte sagst du: „Ich stell mich hin und zieh die Knarre, wenn der Mörder kommt.“ Denkst du trotzdem manchmal an Selbstjustiz?

Ein Stück weit ja. Ich spiel mit dem Gedanken. Ich sag nicht, dass ich das selber mach. Eigentlich dürfen wir auch nicht über andere richten. So steht es im Koran geschrieben. Ob wir es machen, ist eine andere Sache. Ich dürfte mich ja eigentlich auch nicht tätowieren lassen. Aber ich hab es trotzdem getan, denn Gott weiß schon, ob ich ein guter Mensch war.

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