„Wir waren Welpen“


Gemurmelte Texte, peinliche Erkenntnisse, große Vorbilder und das Hohelied auf die künstlerische Unabhängigkeit: Michael Stipe über die Zeit, als R.E.M. noch indie waren. Und auch so klanaen.

Wir schreiben das Jahr 2006, US-Truppen stehen im Irak, und R.E.M. veröffentlichen einen Song mit dem Titel „Welcome To The Occupation „. Klingt das nicht irgendwie zynisch ? Oh ja. Als dieser Song geschrieben wurde …

… vor genau 20 Jahren…

… da waren ich und eine Reihe anderer Leute in den USA ziemlich frustriert von der Reagan- und Bush-Administration. Wir empfanden das als dunkelstes Mittelalter der US-Politik und konnten uns nicht vorstellen, dass es noch schlimmer werden würde. Und nun sitzen wir heute hier beisammen und wissen alle: es kann.

Was war der Anlass für diesen Schwenk zu politischen Themen?

Wir sprechen über 1986, Reagan war eben wiedergewählt worden. Die Weiterentwicklung unserer Musik hat aber weniger mit Politik zu tun als mit der Entwicklung der Band. Als wir zusammenkamen, da war ich gerade mal 19 Jahre alt, unser erstes Konzert gaben wir, als ich knapp 20 war, und als wir unseren ersten Plattenvertrag erhielten, da war ich 22. Wir sind sozusagen in der Öffentlichkeit groß geworden. Das ist es, was ich an Bands wie den Ramones so bewundere. Das erste Bild, das ich von ihnen sah, zeigte sie schon als fertige Band. Sie hatten den Look, sie hatten die Refrains, sie hatten die Optik, sie hatten den Sound, sie hatten die Songs, sie hatten sogar die Namen – sie waren ja alle Ramones. Als sie in Erscheinung traten, waren sie schon fertig – und haben sich seitdem auch nicht mehr nennenswert verändert, bei Gott. Sie spielten ober auch 25 Jahre lang denselben Song, wenn man so will Umso besser! Sie hatten etwas zu sagen. Niemand hat es vor oder nach ihnen so gut rübergebracht. Und R.E.M.? Wir waren Welpen dagegen! Wir hatten noch nie Popsongs geschrieben, sind noch nie zuvor in einem Studio gewesen. Als wir „Radio Free Europe“ aufnahmen, waren das unsere allerersten Stunden in einem Tonstudio. Bei den ersten beiden Platten sind wir so vorgegangen, dass wir einfach das, was wir live machten, auf Band bannten. Ich benutzte meine Stimme mehr wie ein Instrument, als Werkzeug für Lautmalereien …

Was ja ständig zu prekären Situationen gefuhrt haben muss.

Allerdings, bei jedem Song, bei jeder Show. Bis wir reckoning aufgenommen haben, wusste ich nicht, dass der Bass die tiefen Töne macht! Verstehst du? Ich wusste, dass der Bass nur vier Saiten hat, aber das war’s auch schon. Wir hatten seit zwei Jahren einen Plattenvertrag, als ich diese Entdeckung machte. Ich meine, wie bescheuert ist das eigentlich?

Es geht. Du warst ja der Songer… Ach ja? Nun, die Tatsache, dass es Gesangsarrangements gibt, war mir bis zu den Aufnahmen für „Life’s Rich Pageant“ vollkommen unbekannt. Wir waren im Studio, AI Green nahm gerade etwas auf, und da war Mavis Staples von den Staple Singers, eine echte Legende. Wir hockten abends beisammen und Staples fragte, wann wir die Vokalharmonien arrangieren. Ich erinnere mich, dass in diesem Moment in meinem Kopf ein Licht anging: „Hoppla! Man kann Gesang ,arrangieren‘!“ Das hast du aber nicht laut ausgesprochen!

Ich fürchte schon. Al Green, Mavis Staples und wir – in einem Studio. Das gehört zu meinen absurderen Erinnerungen.

Dos grolle Ratset seit murmuR: Ist das wirklich nur Gemurmel oder singt dieser Michael Stipe richtige Texte?

Oh, es sind noch immer keine Texte für mich, da stecken Phrasen und Sätze drin, die überhaupt keinen Sinn ergeben. Spätestens bei FABLES OF THE reconstruction hatte sich diese Masche erschöpft. Irgendwie klang es nicht mehr gut, meine Live-Methoden im Studio zu reproduzieren. Mir war klar, dass sich etwas ändern musste, und so tat ich das Naheliegendste: Ich begann, erzählende Texte über Leute in meiner näheren Umgebung zu schreiben, und das war damals Georgia. Ich fiktionalisierte diese Charaktere, weshalb FABLES OF THE reconstruction für mich ein gewaltiger Sprung nach vorne war. Ich bin bis heute ein Geschichtenerzähler geblieben. Politische Themen schlichen sich erst damals in die Texte, bei document übernahmen sie dann die Kontrolle. Das lag daran, dass sich in diesen sieben Jahren unserer Entwicklung als Band auch das Land, in dem wir lebten, vollkommen verändert hatte.

Warum kommt die Sammlung der besten Songs dieser Zeit ausgerechnet jetzt heraus?

Nun, wir haben keine wirkliche Kontrolle über unsere Musik der Jahre 1982 bis 19S7, die hat EMI. Und als die EM I uns sagte, sie würden „die besten Songs“ dieser Ära veröffentlichen und auf unsere Mitarbeit hoffen, fühlten wir uns angespornt, uns an der Auswahl zu beteiligen. Außerdem kommt uns der Zeitpunkt dieser Veröffentlichung wie gerufen.

Warum?

Nun, vor ein paar Jahren haben wir TH E best OF the warner ye ARS herausgebracht, Material von 1988 bis 2004. Wir haben erst im vergangenen Juli eine lange Tour beendet, und wir haben uns ein freies Jahr genommen, frei von R.E.M. und jeder Arbeit. Dieses Jahr ist jetzt vorbei. In zwei Wochen werden wir in Georgia in die „Hall OfFame“ aufgenommen, was für uns eine große Ehre ist. Bill Berry kommt übrigens aus dem Ruhestand, um mit uns zwei Songs zu spielen, und dann geht er wieder zurück in den Ruhestand. Jedenfalls ist das für mich und Peter und Mike eine gute Gelegenheit, sich bei einem Abendessen mal wieder darüber zu unterhalten, wie es mit R.E.M. weitergehen soll. Ich meine: Wir waren im letzten Jahr sehr oft zusammen beim Abendessen, aber wir haben nie über Musik gesprochen, mit wem wir künftig gerne zusammenarbeiten würden, wo wir das machen und wie es zu klingen hat… egal, diese Veröffentlichung kommt also genau zur richtigen Zeit.

Mit welchen Gefühlen schaust du denn auf diese frühe Phase der Bandgeschichte zurück?

Ich kann nicht glauben, wie unbekümmert und selbstbewusst wir gewesen sind, diese fünf ersten Platten rauszubringen und auf Tour zu gehen. Genau genommen haben wir mit den Tourneen 1980 angefangen und erst 1989 damit aufgehört. Wir waren also fast zehn Jahre lang entweder auf Tour oder im Studio oder bei Presseterminen. Und weil die EM I so freundlich war, uns zur Mitarbeit einzuladen, hatten wir nun erstmals die Möglichkeit, diese frühe Periode als ein Ganzes zu betrachten.

Welcher war der erste Song, bei dem du dir sagtest: Okay, das ist es, ich…

„Gardening At Night“

Das kam schnell! Warum?

Weil ich den Text geschrieben hatte und er einen Sinn für mich ergab. Es war das erste Mal, dass ich dachte: „Wow, das ist keine Übung mehr. Das ist das erste Mal, dass ich nicht versuche, ein anderer zu sein. Es war das erste Mal, dass etwas Sinn und Tiefe hatte. Ich dachte: „Okay, hier entwickelt sich was…‘

Ein „Greatest Hits“-Album ist es ja nicht geworden…

Wie denn auch? Wir hatten ja -bis auf zwei, drei Ausnahmen – in dieser Zeit keine Hits! Nein, es ist ein „Best Of“ dieser Phase, und das war sehr interessant. Weil wir Songs auswählen konnten, die uns selbst wichtig waren und sind, weil sie Punkte markieren, an denen unsere künstlerische Entwicklung eine andere Richtung genommen hat.

Und auch, was R.E.M. beeinflussthat?

Absolut, unsere Einflüsse werden hier deutlich – ob es nun Velvet Underground ist in „Time After Time“ oder Patti Smith in „Pretty Persuasion . Es soll Leute geben, die glauben, für uns hätte erst mit „Losing My Religion“ alles angefangen. Nun, die werden hier ein ziemlich fremdes, abgefahrenes R.E.M.-Universum kennenlernen!

Findet sich euer Mainstream-Publikum dort überhaupt zurecht?

Naja, es ist die Basis, das Fundament von allem, was R.E.M. nach 1987 ausmacht. Nimm nur mal „Time After Time“: Als ich es wiedergehört habe, konnte ich nicht fassen, wie sehr es nach Velvet Underground klingt, und habe darauf bestanden, dass es auf die Compilation kommt. Viele Bands sind feige oder übervorsichtig, was ihre Einflüsse angeht. Wir tragen diese Namen sozusagen offen auf der Brust. Wir tourten beispielsweise zwei Mal als Support für Gang Of Four, und der Song „Feeling Gravity’s Pull“ spiegelt deren Einfluss auf sehr deutliche Weise.

R.E.M. gehört zu den Gruppen, die das Alternative-Konzept als alternative Sichtweise auf die Wirklichkeit erst losgetreten haben – im Gegensatz zur damaligen Duran-Duran-Realität, wenn man so will. R.E.M. bedeutete mehr… vermisst du diesen Aspekt heute ?

Persönlich oder künstlerisch?

Beides, vielleicht?

Nein, ich habe nichts zu bedauern. Ich mag die Band und mag, woher sie kommt. Persönlich fallt mir schon der unglaubliche Kontrast auf zwischen mir, als ich 22 war, und mir als heute46-Jährigem. Andererseits fallen mir auch die Parallelen zwischen diesen beiden Michael Stipes auf. Ich habe noch immer dieselbe Integrität, dieselben Widersprüche, die gleichen Schwächen und Verletzlichkeiten wie damals – all die Konstanten eben, die wir alle mit uns durchs Leben schleppen. Ich glaube, meine Eigenschaften sind immer ein großer Beitrag zu dem gewesen, was R.E.M. als Band bedeutet-ob wir nun 1995 oder 2006 schreiben.

Und als Musikfan?

Was The Smiths, The Replacements, Hüsker Du, Black Flag oder Sonic Youth in den Achtzigern bedeuteten … nun, das sehe ich heute überall, in so vielen frischen Bands, die gerade überall emporschießen. Da ist so viel Energie, so viel Inspiration, dass ich als Musikfan sehr happy bin.

Diese neuen Gruppen hoben ja oft eine besonders enthusiastische, vielleicht fanatische Gefolgschaft – wie R.E.M. in früheren Tagen.

Oh ja, aber wenn dir jemand jede einzelne Single plus B-Seite durchdeklinieren kann, dann wird’s ein wenig… seltsam? Ja, seltsam. Aber mir gefällt der Gedanke, an die ganz Jungen anzudocken.

„Radio Free Europe“ könnte ein aktueller Hit sein.

Vielleicht… (sein Blick fällt auf das Cover) Ich mag dieses Bild, wir sehen alle ziemlich … abgefuckt aus, nackt. Ich sehe auf diesem Foto bei jedem von uns Teile der Persönlichkeit, die noch heute durchscheinen.

Zum Beispiel?

Ich, wie ich mein Gesicht hinter meinen Händen verstecke. Bill Berry, wie er sich hinter dem Mikrophon versteckt. Peter, der immer gut Gekleidete. Und Mike, für alle Zeiten enthusiastisch, hoch in die Luft springend. Doch, es ist eine große Show.

Wenn du per Zeitmaschine zurückreisen und diesem jungen Michael Stipe einen Rat erteilen könntest, weicher wäre das?

Ich sprach von unserer Chuzpe, als Nichtmusiker eine Band zu gründen, Songs zu schreiben, Instrumente und, in meinem Fall, die Stimme beherrschen zu lernen, und das alles unter den Augen der Öffentlichkeit. Also … wenn ich mir selbst einen Rat erteilen könnte, dann den, noch selbstbewusster, noch mehrich selbstzu sein.

Hattest du diesen Rat auch angenommen?

Das ist ja die Ironie! Wir waren damals schon so beseelt von unserer Unabhängigkeit, dass ich jeden Rat in den Wind geschlagen hätte.

Ist das einmal passiert?

Sicher, klar. Ständig kamen Leute mit ihren Meinungen auf uns zu und sagten: „Wenn ihr eure Musik in diese oder jene Richtung ändert, bekommt ihr dieses oder jenes Publikum! Wenn ihr so ein Video macht, wie ich es euch sage, kommt ihr zu MTV“ und so weiter… versteh mich nicht falsch: Ich mag es, ein Popstar zu sein. Noch mehr aber mag ich meine Unabhängigkeit. Und ich liebe die Sturheit, die diese Band verkörpert.

Ihr hobt euch für „and i feel fine“ durch das ganze alte Material gewühlt. Wird das einen Einfluss daraufhaben, wie das nächste Album klingt?

Speziell für unser nächstes Album kann ich das definitiv ausschließen. Allerdings neige ich dazu, mir vor jedem neuen Album ein paar alte Sachen von uns anzuhören. Manchmal ist das wie ein Schlag ins Gesicht, der mich Demut lehrt. Manchmal stärkt es aber auch mein Selbstvertrauen. Meistens wundere ich mich aber darüber, womit wir durchgekommen sind…

Es gibt mehrere „Best Of -Compilations von R.E.M., aber – bis auf Material auf B-Seiten – kein Live-Album.

Als Musikfan empfinde ich Live-Alben immer als ein Zeichen dafür, dass da jemandem die Ideen ausgegangen sind, dass jemand einen sehr, sehr langen Urlaub machen will. Uns sind die Ideen noch nicht ausgegangen, so einfach ist das.

Wann wird es ein Soloalbum von Michael Stipe geben ? Dein Freund Thom Yorke von Radiohead hat ja mit the eraser bereits vorgelegt.

Hm, naja, ich mache schon Sachen abseits von R.E.M., arbeite mit anderen Künstlern zusammen, wie zuletzt mit Placebo. Aber es reizt mich nicht, mich als Solokünstler zu exponieren. Dazu fühle ich mich noch viel zu gut aufgehoben und viel zu sehr gefordert bei R.E.M. – übrigens, das muss ich noch sagen, hat mir Thom ein Exemplar seiner CD zukommen lassen, ich hörte es mir zu Hause an und … nun, es hat mich weggeblasen. Ich halte es für eine unglaubliche künstlerische Leistung. Was mich besonders gefreut hat, ist, dass sie in den USA auf Anhieb auf den ersten oder zweiten Platz der Charts gekommen ist.