Aus der Musikexpress-Ausgabe Juli 1992: Axl Rose – Der trickreiche Stratege im Hintergrund


Daß hinter denn Kometen-Erfolg von Guns N' Roses keine Dumpfbirne stecken kann, ist schon länger klar. Doch erst seit kurzem zeigt sich, welcher kluge Kopf die Geschicke der Band lenkt: Für Axl Rose ist das Singen nur ein kleiner Teil des Jobs. Im ME/Sounds-Interview zeigt sich Axl trotz aller Zweifel, Macken und Kindheits-Leiden als der trickreiche Stratege im Hintergrund, als scharfer Analytiker der großen Rock 'n' Roll-Lüge.

ME/SOUNDS: Guns N’Roses sind wieder einmal in der großen Tournee-Mühle. Ist dein Live-Elan nach ein paar Dutzend Konzerten schon geschrumpft?

AXL: Wenn ich ganz ehrlich bin — ich konnte ganz gut ohne das alles auskommen. Ich steh‘ nicht sonderlich aufs Touren. Sicher, es ist toll, in einem privaten Flugzeug zu reisen, in fetten Limousinen herumgefahren zu werden. Ich mag das Bombastische daran und den Komfort, aber davon abgesehen habe ich nicht viel Gelegenheit, mich wirklich zu amüsieren. Ich kann mich an dem schönen Hotelzimmer freuen oder an der Tatsache, eine Polizeieskorte zu haben. Aber Zeit, zum Beispiel einen Film zu sehen oder mich einfach hinzusetzen und auszuruhen, gibt es fast nie.

ME/SOUNDS: Nach kurzer Verschnaufpause geht es von Europa zurück nach Amerika. Ihr spielt im Sommer gemeinsam mit Metallica in den Stadien. Stimmt es, daß du dich auch um Nirvana bemüht haben sollst, bisher aber ohne Erfolg?

AXL: Es geht ständig hin und her. Die Jungs sind sich, glaube ich, nicht ganz klar, wer sie eigentlich sind, was sie erreichen wollen und wie man dahinkommt. Zumindest geht es Kurt Cobain so. Ich möchte ihnen wirklich helfen, aber ich weiß nicht, inwieweit sie das zulassen können. Es muß ziemlich verwirrend sein, wenn man einen Song wie „Smells Like Teen Spirit“ schreibt, in dem man sich im Prinzip selbst verarscht, und dieser Song dann zu einer Art Hymne wird. Der Mann hat ein echtes Problem, und ich bin sicher, daß ein Teil von ihm den Wunsch und auch die Kraft hat, damit fertigzuwerden. Fragt sich bloß, ob dieser Teil sich durchsetzt…

Ich hatte eine Vorabkopie ihrer Platte und war total begeistert. Heutzutage sind so viele Menschen gelangweilt, angewidert, frustriert, und Kurt fand zufällig den Song, in dem es genau um diese Dinge geht, der den Leuten hilft, ihren Frust rauszulassen.

ME/SOUNDS: Du scheinst dagegen bei Guns N‘ Roses-Konzerten deinen eigenen Frust gut rauslassen zu können. Glaubst du, daß die Leute, die zu euren Konzerten kommen und eure Platten immer und immer wieder hören, dich selbst dadurch kennenlernen können?

AXL: Nein. Ich weiß auch nicht, ob das überhaupt wichtig ist. Ich finde, es reicht, wenn ich ihnen helfen kann, sich selbst ein bißchen besser kennenzulernen. Es ist nicht so einfach, wenn die Mehrheit der Leute, mit denen du zu tun hast, keine Ahnung haben, wo du herkommst. Für sie ist Guns N‘ Roses gleichbedeutend mit Spaß haben. Feiern, Rock ’n‘ Roll. Das ist in Ordnung, aber wer meint, daß das alles wäre, kann von mir aus gleich nach Hause gehen. Manchmal habe ich einfach nicht mehr die Energie, diesen Glauben in den Leuten wachzuhalten — daß Rock & Roll ein Ausweg ist. Für mich gibt es schließlich auch nicht mehr besonders viele Auswege. Ich muß mich mit mir selbst und mit meinem Leben auseinandersetzen, und das schaffe ich jeden Tag eine Stück besser.

ME/SOUNDS: Für einen Teil eures Publikums ist die Möglichkeit eines Reinfalls besonders faszinierend. Die warten förmlich drauf, daß bei dir etwas danebengeht …

AXL: Ja, wie früher bei den Gladiatoren … Das ist ein ziemlich widerlicher Zug der menschlichen Natur, und manchmal kommt man damit nur schwer zurecht. Besonders, wenn man es mit einer großen Menschenmenge zu tun hat. Natürlich tritt so etwas nicht offen zutage, keiner schreit, „Hau ab, du Arschloch!“. Sie jubeln und sind glücklich, aber gleichzeitig wollen sie Blut sehen. Da drüberzustehen und das Publikum trotzdem zufrieden nach Hause zu schicken, ist ein verdammt harter Job. Ich habe Gigs gehabt, bei denen es auf den ersten Blick richtig positiv zuging. Aber auf der Bühne, alle Sensoren auf Empfang gestellt, war es ungeheuer anstrengend. Diese Leute wringen den letzten Schweißtropfen aus dir heraus, ohne sich darüber im Klaren zu sein, daß ich schließlich nur dann mehr geben kann, wenn aus dem Publikum auch etwas zurück kommt.

ME/SOUNDS: Wenn die Menge nur negative Energie produziert, läßt du dich dann davon mitreißen oder kannst du sie in positive Energie verwandeln?

AXL: Das hat sich im Laufe der Zeit geändert. Früher war es mehr so eine Punk-Rock-Geschichte, bei der die Band die negative Stimmung aufgreift und gegen sich selbst richtet: „Ihr wollt Blut sehen? Paßt auf, ihr werdet mehr davon bekommen, als ihr jemals erwartet habt. Ich bring mich um, wenn’s sein muß!“ Ich habe das eine Zeit lang versucht, aber zum Schluß wurde es zu aufreibend. Du gehst zu schnell vor die Hunde, wenn du dieser Art von Wut nachgibst.

Andererseits ist es wirklich schwer, positiv zu bleiben, wenn dir aus dem Publikum nur dieses „Ich will, ich will“ und diese Wut entgegenkommen. Es hat Fälle gegeben, in denen wir das umdrehen konnten. Für mich ist das ein Teil meines Jobs, obwohl ich manchmal nicht mehr weiß, wie ich mich konzentrieren soll. Diese negative Energie macht dich physisch fertig.

ME/SOUNDS: Geht es den anderen in der Band in solchen Fällen genauso, oder kommt es vor, daß zwei sehr sensibel reagieren, während die anderen sich königlich amüsieren?

AXL: Ich glaube, das ruht mehr oder weniger auf meinen Schultern. Die Band arbeitet auf der Bühne und läßt sich von der Menge mitreißen, aber ich bin so etwas wie ihr Schutzschild. Wenn ich nicht da bin, wissen sie nicht recht, wie sie die Sache im Griff behalten sollen. Und wenn ich da draußen stehe und nicht zurechtkomme, kann mir keiner helfen. Es hat Gigs gegeben, da spürte ich, daß das Ganze viel zu einseitig, zu negativ war, und als ich mich umdrehte, machte Slash Handstand. Er ließ sich von dem Chaos antörnen, während sie mich da vorne durch die Mangel drehten. In Las Vegas war es so. Meine Kiefer taten weh, mein Rücken, mein Bein. Ich nenne das Schattenboxen, weil es eigentlich eine Art Kampf zwischen mir und dem Publikum ist. Guns N‘ Roses können nur Erfolg haben, wenn ich diesen Kampf gewinne. Wenn ich gewinne, gewinnen alle. Wenn das Publikum gewinnt, verlieren eine Menge Leute, das Publikum eingeschlossen, denn das geht dann nach Hause und ist sauer, weil ich dem Druck nicht standgehalten habe.

ME/SOUNDS: Viele deiner Kollegen halten diesem Druck nicht stand. Dann hören sie zuallererst meistens damit auf, sich mit geschäftlichen Dingen auseinanderzusetzen und an den wichtigsten Entscheidungen mitzuarbeiten. Sie ziehen es vor, das Aufziehmännchen zu spielen — stell mich auf die Bühne, dreh‘ den Schlüssel dreimal rum, und ich tanze für dich.

AXL: Verständlich, nur ist es in neun von zehn Fällen leider so, daß diese Einstellung später schlimme Folgen hat. Eines der besten Beispiele dafür ist Alice Cooper. Alice ist ein großartiger Mensch, aber irgendetwas ist bei ihm schon lange tot, und deshalb hat er keine guten Bands mehr, der Erfolg bleibt aus und mit der Kreativität ist es auch nicht weit her.

ME/SOUNDS: Könntest du denn auch Beispiele für Musiker finden, die es richtig machen? Leute mit der idealen Karriere?

AXL: Für mich sind U2 so ein Fall. Sie sind zur Zeit meine absolute Lieblingsband. Ich komme auch langsam hinter die Bedeutung von Songs, die ich vorher nie verstanden hatte. Bis vor kurzem war „With Or Without You“ der einzige U2-Song, mit dem ich etwas anfangen konnte. Bei den anderen Sachen dachte ich mir immer — prima, aber das ist einfach nicht meine Welt. Mir war das zu düster. Mittlerweile habe ich eine Ahnung, wovon Bono spricht.

Ich würde auf der Tour gerne eine Cover-Version von „One“ spielen. Für mich ist „One“ einer der größten Songs, die jemals geschrieben wurden. Als ich das Stück das erste Mal auflegte, mußte ich weinen. Es war wie eine Befreiung. Ich war so fertig, weil meine Ehe wegen der vielen kaputten Dinge in unserem Leben nie eine Chance gehabt hatte. Unsere Ehe war von vornherein aussichtslos gewesen, aber ich wollte das nie einsehen. Der Song hat mir geholfen, es zu akzeptieren. Ich hatte eigentlich vor, Bono einen Brief zu schreiben und ihm zu sagen, wie sehr mir das geholfen hat.

ME/SOUNDS: U2 weigerten sich, bei ihrer aktuellen Tour Gast-Musiker auf die Bühne zu stellen — sie mimen lieber die echte Vier-Mann-Band. Guns ‚N Roses besteht inzwischen aus drei „Originalen“ und drei angeheuerten Sidemen. Spielt es sich mit jemandem, den man selbst auf die Lohnliste gesetzt hat, anders als mit dem alten Kumpel aus der Prä-Limousinen-Zeit?

AXL: Eigentlich macht das keinen so großen Unterschied. Der Kern von Guns N‘ Roses war immer eine Dreiergruppe. Zu Beginn waren es Slash, Izzy und ich, und als Izzy allmählich aus dieser Gruppe herausfiel, nahm Doug Goldstein, unser Manager, seinen Platz ein. Izzy war zu diesem Zeitpunkt an der Entwicklung der Band nicht mehr wirklich beteiligt. Er schrieb Songs, sicher, aber diese Songs waren nur deswegen auf der Platte, weil ich sie dort haben wollte und weil die Band sie mochte und bereit war, sie zu spielen. Ich habe immer an Izzy geglaubt. Ich war 15 Jahre lang ein Izzy-Fan, und ich wollte, daß er mit seinen Songs an diesem Projekt beteiligt ist. Aber das zustande zu bringen war wie Zähneziehen. Izzy mag auf der Bühne sehr cool ausgesehen haben, aber in Wahrheit war die ganze Sache für ihn eine Nummer zu groß.

ME/SOUNDS: Das klingt ziemlich autoritär. Du zwingst den Rest der Band dazu, klein beizugeben und zu sagen: „Wir machen besser das, was Axl will, weil sonst überhaupt nichts passiert“ ?

AXL: Ganz genau.

ME/SOUNDS: Geht der Band dabei nicht etwas verloren? Es sieht so aus, ab sei deine Sicht der Dinge jetzt Ersatz für eine gemeinsame Viston, die ihr früher einmal hattet. Ist das fair?

AXL: Ja, das ist eigentlich schon fair. Zumindest, was Izzy betrifft. Izzy war scharf auf die Ergebnisse meiner Vision, sprich Geld und Macht. Izzys eigene Vorstellungen waren viel kleinkarierter. Die anderen Jungs hielten mich schlichtweg für verrückt. Um gewisse Dinge ins Rollen zu bringen, mußt du gewisse Leute glauben lassen, daß gewisse Ideen auf ihrem eigenen Mist gewachsen sind. Ich wußte ganz genau, was ich wollte, nur nicht, wie wir dahinkommen sollten. Damit alle an einem Strang ziehen, ist es manchmal notwendig, daß man Leute in dem Glauben läßt, sie wären selbst auf diese oder jene geniale Idee gekommen.

ME/SOUNDS: Manche Musiker richten dagegen in ihrem Privatleben bewußt Chaos an, weil ihnen sonst die Inspirationen ausgehen würden.

AXL: Ich glaube, das hängt von der jeweiligen Persönlichkeit ab. Viele Leute, mich eingeschlossen, ziehen es vor, an bestimmten Umständen nichts zu ändern, auch wenn sie eigentlich negativ sind, weil man sie eben genau kennt. Man hat sich daran gewöhnt. Selbst wenn man sich ein ganz neues Chaos schafft, bleibt es im Kern oft gleich, obwohl die äußeren Umstände anders sind. Man klammert sich aus Angst vor dem Unbekannten an diesen Dingen fest, das ist etwas ganz Normales. Wenn dir zum Beispiel eine gewisse Wut immer geholfen hat. mit der Welt zurechtzukommen, behältst du sie eben bei, anstatt zu lernen, dich anders zu verteidigen. Du hältst an Ängsten oder Frustrationen fest, weil sie so sehr ein Teil deiner selbst sind, daß du dir nicht vorstellen kannst, ohne sie auszukommen. Natürlich wärst du ohne sie besser dran, aber versuch mal, das deinem Unterbewußtsein klarzumachen!

ME/SOUNDS: Diese Schutzschichten eine nach der anderen abzuwerfen, seinen bösen Geistern gegenüberzutreten, ist für niemanden leicht, aber für jemanden in deiner Position muß es besonders schwierig sein. Deine Wut hat sich schließlich ausgezahlt. Wenn du auf die Bühne gehst und ihr Luft machst, applaudieren die Leute. Wie kann man sich da von ihr befreien?

AXL: Das ist so ähnlich wie einen Plattenvertrag zu unterschreiben und von der Firma als die bösen Buben vermarktet zu werden. Wenn der Erfolg dann da ist, erwartet man von dir auf einmal, daß du ein netter, sozialer Mensch wirst und dich in den Meetings mit den Anwälten gesittet und geschäftsmäßig verhältst. Und du denkst dir, Moment mal, wir sind überhaupt nur hier, weil wir einmal ganz anders waren, und jetzt sollen wir plötzlich ganz brav sein? Das zu begreifen und mich selbst soweit umzumodeln, daß ich in diesen Situationen nicht mehr nur den bösen Buben mimen mußte, hat lange gedauert. Damit Geschäft und Karriere reibungslos weiterliefen, mußte ich mich zweiteilen, und das ist hart. Ich wäre lieber nur eine Person, aber der abgerückte böse Junge mit den psychischen Problemen, der dauernd ausflippt, stand zu oft im Weg.

ME/SOUNDS: Spielst du darauf an, daß dein Vater dich sexuell mißbraucht hat, und dein Stiefvater später deine Schwester?

AXL: Ja. Und das passierte in einer streng religiösen Familie, in der immer nach dem Motto „Wer die Rute spart, verzieht das Kind“ gehandelt wurde.

Es war in Ordnung, seine Kinder zu schlagen. Diese Dinge haben sich ganz tief in meiner Persönlichkeit festgesetzt. Der Heilungsprozeß besteht darin, in die Vergangenheit zurückgehen, die Wut oder den Schmerz noch einmal zu erleben und dann seinen Frieden damit zu machen.

ME/SOUNDS: Hast du noch Kontakt zu deiner Familie?

AXL: Nein, ich habe mit meinen Eltern seit anderthalb Jahren nicht mehr gesprochen. Vor Kurzem habe ich ihnen ein paar Briefe geschrieben, damit sie wissen, wie es mir geht, aber als ich anfing, gewisse Sachen an die Öffentlichkeit zu bringen, ließen sie mich sehr eindeutig wissen, daß ich das lieber bleiben lassen sollte.

ME/SOUNDS: Wenn du dich mit etwas beschäftigst, was in deiner frühesten Kindheit geschehen ist, wie kannst du wissen, daß deine Erinnerungen real sind und keine Träume, Phantasiebilder oder Projektionen?

AXL: Ich habe eine Menge Bestätigung von Leuten erhalten, die wußten, daß etwas Schreckliches im Gange war. Meine Großmutter zum Beispiel, selbst heute kann sie nur mit dem Kopf nicken, wenn ich sie daraufhin anspreche, klare Aussagen verweigert sie. Aber die Art, wie sie reagiert, spricht Bände. Außerdem zeigen mir die Emotionen, die an die Oberfläche kommen, und die Last, die jedesmal von mir abfällt, wenn bestimmte Themen zur Sprache kommen, daß ich meiner Erinnerung trauen kann. Ich fühle mich mittlerweile einfach viel, viel besser.

ME/SOUNDS: Wenn du mit deinem Therapeuten sprichst, bist du dann Axl oder dein früheres Ego William „Bill“ Bailey?

AXL: Axl, auf jeden Fall. Bill ist jemand, von dem ich mich schon vor langer Zeit getrennt habe. Man hat mich nach meinem Vater benannt, und darauf bin ich nicht gerade stolz. Wenn ich mich mit dem Kind in mir auseinandersetze, dann bin ich Billy, aber sonst nur Axl. Das ist der Name einer Band, die ich mit Izzy hatte, und irgendwann sagte er zu mir: „Du lebst, atmest, ißt, schloßt und sprichst Axl. Warum bist du nicht einfach Axl?“ Also wurde ich Axl Rose. Und ich habe es geschafft.