Tour-Tagebuch

Auf Tour mit Tocotronic – Tag 8, Köln: Köln muss in Flammen stehen


Tammo Kasper, eigentlich Bassist der Band Trümmer, ist mit Ilgen-Nur als Support von Tocotronic unterwegs. Hier schreibt er sein Tour-Tagebuch für uns. Heute: 12. März, Köln. Diesmal mit After-Show-Party und Freibier für alle.

13. März 2018, Köln – Ab heute ist Max dabei. Max ist unser Tontechniker. Mit Max und der Ringer war ich letztes Jahr zehn Tage lang unterwegs und wir hatten eine ziemlich gute Zeit. Er ist gerade mit dem Ringer in der Schweiz auf Tour gewesen, deswegen kann er erst jetzt zu unserer Reisegruppe stoßen. Max ist HSV-Fan, deswegen können wir uns leider nicht mehr über Fußball unterhalten.

Das E-Werk liegt auf der „falschen“ Seite des Rheins, weit entfernt von der Innenstadt und direkt gegenüber einer anderen Venue, dem Palladium, in einem Industriegebiet. Köln ist Medienstadt – auch wenn früher wohl mal mehr Lametta war. Deswegen: Volle Gästeliste und vor der Show werden noch jede Menge Promotermine gemacht.

Das Großststadpublikum steht ja immer etwas im Verdacht, zurückhaltend zu sein. Kulturelles Überangebot trifft auf Metropolencoolnes.

Ilgen nimmt Mittags in einem hippen Café einen Song für die Cardinal-Sessions auf, Paul dreht etwas für eine Doku über Tobias Gruben (den leider viel zu früh verstorbenen Sänger der Band die Erde) und Tocotronic zeichnen ein Interview für den WDR-Rockpalast auf.

Das Großststadpublikum steht ja immer etwas im Verdacht, zurückhaltend zu sein. Kulturelles Überangebot trifft auf Metropolencoolnes. Allgemein gilt unter Musikern der ungeschriebene Grundsatz: Je kleiner die Stadt, desto verzweifelter die Leute, desto größer der Projektionsraum, desto größer die Lust auf die Wirklichkeitsflucht, desto niedriger die Hemmungen, desto wilder, lauter und atemberaubender werden Konzerte, egal, ob vielleicht nur halb so viele Leute vor der Bühne stehen wie in Hamburg, Köln oder Berlin.

Tocotronic covern die Böhsen Onkelz! (nicht)

„Danke für nichts“: Die Wahrheit über Die Böhsen Onkelz
Und was machen Tocotronic heute? Jan meint, ich sollte mal einen Beitrag schreiben, in dem ich so richtig übertreibe: 12.000 Leute vor der Bühne, 400.000 Euro Gage (Netto) und zur Zugabe hauen Tocotronic ein Onkelz-Cover raus. Jan kennt dann aber nichtmal einen Song von denen. Ich bin auf dem Dorf aufgewachsen, da kommt man nicht dran vorbei, Onkelz-Songs zu kennen. Einmal im Jahr ist Schützenfest und auf der Hauptstraße fahren liefergelegte Golf-IIs mit Onkelz-Heckscheibenaufklebern im Kreis. Dirk leiht sich vor dem Konzert Ilgens Kokoswachs und wir fragen uns später, ob wir das jetzt am Merchstand verkaufen können.

Aus Ilgen-Nurs Instagram-Story: Ilgen-Nur und Dirk von Lowtzow

Bei Ilgen ist der Sound heute so gut wie noch nie (Danke Max!) und das Publikum reagiert mit einer Mischung aus warmem Applaus und abgeklärtem „Waskönnendiewaswollendie-typischhamburg“. Spätestens bei „No Emotions“, wenn Ilgen die Gitarre zur Seite legt und die Band kantigen 70er-Jahre-Punk spielt, dreht die Stimmung an die Grenze zum Pogo. Könnte man glatt eine Zugabe spielen. Aber dafür ist keine Zeit. Die Verstärker müssen runter von der Bühne.

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„Das Geschenk“: Solche Intros macht heute ja auch niemand mehr. Drei Minuten lang mäandern die Gitarren übereinander, groovt das Schlagzeug stoisch, bis es dann irgendwann endlich los geht: Man gab mir soeben, das Geschenk meines Lebens: Das Wissen von einem Ende der Nacht.Bei Spotify zeigen sie dir den Vogel dafür. Mit zwei Minuten Intros kriegst du keine Playlisten, das streamt kein Mensch in der Kaffeetunes-Liste. Keine Chance, streamingtechnisch irgendwie erfolgreich zu sein. Ist natürlich trotzdem ein Über-Song.

Wie Tocotronic-Songs wohl klingen würden, wenn Henning May von AnnenMayKantereit sie singen würde?

Weil Köln Medienstadt ist, gibt es eine After-Show-Party nach dem Konzert. Die findet in so etwas wie einem erweiterten Backstagebereich statt und es gibt Freibier für alle. Wir sitzen da also ein bisschen rum, rauchen und trinken Bier. Constantin ist auch da. Constantin hat brutal gute Laune. Er arbeitet bei der Produktionsfirma vom „Neo Magazin Royale“ und gestern ist ihnen ein Coup gelungen: Mit einem geschickt platzierten Werbespot haben sie die neue Show von Klaas Heufer-Umlauf auf die Bretter geschickt.

Wenn Constantin nicht gerade Fensehgeschichte schreibt, dreht er Musikvideos. Für Ilgen hat er gerade das Video zu ihrer neuen Single „Matter of Time“ gedreht. Sonst macht er Videos für Isolation Berlin, Women und 1000 andere. Er ist gut in dem was er macht. Musikvideos sind so eine Sache: Als Band hat man nie wirklich Geld dafür und deswegen muss man Leute so lange belabern, bis sie es selbst für eine gute Idee halten, dir einen Gefallen zu tun und in viel zu wenig Zeit ein Musikvideo zu drehen, von dem die Plattenfirma (falls du eine hast) dann aber sagt, es wäre schon gut, wenn das Ding am Ende viral gehen würde.

Auf der Aftershowparty sitzt in der Ecke ein Typ, der aussieht wie Max Giesinger und raucht einsam und allein eine Kippe nach der nächsten. Henning May von AnnenMayKantereit ist auch da und trägt eine umgedrehte weiße Cappie. Wahrscheinlich, damit er nicht erkannt wird. In Köln gibt es inzwischen sicher eine ganze Menge Leute, die ihn erkennen. Wie ihm das Konzert wohl gefallen hat? Wie Tocotronic-Songs wohl klingen würden, wenn er sie singen würde?

Am 12. März traten Ilgen-Nur und Tocotronic in Köln auf. Tammo Kasper berichtet davon.

Die Worte der Tour bisher: SUV, Postironisch, Dangascht, Young Müller, Dada. Versteht keiner. Das ist so ein eigener Sprachcode, der sich entwickelt, eine eigene Sprache ohne wirklichen Sinn, der Slang des Unsinns paart sich mit Witzen, deren Niveau immer flacher wird, je mehr Kilometer man zurückgelegt hat.

Heute crashen wir wieder auf einer Couch am anderen Ende Kölns. Auf der Fahrt dorthin schreien alle durcheinander, Bier spritzt durch den Bus. Die Nacht ist dann zu kurz (wie das Sofa, auf dem ich liege). Nach dem Frühstück verlassen wir die Stadt in Richtung Hannover. Klingt wie ein Klischee, aber man verliert das Gefühl dafür, in welcher Stadt man gerade ist: Die Straßen wachsen zusammen, Köln fängt an der Wiesbadener Ausfallstraße an, die WGs verschwimmen zu einer surrealen Riesenwohnung, alles wird zu einem Brei aus Eindrücken und schrägen Situationen.

Tammo Kasper