Auf Tour mit: DEPECHE MODE


Die See tobt. Nur wenige Fischer haben sich, mit dicken Pullovern, Regenjacken und kniehohen Gummistiefeln bekleidet, an den Strand gewagt, der nur wenige Schritte von der Konzerthalle entfernt liegt. Eine frische Brise fegt durch die Bucht und bringt den salzigen Geschmack von Meeresluft mit sich.

Die düstere Atmosphäre Cornwalls setzt sich im Coliseum fort, einer modernen Halle, in der hektisch umhergelaufen wird.

„Habt ihr gesehen, daß die Leute draußen Sandsäcke geschleppt haben“, fragt Dave seine Freunde. „Es soll heute die heftigste Flut der gesamten Saison anrollen.“

Doch nicht nur die stürmische See versetzt die ansonsten eher fröhlichen Gesichter von Depeche Mode in bedrückte Stimmung; überhaupt stand ihr Tournee-Auftakt in St. Austell unter einem ungünstigen Stern. Nicht nur, daß die Band die letzten fünf Tage nicht mehr geprobt hatte, weil Martin Gore seine deutsche Freundin noch für einige Tage in Berlin besuchen wollte und erst am Morgen in London Heathrow gelandet war, sondern auch die Meldung des Veranstalters, daß nur 800 Eintrittskarten im Vorverkauf abgesetzt worden waren, drückte die Stimmung.

Als Dave Gahan, Andy Fletcher, Alan Wilder und Martin dann nach zwei Soundchecks zurück in ihr 15 Kilometer entferntes Hotel fahren, reden sie aufgeregt durcheinander und versuchen zu klären, wie die zu erwartenden Schwierigkeiten am einfachsten zu lösen seien. Alan hatte Probleme mit den Programmen seines Emulators – die Pausen zwischen den Songs erschienen ihnen zu lang.

Wie gut, daß Depeche Modes Produzent und Mastermind Daniel Miller immer eine wohltuende Ruhe versprüht und den Jungs schon durch seine Anwesenheit ein Gefühl von Sicherheit gibt.

Der rothaarige Andy Fletcher hatte indes ganz andere Probleme: Ihm fiel die schwere Last zu, sich zum ersten Mal in der Geschichte seines Pop-Alltages selbst zu schminken! Auf den sechs vorangegangenen Touren durch Europa hatte dies geduldig Daves Freundin Joe erledigt; diesmal mußte sie daheim in Basildon bleiben, um ihre Ausbildung zu beenden.

Auf die unschuldige Frage, wo er mit dem Make-up denn anfangen solle, hagelt es gleich ein Dutzend Ratschläge seiner Bandkollegen. Ernst, aber nicht ohne ironischen Unterton meint Alan: „Eigentlich ist es egal, wo du anfängst. Manche Leute schminken sich zuerst die Stirn und dann die Wangen, aber vergiß ja nicht den Hals, damit man nicht den Bruch sieht. Du weißt schon, was ich meine.“ „Und manche Leute fangen auch in den Nasenlöchern an“, gibt Martin zu bedenken.

Eigentlich hatte diese kurze Konversation auf mich eher den Anschein eines Jokes gemacht, doch als Andy wenig später zaghaft an Martins Zimmertür klopft und seine rotbraunen Augenbrauen kräftig schwarz angemalt hatte, begreife ich, daß er es ernst gemeint hat.

Martin nimmt eine Creme und entfernt die Schminke, um sie etwas dezenter wieder zu verteilen. Ungläubig schaut Andy in den Spiegel und fragt, ob er nicht noch ein wenig Kajal auftragen soll. Doch als Martin seinen weißen Stift aus der Tasche holt, winkt er ab: „Das ist mir zu exzentrisch.“

Martin hingegen hebt es, sich zu schminken und hat ein ganzes Arsenal von Make-up-Utensilien dabei. Kritisch schaut er in den Spiegel, bevor er seine schwarzen Lederklamotten aus dem Koffer holt und schwere Eisengürtel umlegt.

Als wir in den Mini-Bus steigen, der die Band vom Hotel abholt, weil der große Tourbus nicht durch die verwinkelten Gassen des Fischerdörfchens fahren kann, herrscht beängstigende Ruhe. Alles konzentriert sich auf den bevorstehenden Auftritt.

Ein Blick in die Halle beseitigt die Ängste, daß es nicht voll werden würde, und die Kassiererin verkündet stolz, daß sie nur noch 200 Karten verkaufen müßte, um ihren Laden zu schließen. Draußen im Regen steht eine Handvoll Fans, die schon seit 10 Uhr morgens warten – in der Hoffnung einen kurzen Blick oder gar ein Autogramm von ihren Stars zu erhaschen. Einige haben sich in ihre mitgebrachten Schlafsäcke eingemummelt; auf die Frage, was sie dazu veranlaßt, in bitterer Kälte zu warten, kommt nur ein Achselzucken als Antwort. „Depeche Mode ist die beste Band der Welt, und ich bin stolz, wenn ich ein Autogramm von ihnen besitze“, erklärt ein 17jähriges Mädchen, daß mich um ein Ticket bittet, weil sie „Kein Job und kein Geld hat“.

In der Halle ist der Teufel los, als das Licht erlischt und die Drum-Maschine mit hartem Sound den Beginn des Konzertes ankündigt. Der Vorhang geht auf – und die Menge tobt, als sie die ersten Töne von „Something To Do“ ertönen, einer der Songs des neuen Albums SOME GREAT REWARD Die Bühne gleicht einer Industrielandschaft mit den vielen Synthezisern, einer großen Metallkonstruktion, die Dave als Laufsteg in eine zweite Ebene dient, und den kühlen blauen Farben, in denen sich die Band präsentiert. Schon optisch sieht die Bühne aus wie der Hintergrund zu einem Industrie-Endzeit-Musical, in dem Depeche Mode die Hauptrolle spielen und ihre Thesen über Liebe, Zusammenleben und Unterdrückung kundtun. „About the world we live in and life in general“ steht auf dem Cover von SOME GREAT REWARD zu lesen, und damit ist der Tenor der neuen Songs hinlänglich beschrieben.

Das Publikum ist mit dem neuen Sound der oft als Teenie-Popper belächelten Band offensichtlich zufrieden; es scheint, als hätten sie die Zeiten, als Dave verschüchtert hinter dem Mikrophon stand und „Photographic Pictures“ sang, ebenso hinter sich gelassen wie die Band.

„Eigentlich sind diese Tourneen nur ein Geschenk an unsere Fans“, erklärt mir Alan später in der Garderobe. „Wir finden es nur in der ersten Woche wirklich interessant und lustig, danach ist es nur noch Routine. „

In der Garderobe herrscht ausgelassene Stimmung. Allen Zweifeln zum Trotz war ihr Konzert ein gelungener Auftakt. Die Zufriedenheit steht allen Vieren im Gesicht geschrieben; Dave reißt die ersten Witze und Martin und Alan beginnen Autogramme zu geben, die Busfahrer Don, der Depeche Mode auf allen Touren chauffiert, den ungeduldig wartenden Fans vor die Türe bringt. Allein Andy ist völlig aus der Puste und denkt nur noch an sein Bett.

Vorher heißt es jedoch noch Fan-Besuch zu empfangen. Drei Mädchen ist es gelungen, bis in die Garderobe vorzudringen und sich mit ihren Lieblingen fotografieren zu lassen. Die englischen Teenies scheinen überhaupt von Pocket-Kameras fasziniert zu sein; nicht ein Mädchen konnte ich entdecken, das keine Ritsch-ratsch-Klick in ihrer Jackentasche versteckt hielt.

Am nächsten Morgen trifft man sich nach und nach beim Frühstück in der Hotelhalle wieder. Andy steht als erster auf, um noch einen Spaziergang zu machen und sich mit den neuesten Pop-Zeitungen für die bevorstehende Busfahrt einzudecken. Martin hustet am Frühstückstisch hat sich eine leichte Erkältung eingefangen, kein Wunder bei dem Wind, der mit Wucht vom Meer herüberbraust.

Alan versteckt seine schläfrigen Augen hinter seiner verspiegelten Sonnenbrille und sieht in seiner schwarzen Lederhose aus wie ein beinharter Rock’n’Roller. Dave kommt wie immer als letzter aus den Federn und legt sich auch sofort wieder in die Kojen, als die Band im Bus sitzt.

Daniel Miller fährt zurück nach London, um die Studioarbeit vorzubereiten, die nach dem übernächsten Gig ansteht.

„Als nächstes werden wir eine EP mit vier Songs veröffentlichen. ,Somebody‘ und ,Blasphemous Rumours‘ wird darauf sein, und zusätzlich zwei Live-Tracks aus dem Konzert“, erzählt Alan, der es sich in einer Ecke bequem gemacht hat, während Andy mit dem Busfahrer über die Erlebnisse mit den Fans witzelt. „Don schnappt sich immer die ganzen kleinen Groupies und nimmt sie mit in den Bus“, lacht Martin. Selbst lassen sie lieber die Finger von den kleinen Mädchen, obwohl sie während der gesamten Tournee immer in Doppelzimmern schlafen. Daß das zweite Bett nicht anderweitig besetzt wird, dafür sorgen die Freundinnen, die zumindest die Wochenenden bei der Band verbringen.

Endlos lang scheint diese Busfahrt zu sein. Martin warnt mich vor Hanley, einem kleinen, schmutzigen Industrienest, wo sie schon auf der letzten Tour abends festsaßen, denn außer einer langweiligen Dorfdisco und unzählig vielen Antiquitätenläden bietet die Stadt keinerlei Unterhaltung.

Seine Worte fallen mir sofort wieder ein, als wir plötzlich vor einem alten, rotgeklinkerten Gebäude halten, das eher wie eine stillgelegte Fabrik, keinesfalls aber wie eine Konzerthalle ausschaut.

Im Aufenthaltsraum sind Debbie und Linda mit den letzten Vorbereitungen für das Abendessen beschäftigt. „Ich weiß noch genau, wie ich die erste Depeche Mode-Tour mitgemacht habe“, erinnert sich Debbie, die insgesamt 22 Personen zu verpflegen hat. „Damals waren die Jungs so schüchtern, daß sie nicht einmal etwas gesagt haben, wenn ihnen unser Essen nicht geschmeckt hat.“

Während Alan und Martin ihre vegetarische Mahlzeit essen, wittert Andy die Gelegenheit, sich für den gestrigen Abend zu rächen, als man sich über seine Schminkprobleme lustig machte. Er greift einen umherfliegenden Schuster, hält ihn an einem Bein fest und fragt provozierend: „Was meint ihr, wieviel Beine ich ihm ausreißen kann, so daß er trotzdem noch fliegen kann?“ Martins Gesichtsausdruck wird zunehmend finsterer; Alan legt für einen Moment den Löffel aus der Hand. Dave kümmert sich darum wenig, denn zu seiner Freude ist seine Freundin Joe gerade angekommen. Beide begrüßen sich wie ein Ehepaar: ohne große Aufregung, ohne stürmische Umarmung sitzen sie nebeneinander. Ich nutze diese Gelegenheit, um Martin, der den Großteil der Texte geschrieben hat, auf die englische Mentalität anzusprechen. Der Eindruck, daß Liebesbeziehungen meist in eheähnliche Verhältnisse münden, scheint richtig zu sein. „Englische Kids, vor allem Mädchen, werden schon von klein auf so erzogen, daß es das Wichtigste für sie ist, einen soliden Partner zu finden, ihn zu heiraten und Kinder zu bekommen. Ich war auch schon in einer solchen Situation, und mein ganzes Leben schien nur für diesen einen Menschen bestimmt zu sein“, sagt Martin. „Die deutsche Mentalität ist da ganz anders, wenn es um Liebe und Sex geht. In den englischen Teenie-Magazinen gibt es zum Beispiel keine Aufklärungsseiten. Die Deutschen sind viel offener.“

Liebesbeziehungen sind auch die vorherrschenden Themen auf dem neuen Depeche Mode-Album. Während CONSTRUCTION TIME AGAIN und die letzte Nr. 1-Single „People Are People“ politisch Stellung bezogen, sind die neuen Songs weitaus persönlicher und atmosphärischer ausgefallen.

„Wir wollten vor allem nicht auf ein politisches Image festgelegt werden. Als du vorhin mit Alan diskutiert hast, habt ihr über Ernsthaftigkeit gesprochen. Ich glaube nicht, daß Songs, die persönlicher sind, also Liebeslieder, auch gleichzeitig dümmlich sind.

Den Beweis liefert er zwei Stunden später vor mehr als zweitausend begeisterten Fans, die stillschweigen, als Martin seine melancholische Ballade „Somebody“ vorträgt und beim Ausklingen des Pianospiels eine Spieldose aus der Tasche zieht und sanft daran dreht, während die Scheinwerfer erlöschen.

„Der Wunsch, das Publikum zu verändern, war vor allem der Wunsch, uns zu verändern, weil wir selbst mit dem, was wir taten, nicht mehr zufrieden waren“, erzählt Alan später in der Garderobe. „Wir haben es nicht unbedingt bewußt gewollt, aber wir haben uns neue Leute erschlossen, ohne das Teen-Publikum zu verlieren. Die alten Hits spielen wir auch nur noch als Dankeschön an die Fans.“