Dancing In The Street


Einem in Schweden lebenden Nigerianer ist es zu verdanken, daß Reggae aus Jamaika in Deutschland wieder Fuß faßt. Mit "Hello Afrika" und "No Coke" machte Dr. Alban einen Musikstil populär, den Insider als "Ragamuffin" kennen. ME/Sounds-Mitarbeiter Hanspeter Kanzler gibt den Einführungsunterricht.

Laut Wörterbuch ist ein „Ragamuftin“ eine „Vogelscheuche“. Tippa Irie, Mitte der 80er Jahre Mitbegründer der Londoner Reggae-Renaissance (von“.Hello Darling“ verkaufte er satte 300.000 Exemplare), liegt auf dem Teppich seiner Plattenfirma, um übers neue Album ORIGINAL RAGAMUFFIN zu reden. Er definiert“.Ragamuffin“ so: „Ragga ist das, was im Ghetto geschieht. Ein Ragamuffin ist ein Ghetto-Bewohner, der sich über Wasser zu hallen versuch!, gleichzeitig aber auch eigene Ideen verwirklicht. So wie mir das geglückt ist.“

Rodney ist zusammen mit Partner Bionic das Ragga-Hip Hop-Duo London Posse. Mit der beinharten Reggae-Hip-Hop-Synthese „Money Mad“ dominierte es unlängst wieder die einschlägigen Rap- und Reggae-Tanzhallen. Er definiert den Begriff so: „Ein Ragga ist ein Grobian.“ Und weiter: „Ein Ragga ist einer, der mit nichts anfing und irgendwie seinen Lebensunterhalt verdienen mußte. Nicht unbedingt auf der falschen Seite des Gesetzes. Ein Ragga ist ein konstruktiver Mensch. Er weiß, wo’s lang geht, ist einer, der durchkommt.“

Und die Musik der Raueas? Rodnev: „In England hören sich die meisten Raggas Reggae an, denn ihre Familien kommen oft aus der Karibik. Darüber hinaus ist Reggae hier schon lange Teil des Alltages. luden USA ist die Musik der vergleichbaren Jugendlichen eher Hip Hop, denn Reggae war da bisher nie mehr als eine Randerscheinung.“

Und da liegt der springende Punkt: Plötzlich sind es nicht mehr nur die Insider, die in New York den überfälligen Durchbruch des Reggae ins geortet haben, sondern auch konservative Businessblätter wie etwa „Billboard“, das dem Phänomen jüngst eine Spezialbeilage widmete. Vom Pionier Spoonie Gee bis zu Popstars wie Heavy D. & The Boyz oder Kulturtheoretikern wie KRS-1 und Big Daddy Kane haben Rapper schon lang den jamaikanischen Sprechsängern (Toasters, MCs. etc.) Tribut für ihre Pionierarbeit gezollt. Jetzt streuen sie immer häufiger typische Reggae-Tricks und -Beats in ihre Musik ein.

Bester Beweis aber sind nach wie vor die Verkaufszahlen: Das Album-Debüt der „Ragamuffin Queen“ Shellv Thunder (deren Titel „Kuff‘ 1988 den Sound der New Yorker Raggablasters bestimmte) setzte allein in New York im Handumdrehen 50.000 Exemplare ab; „Telephone Love“ von June „J. C.“ Lodge wurde bereits im „Underground“ 30.000-mal verkauft (was der Sängerin einen Vertrag beim Hip Hop-Label Tommy Boy einbrachte), der Toaster Lieutenant Stitchie unterschrieb bei Atlantic einen Mega-Vertrag — und der stilprägende Shinehead tat bei Elektra dasselbe. Foxy Browns Version eines Tracy Chapman-Songs kam in die Billboard-Charts, der zwei Jahre alte Titel „Life (Is What You Make Of It)“ vom Londoner Duo Frighty & Colonel Mite folgte nach.

War das Phänomen bislang auf New York und London beschränkt, so schaffte es ausgerechnet der Nigerianer Dr. Alban, den Dancehall-Hip Hop — wenn auch in verwässerter Form — selbst in deutschen Hitparaden zu etablieren. „No Coke“, seine zweite Single, ist eine Anspielung auf die Kontroverse, die zwischen Raggas und Rastas entbrannt ist: Während Letztere auf den traditionellen Reggae und ihre tägliche Ration Marihuana schwören, propagieren Raggas nicht nur musikalisch mehr Speed, sondern sind auch der Großstadt-Droge Kokain nicht abgeneigt.

In Lebensstil und Selbstverständnis sind die Unterschiede also durchaus greifbar, aber ist Ragamuffin auch als musikalischer Stil definierbar? „Kaum“, meint Tippa Irie. „Es ist einfach ein neuer Name für eine neue Phase in der Entwicklung des Reggae, wie damals der Ausdruck Rub-a-Dub.“

Der Beginn dieser Phase kann präzise zu breite Tanzbewußtsein

rückverfolgt werden. Es geschah im Frühjahr 1985: Damals setzte sich der Kingstoner Produzent Prince Jammy (heute King Jammy) erstmals an die Konsole, um einen Begleittrack komplett am Computer herzustellen. Aus „Under Me Sleng Teng“ (gesungen von Wayne Smith) wurde ein kapitaler Hit, von dem weit über 200 Versionen eingespielt wurden. Dabei entwuchs die Popularität des Titels dem authentischen Underground, den Tanzhallen, und so war fortan der Gebrauch des Computers in allen Reggae-Formen legitimiert. Um die gleiche Zeit begann auch die Bezeichnung „Ragamuffin“ die Runde zu machen — Junior Delgado lieferte mit „Ragamuffin Year“ den Titelsong für das Reggae-Comeback.

Reggae hatte lang im Tal der Tränen gesteckt. Vor allem auf dem europäischen Kontinent war Reggae mit Marley gleichgesetzt worden, und demzufolge der Tod Marleys mit dem Tod des Reggae. Über Nacht war der Musik ein erheblicher Teil ihres kreativen Impulses entzogen worden. Sie reagierte, indem sie sich wieder ins Ghetto der Tanzhallen zurückzog. Der Computer aber brachte frischen Wind. In England hatten junge MCs wie Tippa Irie, Pato Banton oder Peter Levi begonnen, über englische Themen zu loasten. Sie halfen, ein neues Selbstbewußtsein unter schwarzen Briten zu schaffen, das fortan die stilistische Eigenständigkeit im Reggae und im Hip Hop förderte. Genau so wichtig: Sie tourten durch die USA. und gerade unter Rap-Fans fanden die Gäste aus England offene Ohren. Anfang der 80er Jahre hatte der Regierungsantritt des konservativen jamaikanischen Premiers Edward Seaga eine neue Auswanderungswelle in die USA ausgelöst — was ein frisches reggaegewohntes Publikum schaffte. Dieser Welle entstiegen unter anderem Shelly Thunder und Shinehead. Shinehead ließ 1985 erstmals von sich hören, als er Michael Jacksons „Billie Jean“ in einen Reggae-Hit verwandelte, um dann mit „Who The Cap Fit“ das Zeitalter des Reggae-Hip Hop definitiv einzuläuten.

Es dauerte nicht lange, da sprach es sich in der britischen Rap-Szene (die bis dahin Reggae als alten Hut ignoriert hatte) herum, daß unter den angebeteten US-Insidern der Fast Style der MCs aus England höchsten Respekt genoß. Man hörte plötzlich wieder hin — und merkte, daß abseits vom Rampenlicht insbesondere in London und Bristol Reggae-Fans wie die London Posse, Wild Bunch, Demon Boyz, Asher D. und Daddy Freddy an einer Fusion von Hip Hop und Reggae gearbeitet hatten, die an Einfallskraft, Härte und Relevanz keinesfalls altbacken wirkte: Flugs wurde die Sache „Ragga Hip Hop“ getauft. London Posse: „Wir wuchsen mit Reggae auf, mochten aber auch Rap. Die Fusion entstand auf ganz natürliche Weise. Shinehead? Wir machten Hip Hop-Reggae. lange bevor wir den ersten Yankee das machen hörten!“

Ragamuffin bezeichnet heute schlicht jede schnellere, moderne Reggae-Form, die in den Tanzhallen geschätzt wird, die mit Hip-Hop-Elementen. Elektronik und schnellem Sprechgesang operiert — und dazu gehören auch die Produkte von Produzent Augustus „Gussie“ Clarke. Clarke eröffnete sein Music Works-Studio 1988 und demonstrierte gleich mit der ersten Single („Rumours“ von Gregory Isaacs), daß er eine frische Vision hatte: Er schaffte es, sowohl den härtesten Raggas zu gefallen als auch beim ungeübten Ohr „commercial potential“ zu zeigen. Dennis Brown. JC Lodge, Home T, Cocoa Tea und nicht zuletzt der Star der momentanen Jamaika-Toasters, Shabba Ranks, dürfen sich bei Clarke für Mega-Hits bedanken.

Eine typische Ragamuffin-Produktion ist DONT TEST!, das erste Album von Junior Tucker. dem kleinen Bruder von Maxi Priests Produzenten Handel Tukker. Mit diesen Songs hat der Reggae endlich wieder einen Sound gefunden, der von Radio-DJs nicht als hifi-unwürdig abgeschrieben werden kann. Nicht auszuschließen, daß der nächste große Reggae-Hit aus dieser Küche stammen wird.