Das Wunder von Bergen


Hier regnet es den ganzen Tag. Und das Bier kann keiner bezahlen. Aber genügt das schon, das Phänomen der gar nicht mehr so heimlichen Pophauptstadt Norwegens zu erklären? Frank Sawatzki flog nachschauen.

Die Nachricht des Tages lautet „Her erhun!“ Hier ist sie! Frontpagefüllend blickt uns Ingrid Alexandra von den Boulevardblättern an, ein bisschen verständnislos ob des Rummels, der sie seit Geburt umgibt. Kommt die kleine Prinzessin nun nach ihr oder nach ihm? Es folgt die vergleichende Babyfotoforschung mit Aufnahmen von Kronprinz Haakon und seiner Frau Mette-Marit im Säuglingsalter. Vor den Zeitungskiosken am Fischmarkt in Bergen verlangsamen Passanten ihren Schritt zum Babygucken. Es ist Prinzessinnentag.

Torrinn Nergaard Andersen, Chef des Recgo-Labels, sitzt nur ein paar hundert Meter entfernt von dem Trubel in seinem Büro. Ihn interessiertdas alles nicht. Daumen drücken, meint er: Morgen erscheinen die Kritiken zum neuen Album von Low Frequency In Stereo in den norwegischen Zeitungen. „Das ist wichtig für uns.“ Andersen hat mit seinen Recgo-Bands entscheidend zum Pop-Boom in Bergen beigetragen, einer Erfolgsstory, die vor vier, fünf Jahren noch undenkbar war. Mikal Teile, der große Junge im kleinsten Plattenladen der Welt, „N0stekollektivet‘.’und Jörgen Traeen, der geniale Produzent, der über den Dächern der Stadt im „Industrihuset“ den Klang regelt, sind die beiden anderen, um die sich in der Szene so viel dreht.

Bergen – Entdeckung des Smalkown-Supersound, Erfindung des Extrem-Networking. Das ist die wundersame Geschichte einer Kleinstadt, die ein bisschen Zukunftsmusik spielt, angesiedelt vor dem Panorama einer Fjordlandschaft. Am Rande der Welt und doch wieder gar nicht, quiet is the new loud von den Kings Of Convenience, 2001 veröffentlicht und inzwischen 150.000 Mal verkauft, war das Album, das den Boom lostrat. Das Motto für eine Generation zupfender und zirpender Songwriter, die keinen Verstärker für ihre inneren Angelegenheiten brauchten. Das Duo Röyksopp demonstrierte mit melody a.m., was in den elektronischen Designer-Studios der Stadt passiert und ward bald vor lauter DJ-Terminen kaum mehr gesehen.

Als hätte man all die anderen Bergen-Bands lange Zeit künstlich von der Öffentlichkeit fern gehalten, fielen sie nun in munterer Folge vom stets bedeckten Himmel dieser Stadt: Ai Phoenix, die stillen Liedermacher mit den naturbelassenen Geschichten. Sister Sonny, undurchsichtige Poeten auf dem schmalen Pfad zwischen Pop und Avantgarde. Die Herren von Kaizers Orchestra, die kreuzfideles Humtata mit norwegischem O-Ton mischen. Der Songwriter Sondre Lerche, der erstmal die Schule zuende machen musste. Nachdem auch noch der Gewinner des „Superstar weltweit“-Wettbewerbes aus Bergen kam, Kurt Nilsen, ein cooler 25-jähriger Ex-Klempner mit Zahnlücke, herrscht nun wirklich Aufklärungsbedarf.

Vom Flugzeug aus fällt der Blick auf Dutzende von kleinen Inseln mit putzigen Holzhäuschen, über die jemand ein Glas Puderzucker ausgekippt hat. Die roten Bremslichter der Autos, die sich auf den Einfallstraßen vor den Mautstellen am Stadtrand von Bergen stauen, wollen nicht so recht in diese Schneelandschaft passen. Das hat man in Bergen nicht alle Tage. Die Küstenstadt, die auf sieben Hügeln thront, ist Europas Regenloch. 230.000 Einwohner, ehemalige Handelsdrehscheibe am Nordmeer, viele echte und viele gemachte Attraktionen. Man spricht längst wieder deutsch in „Tyskebryggen“, der zur Touristenmeile umfunktionierten alten Lagerstadt der Hansekaufleute, die zum Weltkulturerbe gehört. Im Zentrum von Bergen sind Regenschirmautomaten aufgestellt.

Zu den Clubs der Stadt muss man sich durchfragen. Wo bitte geht’s hier zum „Hulen“? ,JKn der Uni vorbei, den Berg runter,frag dann einfach weiter.“ Ein gelbes Eisengitter in der Felswand und ein kleines Schild weisen auf Norwegens ältesten Rockclub hin. „Hulen“ ist in einer weitläufigen Bunkeranlage aus dem Zweiten Weltkrieg untergebracht. Heute und morgen steht St. Thomas auf dem Programm. Neues Album (let’s grow together), neue Band, doch jeder will erstmal den Hit „Cornerman“ hören. Thomas Hansen hat nicht nur seine ersten beiden Platten in Bergen aufgenommen, bevor er mit Freundin wieder nach Oslo verschwand, er ist auch der ungekrönte König des Gossip in der Szene, weil jeder Zweite schon mal in einer seiner zahlreichen Bands gespielt hat. Ex-Rumhänger, Ex-Postbote, Ex-Träumer. Einer, der durch die Wälder streifte, um sich selbst als Popstar zu erfinden. An der Bar im „Hulen“ werden St.-Thomas-Witzchen gemacht.

Vor 23 Uhr betritt die St.-Thomas-Band nicht die Bühne. Die Showtime ist den Ausgehgewohnheiten der Norweger angepasst, die sich einzig und allein durch die hohen Alkoholpreise (umgerechnet sechs bis acht Euro für einen halben Liter Bier in Bars und Clubs) erklären. „Bevor wir rausgehen“, erzählt Torfinn Nergaard Andersen, „treffen wir uns mit Freunden für ein paar Stunden zu Hause, hören Musik, trinken uns schon mal in Stimmung. Nach Konzert, Show oder Barbesuch trifft man sich noch einmal privat, kocht, isst und trinkt vielleicht weiter. Das nennen wir Vorspiel und Nachspiel.“ Torfinn grinst. „Eine gute Einrichtung. Norweger sind, wenn sie jemandem nicht persönlich vorgestellt werden, sehr schüchtern.“ In der Musikszene von Bergen kennt jeder jeden. Black-Metal-Gitarristen spielen auf dem Album des designierten Popstars Evil Tordivel. Der Schwede Kristian Stockhaus, Neu-Bergener mit eigener Band und Side-Project, geht mit Ai Phoenix auf Tour und half den jungen Elektro-Knallfröschen Datarock kurzfristig am Synthie aus, obwohl er eigentlich Gitarre spielt. Ortsansässige Künstler produzieren Videos von befreundeten Bands. Eine Szene, so klein, so überschaubar, so freundlich und freundschaftlich, dass dem beobachtenden Reporter das Herz aufgehen muss. „Bergen ist vielleicht wie ein kleiner Teil von London oder Berlin „, glaubt Mikal Teile, der die ersten Singles von Kings Of Convenience und Röyksopp auf seinem Label veröffentlichte. „Wenn du dich hier aufeine Art von Musik konzentrierst, dann stehst du ganz allein da. Die Stadt ist nicht groß genug, um spezifische Szenen hervorzubringen. In Bergen musst du ein wenig von allem in deine Musikmixen, das fuhrt zu dem eigenen Sound.“

a-ha waren lange Zeit die einzigen Role-Models, die norwegische Popmusik für junge Bands hervorzubringen wusste. Saubermänner zwar, aber mit Stil und dem richtigen Englisch für den Weltmarkt. Sie mussten noch in London bei den Plattenfirmen Klinken putzen, bis man ihnen einen Vertrag gab. Heute schwärmen die Trend-Scouts der Major Companies in Norwegen aus, und meistens landen sie in Bergen. Die Stadt hat eine Tradition als Country-Rock-Mekka seit den Siebzigern, in den goern wurde die Americana-Welle in Bergen an Land gespült, bevor der Rest des Landes etwas davon mitbekam. „Nur in den späten 80ern hatte Bergen einen schlechten Ruf unter Musikjournalisten“, erzählt Einar Engelstad, den sie hier nur „The Angel“ nennen, Inhaber des Indie-Plattenladens „Apollon“. „Neue Platten aus Bergen wurden durchweg als Tragödien bezeichnet. Die Barbie Bones gingen damals soweit, dass sie nach Oslo reisten, um ihre Demo-Tapes zu verschicken, nur um den anderen Poststempel auf den Päckchen zu haben.“

Morgens scheint Bergen nur langsam aus den Puschen zu kommen. Die Lieferwagen schleichen über die Schneereste in den Straßen, als hätte man sie angewiesen, für eine Zwischeneinstellung von „Twin Peaks“ Probe zu fahren. Um 9 Uhr ist es dunkel, diesig in den Hängen, der Nebel steigt hoch. Es regnet. Bergen-Wetter. Das kann aber noch schlimmer kommen. Wenn Gunnar Staalesen, der Krimiautor aus Bergen, über seine Stadt schreibt, wird es urungemütlich: „Ein feuchter Frost trampelte mit so schweren Gummistiefeln über Bergen, dass man es unter dem Tiefdruck kaum schaffte, aufrecht zu gehen.“ Man verzieht sich in die Cafes und Bars, ins „Opera“, wo Tische und Bänke in nullkommanichts in den Keller geschafft werden, damit Mikal Teile und seine DJ-Freunde Party machen können. Oder ins „Legal“, die rot-braun illuminierte Studentenbar, die eine Überdosis Seventies-Gemütlichkeit versprüht. Später geht’s unbedingt in die „Garage“, einen handfesten Rockschuppen, dessen Live-Keller Ort der Initiation einer jeden Band aus Bergen ist. „Jeder will und jeder muss hier spielen“, sagt Kurt Nilsen. „Wir hatten eine höllischgute Zeit in der,Garage‘. Das ganze Publikum sang noch 15 Minuten nach dem Konzert, um uns wieder auf die Bühne zu locken.“

Sondre Lerche, der 21-jährige Songwriter, der nach erfolgreicher US -Tournee gerade sein zweites Album two way monologue veröffentlicht hat, erinnert sich an die ersten Auftrifte im Cafe „Opera“: „Meine ältere Schwester hat da gearbeitet. Sie wusste, dass ich ein Stubenhocker bin und einen Anstoß brauche, um mich mit meinen Songs vor ein Publikum zu wagen. Sie hat mir versprochen, direkt an der Bühne zu stehen, wenn ich mit meiner Gitarre auftrete. Manchmal begleitete sie mich auch auf dem Tambourin.“ Damals lebte Sondre noch bei seiner Mutter. Nach der Schule, so wird berichtet, verzog er sich sofort in sein Zimmer- zum Songs-Schreiben. Heute bewohnt er ein eigenes Haus auf der Landzunge Nordnes. „Ich sitze immer noch in meinem Zimmer, mit Gitarre und Cassettenrecorder, mit den Texten und den Ideen für meine Songs. Was kann man bei diesem Regen schon machen, außer sich nach drinnen zu verziehen und zu schreiben?“

Ruhig und relaxed arbeiten, sich ein Jahr für ein Album nehmen – in Bergen läuft niemandem die Zeit weg. In der Verlangsamung, die das Leben hier so mit sich bringt, entstehen Songs voller feinkörniger Bilder, Melodien, die im besten Sinne des Wortes einlullen und – das wollen auch die Protagonisten nicht abstreiten – einen Hang zur Melancholie besitzen. Es gibt verschiedene Lesarten der Langsamkeit und Beschaulichkeit. „Du fühlst dich schon isoliert hier“ sagt Erlend 0ye, der mit Eirik Glambek B0e gerade das neue Kings-Of- Convenience-Album in Bergen aufgenommen hat. „Es kommen nicht so viele Bands auf Tour vorbei, die Musikindustrie ist in Bergen nicht vertreten. Aber die Musikwird extrem ernstgenommen, du wächst damit auf von Anfang an scharf kritisiert zu werden/’Torfinn Nergaard Andersen vergleicht die Szene von vor zwei Jahren mit der von heute: „Damals war Bergen ein Spielplatzfür alle.

Es ging mehr um Spaß, und die Musiker waren weniger Business-orientiert.Der Wettbewerb ist härter geworden, heute musst du selbst als lokale Band Showcases spielen, um auf dich aufmerksam zu machen.“

Kurt Nilsen, frischgebackener „Superstar der Superstars“, kennt das alles zur Genüge. Mit seiner Band Fendrik Lane hat er keine Möglichkeit zu einem Auftritt ausgelassen-während des Pop-Festivals „by:larm“ etwa spielten sie live vor einem Kino im Schneesturm. Als Nilsen Anfang Januar am Flughafen von Bergen eintraf und quer über seine Zahnlücke gewinner lächelte, bereiteten Tausende ihm eine Party. Schön, dass Kurt, der Junge von nebenan, das geschafft hat, sagen sie hier. „Es hätte jeder sein können“, meint Olav Gorseth, Redakteur der großen Tageszeitung „Bergens Tidende“. „Bergen hat so viele vielversprechende Künstler, dass man schlecht vorhersagen kann, wer morgen groß rauskommt.“

Kurt Nilsen zeigt mir im “ Apollon“ das Regal „Lokale Heiter“ (Lokale Helden), in dem Nachwuchsbands auch ihre selbst gebrannten CDs verkaufen können. Diese Sachen hier musst du dir anhören. In diesem Regal haben wir auch mal angefangen. „Die schnelle Alternative, billiger als 1.000 Exemplare zu pressen: Mini-Album aufnehmen, CDs brennen, Cover basteln und für fünf bis sieben Euro in den Laden stellen. Das erste Album von Kaizers Orchestra, noch unter dem Bandnamen Gnom, wurde so zum örtlichen Verkaufsschlager.

What comes next? Das wollen die Journalisten und A & R-Manager natürlich wissen. Bergen spuckt gerade wieder ein paar Namen aus, die morgen auf den Einkaufslisten der Industrie stehen werden: Emmerhoff AndThe Melancholy Babies – Neocountrianer, die auch als Black-Sabbath-Coverband funktionieren; Indierock-Heimwerker ProfessorPez; Herr Nilsson mit seinem „Rain Song“ und der erst 15-jährige Pop-Wunderknabe Matias Tellez.

Nicht ganz so jung, nicht ganz so neu ist die Band Lorraine, eine Drei-Mann-Protestbewegung gegen das Gute im Menschen von Bergen. Sänger Ole guckt mich todernst an und sagt:

„Bergen ist eine inzestuöse Stadt, die immer gleichen Leute machen miteinander seit Jahren die immer gleiche Musik.“ Öles Bandkollege Pal hat den Passat Kombi von seinem Vater geliehen, um uns nach Sandviken im Norden von Bergen zu fahren, wo Lorraine lange Zeitin einem alten Speicher am Wasser geprobt haben.,Wir stinken vier Tage lang nach Fisch, wenn wir hier rauskommen „, sagt Gitarrist Anders. Eigentlich wollen sie ganz raus, aus Stadt, Land und Familienwirtschaft. In Hamburg haben sich schon mal auf Wohnungssuche begeben. Im Mai touren Lorraine mit den elektronisch verfeinerten Rock-Dramoletts ihres neuen Albums perfect cure wieder durch deutsche Lande. Dann trinken sie billiges Bier, schlafen im Bus und träumen davon, einmal eine große Band zu werden. Ai Phoenix proben in den Hinterräumen eines alten Fahrradlagers nicht weit von der ehemaligen Fischbude an der Mole entfernt, wo Mikal Teile heute noch Platten verkauft. Der Bassist ist neu, der Drummer fehlt noch, die Einsätze stimmen nicht. Auf ihre Tourneen freut die Band sich trotzdem – aus einem einfachen Grund: „In Deutschland kommen die Leute, weil sie die Band hören und sehen wollen. In Norwegen stehen sie rum und trinken und reden.“ Als Ai Phoenix das erste Mal auf der Bühne standen, erinnert sich Sängerin Mona, „fielen uns ständig Dinge auf den Boden, der Bassist blutete irgendwann aus der Nase, alles lief schief. Es ist gruselig, besonders, wenn du so eine langsame, ruhige Musik wie wir machst. Als ob du nackt da vorne stehst.“ Auf ihrem letzten Album i’ve been GONE -Letter ONE spüren die Musiker von Ai Phoenix lieber Orte der Geborgenheit auf. Plätze, die ihnen das beruhigende Gefühl geben, das man beim Gespräch mit alten Freunden hat. Ai Phoenix leben an einem guten Ort. Sie lassen es uns spüren. „Wir haben eine sehr schöne Mail von einem Fan bekommen „, erzählt Mona. „Erschrieb mir: .Wenn er nur könnte, würde er seinen Kopf unters Kissen stecken, die Kopfhörer aufsetzen und für immer unsere Musik hören.'“ Und wenn’s nur der eine ist. Die anderen haben ja Prinzessin Ingrid Alexandra zum Weltvergessen.