„Betonrausch“ auf Netflix: Das zahme deutsche „The Wolf of Wall Street“


Mit den Drogenpartys, Sex-Eskapaden und Blender-Taktiken seiner Hauptfiguren erinnert der zweite deutsche Netflix-Film unweigerlich an Martin Scorseses Meisterwerk. Die bravere Version von „The Wolf of Wall Street“ mag kurzzeitig unterhalten, enttäuscht dann aber mit Ideenlosigkeit und fehlender Systemkritik.

Eine exzessive Party geht zu Ende, berauschte Gäste liegen überall in der dekadenten Villa verteilt. Nur Viktor (David Kross) ist noch bei Bewusstsein, putzt sich das Blut von der vom Kokain zerfressenen Nase und sieht sich den Imagefilm seiner Immobilienfirma an: „Sicherheit, Kontinuität und Vertrauen ist, wofür  Victory & Falkland“ stehen, heißt es. Stolz wie ein Löwe wirkt er dabei. Verzückt von dem, was er mit Freund Gerry (Frederick Lau) geschaffen hat. Indessen bringt sich draußen schon das SEK in Stellung, um zuzuschlagen. Die Liste der Straftaten ist lang, der ganze Erfolg gründet allein auf einer Aneinanderreihung von Betrügereien. Die Immobilienblase ist – genau wie der Traum vom Selfmade-Millionär – geplatzt.

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Von Immobilienhaien mit Löwenherzen statt Finanzwölfen

Damit wäre der erste Exzess des Films eigentlich auch schon der letzte, würde nicht in Rückblenden erzählt werden. Die sorgen nämlich dafür, dass sich Montagen aus Besuchen im Edel-Puff, immer noch mehr Kokain und der daraus resultierende, infantile Ich-bin-der-König-der-Welt-Übermut durch den gerade mal 90 Minuten langen Film ziehen. Kommt einem irgendwie bekannt vor? Richtig, „Betonrausch“ erscheint wie die zahme deutsche Version von „The Wolf of Wall Street“. Als Dramedy wandelt sie ebenso zwischen Klamauk und Ernsthaftigkeit, entscheidet sich aber am Ende mehr für Heldengeschichte als Systemkritik. Schauplatz ist, statt der New Yorker Börse, der Berliner Immobilienmarkt. Statt mit Aktien wird mit Wohnungen gehandelt und die Protagonisten veranstalten nicht wie bei Martin Scorsese im Büro ein „Zwergenwerfen“ – nein, Viktor und Gerry zocken lieber ewig lange PlayStation auf der Arbeit. Viel Neues fügt der Film der bekannten Blender-Geschichte um Exzess und Rausch leider nicht hinzu.

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Das heißt jedoch nicht, dass die beiden Hochstapler zimperlicher mit ihrer Umwelt verfahren, als das in der vermeintlichen Vorlage der Fall ist. Die Arroganz des just ergaunerten Reichtums führt auch bei Viktor und Gerry dazu, dass sie ihre Mitmenschen, insbesondere jene, die für sie arbeiten müssen, demütigen. Als sie ein Versicherungsunternehmen aufkaufen, müssen die Angestellten Weihnachtslieder für die neuen Chefs schmettern, um nicht gefeuert zu werden. Und die Buchhalterin hat beim Einstellungsgespräch eine Line Kokain zu nehmen, um den Job zu bekommen. Das Unangenehme daran ist, dass man das eben nicht nur lustig, sondern die beiden „Helden“ auch noch irgendwie sympathisch finden soll.

Die schwere Kindheit ist schuld

Das zeigt sich unter anderem daran, dass Regisseur und Autor Cüneyt Kaya (ebenfalls Autor von „Asphaltgorillas“) mit Auszügen aus der Biografie Viktors die Beweggründe für sein kriminelles Tun aufzeigen möchte. So ist die eigentliche Handlung des Films in ein Video-Interview im Gefängnis, in dem Viktor mittlerweile gelandet ist, eingebettet. Darin erzählt er der Journalistin beispielsweise von den finanziellen Problemen seines Vaters, über dessen Malerbetrieb der gefürchtete Steuerbescheid stets wie ein Damoklesschwert schwebte. Und wie die Mutter den armen Vater in der Stunde der Not für einen wohlhabenderen Mann verließ. Frauen und Finanzbehörden, ihre Unberechenbarkeit und Raffgier, werden als das eigentliche Übel in Viktors Welt präsentiert. 

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Außerdem wird von seinem schweren Start in Berlin berichtet. Mit so gut wie nichts in der Tasche landet Viktor als Schwarzarbeiter auf dem Bau. Die Türen des Penthouse, dass er so gerne gemietet hätte, werden ihm vor der Nase zugeschlagen. Er hat die Wahl zwischen Parkbank oder überteuerter illegaler Untermiete. Auch das wahrlich gnadenlose kapitalistische System spielt Viktor übel mit.

Vom Unterdrückten zum Unterdrücker

Vermutlich ist das der Zeitpunkt, an dem Viktor beschließt, unsauber zu spielen. Er fälscht Ausweis und Arbeitsvertrag, um sich doch noch eine Luxuswohnung zu erschleichen. Und wie der Knecht, der nur davon träumt, selbst König zu sein, wird er vom Unterdrückten zum Unterdrücker: Jetzt vermietet er sie nämlich ebenso überteuert an mittellose Schwarzarbeiter unter. Mit Freund Gerry an der Seite agiert er bald schon professioneller, erwirbt bei Zwangsversteigerungen Schrottimmobilien, um sie zu exorbitanten Preisen an gutgläubige Mittelständler zu verhökern. Ausgestattet mit Krediten von Bankerin Nicole (Janina Uhse).

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Viktor wird dabei oft wohlwollend als smarter Businessmann präsentiert, der die Lücken im System für sich zu nutzen weiß. Aber es gibt auch Stellen, in denen der Film mit einem Anflug von Kritik Viktor als durchtriebenen Schelm zeigt, der sich in seiner neuen mächtigeren Rolle eben etwas zu gut gefällt. Wer könnte es ihm übel nehmen – bei seiner Historie? Man könnte meinen, Gerry und Nicole, die sich mit mindestens genauso viel krimineller Energie am Immobilienbluff beteiligen, verfallen dem Rausch nur nicht komplett, weil sie nicht die gleichen traumatischen Kindheitserfahrungen gemacht haben.

Fazit: Während „The Wolf of Wall Street” seine Helden auch der Lächerlichkeit preisgibt und sie dadurch entzaubert, kommen die Protagonist*innen in „Betonrausch“ teilweise mit einem blauen Auge, teilweise sogar gänzlich unbescholten davon. Die deutsche Dramedy verpasst die Chance, die Plot-Entwicklung als eine Kritik am entfesselten Immobilienmarkt zu nutzen. Stattdessen werden Gerry und Viktor sogar noch als Draufgänger zelebriert. Man soll mit ihnen lachen und weniger über sie. Sie sind eben keine Wölfe, sondern die unbelehrbare Löwen.

„Betonrausch“ läuft ab 17. April bei Netflix.