Das Musikalische ist politisch: Unterwegs beim Reeperbahn Festival 2018


Vier Tage lang Pop und Politik: Das 13. Reeperbahnfestival in Hamburg positioniert sich zunehmend feministisch, gesellschaftskritisch und zukunftsorientiert. Neben dem Line-up dieses Jahr auch außergewöhnlich stark: der Wind.

Über 600 Bands in mehr als 80 Locations. Das bestimmende Grundgefühl beim Reeperbahnfestival, das dieses Jahr vom 19. bis 22. September in Hamburg stattfand, gleicht jedes Jahr aufs Neue dem eines Städtetrips, bei dem man erst nach Ankunft merkt: Verdammt, wir haben einen Tag kürzer gebucht, als gedacht! Das durchgeplante Programm steht zwar, aber es muss schnell gehen.

Dieses „Alles ist jetzt“-Problem offenbart sich 2018 zum Beispiel am Donnerstagabend bei Neufundland im Terrace Hill: Nach 45 Minuten großer, kraftvoller Show ist der Raum halb so voll wie zu Beginn. Grund? Verlockende Konkurrenzveranstaltungen. Nirgendwo sonst spielen so gute Bands den Platz vor der Bühne leer statt voll.

Noch mehr Frauen, bitte

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Dieser zweite Festivaltag steht unter einem besonderen Vorzeichen. Als Teilnehmer des „Keychange Project“ widmen die VeranstalterInnen ihn den Frauen in der Musikindustrie. Die Initiative der britischen PRS Foundation, die weibliche Akteurinnen in der männlich dominierten Branche auf und hinter der Bühne unterstützt, hat dabei ein erklärtes Ziel: „50:50 by 2022“, also in vier Jahren genauso viele männliche wie weibliche Acts auf die Festivalbühnen zu bringen. Und man muss das Line-up nicht lange inspizieren, um festzustellen, dass da noch Luft nach oben ist.

Neben diesen Entwicklungschancen wird beim Reeperbahn Festival 2018 auch an den Themen der verschiedenen Panels, Workshops und Podiumsdiskussionen deutlich, wie nah sich Pop, Politik und Gesellschaft (wieder) stehen – und in Zukunft noch näher stehen müssen. Fabian Langer von Neufundland fasst den neuen Idealismus seiner Generation schlicht zusammen mit: “Macht einfach nur gute Sachen.” Das „Keychange Project“ ist eine davon. Es muss sich aber, wie alle anderen zukunftsorientierten Projekte, erst noch in seiner Wirksamkeit beweisen.

So viele gute Bands, so wenig Zeit

Am Freitag dann das Konzert, das einen kurz mal rausholt aus dem Zappelmodus: Das Paradies in der Großen Freiheit strahlt ansteckende Gelassenheit aus. Einatmen, ausatmen. Weiter ins Moondoo um die Ecke: Ilgen-Nur macht ihre Sache gut, zumindest dafür, dass sie ihren eigenen Auftritt mal wieder richtig langweilig findet. Zurück am anderen Ende der Reeperbahn – oder genauer: unter ihr – ist das Publikum im Mojo mit Ace Tee und Support Kwam.e „down, down“. Also so down man eben sein kann bei der hohen Publikumsfluktuation, die die Stimmung auch hier spürbar abkühlt. Und hatten wir schon die Sturmböen mit Windstärke 9 erwähnt? Wer noch am Tag zuvor die Wollmütze für den Style trug, war auf einmal unverhofft sehr richtig angezogen.

In der altehrwürdigen Kirche St. Michaelis geht es am späteren Abend hochkonzentriert zu: Get Well Soon hält seine düster-sinnliche Andacht ab. Große, spooky Hymnen in imposanter, hell erleuchteter Kulisse. Wir sind gekommen, um zu leiden.

Muse als geheimer Headliner

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Fast zeitgleich liefern Muse in den Docks das Kontrastprogramm. Als geheimer Headliner der „Warner Music Night“ spielen sie eine glattpolierte Stadion-Show – auch beeindruckend, dafür weniger berührend. Die längst nicht mehr geheimen Favoriten des Abends kommen aus Australien und leben in Berlin: Parcels füllen mit sonnigem Funk-Pop die Große Freiheit und mit der Warteschlange auch die gleichnamige Vergnügungsmeile davor. Mehrstimmiger Gesang, knusprige Bässe, perfekte Harmonien, jeder Song ein Hit, ja, man muss es leider jetzt mal ganz unironisch sagen: Kann man nur schwer scheiße finden.

Am letzten Festivaltag zeigen sich, ähnlich wie bei ambitionierten Städtetrips, Erschöpfungszustände. Die dynamische Show der Reeperbahn-Urgesteine WhoMadeWho hilft ein bisschen. Was gar nicht hilft, ist der schlimme Auftritt von Metronomy, die versuchen, von flachen Arrangements und einfallsloser Inszenierung mit schmerzhaft übersteuerter Lautstärke abzulenken. Lieber direkt zur abschließenden Depri Disco ins Molotow zum Abweinen. Und dann ist auf einmal alles gleichzeitig vorbei: das Reeperbahn Festival und der Sommer 2018. Zeit, sich ein Jahr lang auszuruhen.

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