Tour-Tagebuch

Auf Tour mit Tocotronic – Tag 3, Heidelberg: Hemingway & Ginsberg


Tammo Kasper, eigentlich Bassist der Band Trümmer, ist mit Ilgen-Nur als Support von Tocotronic unterwegs. Hier schreibt er sein Tour-Tagebuch für uns. Dieser Halt: 8. März, Heidelberg.

Morgens wachen wir bei den nettesten Menschen der Welt in der schönsten WG der Stadt auf. Mitten in Münster, mit Blick auf einen Wasserturm. Ausgeschlafen. An den Wänden hängen antisexistische Plakate, auf dem Teppichboden steht hölzernes Kinderspielzeug, in den Regalen die richtigen Bücher. Hier ist die Welt verdammt nochmal in Ordnung. Zum Frühstück gibt es Harissa und vegane Nutella, wir lernen eine britische Band kennen, die der Freund unserer Gastgeberin (Bassist und Sänger der Münsteraner-Modern-Hardcore-Formation Idle Class) in seiner Wohnung eine Etage unter uns beherbergt. Die haben gestern in Belgien gespielt und müssen jetzt nach Kiel. Ein Routing wie geworfene Dartpfeile auf der Europakarte. Wir spenden Mitleid und verabschieden uns in Richtung Heidelberg.

Auf Tour mit Tocotronic – Tag 2, Münster: Warten auf Freiburg
Zum Bahnhof fahren wir Slalom um die üblichen Münsteraner Fahrradfahrer (die Zukunft des städtischen Verkehrs ist hier greifbar! – fast wie in Kopenhagen, wo die Menschen jetzt schon glücklich sind und gesund). Dort steigt Laurens zu uns in den Bus. Laurens spielt ab heute Bass. Und ist ziemlich sicher der gefragteste Bassist Hamburgs: Neben seinem Job als Basser der Ilgen-Nur-Band, spielt er auch noch beim R’n’B-Avant-Pop-Projekt Monako, bei Erregung Öffentlicher Erregung und hat ein Drum’n’Bass’Duo namens LBKK. Soll noch mal jemand sagen in der Musikschule, der Bass sei ein unbeliebtes Instrument. Denn: Überambitionierte Gitarristen gibt es wie Sand am Meer.

Von Münster nach Heidelberg am Weltfrauentag

Wie Deutschland aussehen würde, wenn die Alliierten Deutschland nicht bombardiert hätten? Wie Heidelberg. Behauptet der Protagonist in Christian Krachts „Faserland“. Die Halle 02 liegt allerdings nicht in der pittoresken Altstadt, sondern in einem durchgestylten Neubaugebiet, in dem sich ein Block Eigentumswohnungen an den nächsten reiht. Heute ist Weltfrauentag. In Ostfriesland – wo ich aufgewachsen bin – nimmt man es ernst mit den Vatertagstraditionen. Dann treffen sich alle geschlechtsreifen Männer des Dorfes in Gruppen, sammeln sich um Bollerwagen und ziehen Korn saufend über die Dörfer. Mittags liegen sie dann auf der Wiese und kotzen sich die Seele aus dem Leib. Ich würde sie gerne gegen 365 Weltfrauentage im Jahr eintauschen.

Über 45 Musikfestivals kümmern sich um Geschlechter-Balance
Apropos: Die wichtigste Rolle hier auf der Tour mit Tocotronic – das Tourmanagement – hat eine Frau inne. Barbara hält, trotz abklingender Grippe, den Laden freundlich bestimmt zusammen. Schaut man sich um in der Musikindustrie – in den A&R-Abteilungen der Labels, im Booking und in den Clubs, in den Geschäftsführerpositionen, dann wiederholt sich dort die Situation, die auch in den Festivalslineups zu sehen ist: Männer dominieren, laute Männer, die glauben zu wissen wie der Hase läuft und die auch keine Anstalten machen, ihre eigene Rolle zu reflektieren. Musikalisch passiert gerade einiges: Eine neue Welle von Künstlerinnen (von Nilüfer Yanya über Sunflower Bean und Slotface…) macht sich auf, den Rock’n’Roll ein letztes Mal (?) zu retten. Damit auch sich dauerhaft etwas ändern kann, muss sich dieser Wandel auch in Business-Strukturen drumherum übertragen.

Ilgen-Nurs Statement zum Weltfrauentag. Aus dem Media-Markt-W-Lan.

Zum musikalischen Teil des Tages: Die Halle02 hat nicht umsonst mal den ClubAward als bester Club Deutschlands gewonnen. Technisch ist das alles 1A-Spitzenklasse. Ein funktionaler Club mit einer großartigen Anlage. Und Heidelberg zeigt sich von seiner ausgehfreudigen Seite: Sicherlich 1200 Menschen stehen vor der Bühne.

„So viele Tapes wie heute haben wir bisher noch nicht verkauft“

„Electric Guitar“: zweiter Song im Set. Die elektrische Gitarre als Fetischobjekt des pubertären Aufbegehrens, als Rettung aus der provinziellen Erstickungsatmosphäre, Teenage Riot im Hobbykeller – ganz ungebrochen ist das nicht und doch einer der direktesten Tocotronic-Songs seit dem weißen Album. Vielleicht ist es kein Zufall – häufen sich doch die Abgesänge auf die Band als Formation und die Gitarre als Instrument, Instagram-Indiviualismus funktioniert besser in der Ego-Shooter-Perspektive. Live macht das Spaß: Das Schlagzeug treibt stoisch voran, perlende Akkorde machen Fläche und der Bass dröhnt ein warmes Fundament dazu.

In der Halle02 spielen Tocotronic das nächste formidable Konzert, souverän auf den Punkt. Trotzdem: Wieder kein „Freiburg“. So viele Tapes wie heute haben wir bisher noch nicht verkauft. Läuft also. Danach machen wir uns auf den Weg in unsere Unterkunft. Das Hemingway (Der war hier mal für eine Nacht zu Gast) ist eine Bar, die auch Zimmer anbietet. Wir nehmen beides in Anspruch und als der Barkeeper uns nach der letzten Runde rauswirft, fragen wir ihn, wo wir denn noch hingehen könnten: Ins Ginsberg. Die Namensgebung im Heidelberger Nachtleben scheint klaren Gesetzen zu folgen.