Serie

40 Jahre Punk: Wie im Januar 1977 alles begann


Januar 1977. In diesem Jahr wird Punk explodieren. Die Tabloids haben sich auf die Sex Pistols eingeschossen, auch die Scouts der Majorlabels sind längst auf der Hatz. Von hier aus kann man tatsächlich schon das Ende sehen. Dabei fängt alles gerade erst richtig an, zum Beispiel im neu eröffneten „Roxy“ in Covent Garden…

Am 1. Dezember 1976 ist innerhalb von 35 Sekunden aus der etwas unheimlichen Untergrundszene Punk das aufsehenerregendste popkulturelle Phänomen mindestens seit Glamrock geworden – und eine nationale Bedrohung! Aus heutiger Sicht mögen die paar Schimpfwörter, die Johnny Rotten und Steve Jones Moderator Bill Grundy in seiner Sendung „Today“ entgegenwarfen, kindisch erscheinen – damals waren sie zumindest um 18 Uhr im britischen TV streng verboten.

Die Presse tobt, als wäre ein Krieg losgebrochen: „The lth and the fury!“, brüllt der „Daily Mirror“ über die „schmutzigste Sprache, die je im britischen Fernsehen zu hören war“. Pistols- Manager Malcolm McLaren ist in Panik, Steve Jones fühlt sich wie der König der Welt und erzählt später: „Ab diesem Tag war alles anders. Zuvor ging es nur um Musik, jetzt ging es um die Medien.“ Das zum Skandal avancierte Scherzchen wäre ein guter Anlass, über die Bigotterie der UK-Gesellschaft und ihrer Medien zu diskutieren, aber dazu hat niemand Lust. Stattdessen wird geschimpft, gedroht und amtlich eingeschritten: Die „Anarchy In The UK“- Tour der Pistols im Dezember, mit The Clash, The Damned und den Heartbreakers, fällt fast komplett aus: Behörden, Bürgermeister und Veranstalter sorgen sich die um die Jugend.

Sex Pistols
27. Juli 1977: Sex Pistols live in Kopenhagen. Von links: Sid Vicious, Paul Cook, Johnny Rotten und Steve Jones

Der neue Musikexpress mit The xx, Schnipo Schranke, Foxygen und Punk-Special
Aber die Welle, die es selbst losgetreten hat, kann das Establishment nicht mehr aufhalten. Zeitungen informieren ihre Leser, wie man sich als Punk zu kleiden und zu benehmen hat. Die Szene stülpt sich um: aus Punk wird Punkrock, und an die Stelle der eingeschworenen Clique von subversiven Situationisten mit unterschiedlichsten Ansätzen und Ideen tritt bald ein wimmelndes Heer von Nachahmern, die schnellstens Rockstars werden oder zumindest bei dem Versuch alles kaputtschlagen wollen.

Das Problem: Es gibt seit den Ausschreitungen beim Punk-Festival im „100 Club“ im September ’76 kaum noch Läden, in denen die neuen Bands auftreten könnten. Bis Andy Czezowski, der The Damned und Generation X managt, den Tipp erhält, es mal in dem Schwulenclub „Chaguaramas“ in Covent Garden zu versuchen, wo Siouxsie Sioux, Steven Severin, Marco Pirroni und andere Szenepioniere gerne abhängen.

Im „Roxy“ fand Punk 1977 eine neue Heimat

Der Club steht ohnehin vor der Schließung. Der Inhaber, der „einarmige Giftzwerg“ Rene Albert, bietet Andy die Dienstag- und Mittwochabende für je 300 Pfund an. Andy überredet seinen Kumpel Barry Jones, hierfür seine Linkshänder-Les-Paul zu verpfänden. Nach einem ersten Probegig mit Gen X am 14. Dezember trifft Andy zufällig die nach dem Reinfall mit der Pistols-Tour bankrotten Heartbreakers, die Geld für Heroin brauchen, bucht sie für den nächsten Abend, und nachdem auch noch Siouxsie & The Banshees die neue 15-Zentimeter-Bühne getestet haben, hat Punk eine neue Heimat gefunden: Das „Roxy“ eröffnet am 1. Januar 1977 offiziell.

Die Pistols sagen ab, weil Malcolm McLaren sie von der Masse anderer Bands fernhalten will. Also bucht Andy die Kronprinzen: The Clash. Am DJ-Pult sitzt Don Letts, dessen Reggae-Sammlung den Punks das gibt, was sie selbst noch nicht haben: eigene Platten. Als Support spielen Chelsea ihren ersten Gig. Sänger Gene October schlägt die Zwischendecke in Trümmer, ihr Gitarrist spielt sich die Hände blutig.

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Der Schriftzug auf dem Hemd, in dem Joe Strummer danach die Bühne betritt, gibt die Parole vor: „No Elvis, Beatles or the Rolling Stones in 1977!“. Kaum eine ohrenbetäubende Stunde später ist seine Band das heißeste Ding der Stadt. Das Neujahrspublikum besteht nicht mehr nur aus der üblichen Horde verschworener Weirdos: Der Club ist für 100 Gäste zugelassen, drin sind fast 400. Nachdem Interimsschlagzeuger Rob Harper sich die Bandagen von den lädierten Fingern gewickelt hat, sagt man ihm, dass er um halb eins noch einmal ran muss: Draußen warten noch einmal 400 Leute.

Das „Roxy“ ist ab sofort der Hafen der Szene, in dem sich schnell auch die Label-Späher tummeln. Wenige Tage später erscheint in dem Fanzine „Sideburn“ der legendäre Cartoon, den sich Tausende zu Herzen nehmen: „This is a chord, this is another, this is a third – now form a band!“ Die unzähligen Formationen, die allein im Januar erstmals ihre drei Akkorde in einen Probekeller brettern, sind Anfang und Ende der „Bewegung“ Punk zugleich: Den einen gelten sie als Zündfunke eines neuen Musikgenres, den anderen als der Moment, in dem sich die gerade noch neue Sensation in einen uniformen Abklatsch verwandelt. Da die meisten Bands dieser „zweiten Welle“ tatsächlich gleich aussehen, gleich klingen und die gleichen Themen be-„singen“, wollen die Punk-Pioniere mit dem Begriff nichts mehr zu tun haben und neue musikalische Wege suchen.

Drüben in Kalifornien nehmen sich Bands wie die Dickies, Avengers, Zeros, Germs, Wipers, Weirdos und Dils, die meisten davon auch Anfang 1977 gegründet, einfach die Pistols zur Vorlage und spielen deren Musik, nur schneller und härter. In England orientiert man sich eher an der aufglühenden Art-Punk-Szene mit ihren düsteren, experimentellen Gegenwartsvisionen. Während im „Roxy“ noch dröhnende Gitarren und vier Viertel den Takt angeben, keimen bereits die ersten Post-Punk-Sprossen. Aber es dauert noch ein paar Wochen, bis daraus mehr wird als verwirrte Gesichter bei einem Wire-Gig.

Dieser Text ist der Auftakt unserer Serie „40 Jahre Punk“ und erschien zuerst in der Ausgabe 02/2017 des Musikexpress. Lest demnächst, was im Februar 1977 geschah.

„40 Jahre Punk“ im Musikexpress – der Trailer:

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Keystone Features Getty Images