„Der kreative Prozess bei Depeche Mode stimuliert mich nicht mehr“.


sagt Dave Gahan im Gespräch mit dem Musikexpress und bringt damit Spekulationen über die Zukunft der Band in Gang. 22 Jahre Lang stand Gahan zwar im Mittelpunkt von Depeche Mode, aber auch im kreativen Schatten von Martin Gore. Ein Bild, das er jetzt mit seinem ersten Soloalbum paper monsters körnigeren will.

Der Rockstar steht seit 22 Jahren im Rampenlicht. Der Rockstar hat alles gehabt. Ruhm, Geld, Frauen, Alkohol, Drogen – Ruhm, Geld und Ehefrau, die Dritte mittlerweile, sind ihm geblieben. Drogen und Alkohol hat er hinter sich. Der Rockstar leidet trotzdem. Warum? Es reicht ihm nicht, das Gesicht einer Band zu sein. Das Gesicht von Depeche Mode. Es reicht ihm nicht, im Rampenlicht zu stehen. Er will am kreativen Prozess teilhaben. Er will mitentscheiden. Er will gehört werden. Er will reden.

Dave Gahan redet gerne. Er redet viel. Er kann durch die Antwort auf eine harmlose Frage einem harmlosen Interview eine ungeahnte Richtung geben. Aber fangen wir ganz von vorne an. Im Abstand von wenigen Wochen erscheinen zwei Soloalben von zwei Mitgliedern einer der größten Bands, die die achtziger Jahre überlebt haben: Depeche Mode. Martin Gores Counterfeit 2 und Dave Gahans Paper Monsters. Die zeitliche Nähe der Veröffentlichungstermine ist ungewöhnlich. Noch ungewöhnlicher ist, dass der Sänger einer Dinosaurier-Band aus den achtziger Jahren überhaupt ein Soloalbum herausbringt. Bono und Michael Stipe machen so was nicht. „Frontmann“ von U2 und R.E.M. zu sein, scheint genug Futter für übersteigerte Egos zu sein. Dave Gahan hat kein übersteigertes Ego. In der exaltierten, energiegeladenen Bühnenperson steckt ein sensibles Kerlchen. Später, als es darum geht, dass er sich nicht respektiert fühlt bei Depeche Mode, wird er zu Protokoll geben:

„Wenn ich das jetzt sage, hört es sich nach Selbstmitleid an, das stimmt aber nicht Ich will nicht bemitleidet werden, ich will nur, dass man mich beachtet.“ Da möchte man ihn, den Sänger von Depeche Mode, in die Arme nehmen, ihm auf den Rücken klopfen und sagen: „Keine Sorge, Dave, alles wird gut.“

Das Interview. Wir sitzen in der Suite eines Hamburger Nobelhotels. Die Kollegen, die vorher dran waren, lassen sich noch schnell mit Gahan auf dem Sofa fotografieren. Cheeeese. Und das Exciter-Album signieren. Und nochmal Cheeeese. Und Black Celebration. Und schnell noch Music For The Masses für Tante Marianne aus Pforzheim. Dann ist aber gut. Gahan schenkt eine Tasse Kaffee ein und steckt sich ein Zigarillo in den Mund. Fangen wir doch ganz unverbindlich an. Die Frage liegt ja so unverschämt nahe, dass sie sich fast von selber stellt:

Martin Gore gilt als der musikalische Direktor von Depeche Mode, du als der Entertainer. Versuchst du mit deinem Soloalbum, dieses Bild zu korrigieren? „Ja, das ist richtig. Ich glaube aber, dass es mir schon gelungen ist, das Bild zu korrigieren – allein dadurch, dass ich das Album gemacht habe. Als du das jetzt gesagt hast, hat es mir einen Stich versetzt, weil ich genauso gefühlt habe. Mein Produzent Ken Thomas hat mich bei unserem ersten Treffen gefragt, warum ich denn überhaupt ein Soloalbum machen will. Ich sagte: ,Weil ich mir immer wie ein Hochstapler vorgekommen bin.‘ Er meinte daraufhin: ‚Ich glaube nicht, dass du ein Hochstapler bist, sondern ein sehr guter Sänger.‘ (lacht) Das war zwar nett, aber ich habe mich immer noch als Hochstapler gefühlt. Ich mag es, mit Leuten zu arbeiten, die etwas in mir sehen, das ich selber nicht erkenne. Ich wollte immer, dass sich Martin mir gegenüber so verhält. Aber ich habe ihm nie richtig gesagt, dass ich auch ein paar Ideen einbringen kann. Martin ist nicht gerade der Typ, der mit Komplimenten um sich schmeißt – außer für sich selbst. Das war auch entscheidend dafür, dass uns Alan Wilder damals verlassen hat.“

Das klingt nach leichten Spannungen. Was auch im Interview mit Martin Gore (Musikepress 5/03) bereits zu spüren war. „Wir hatten jetzt längere Zeit keinen Kontakt“, sagte Gore damals über sein derzeitiges Verhältnis zu Gahan. Was natürlich kein Grund zur Aufregung ist. Nur in romantisierten Fan-Vorstellungen sind die Mitglieder einer großen Band gute Freunde. Sie kann niemand trennen, sie machen alles gemeinsam, sie leben sogar im selben Haus – wie die Beatles im „Help!“-Film. In der Realität sind die Mitglieder einer großen Band Geschäftsleute, die sich in Anwaltsbüros in Manhattan treffen, um vorab die Gewinne ihrer nächsten Tournee aufzuteilen – wie die Rolling Stones. Aber was Gahan über sein Verhältnis zu Gore sagt, wirkt fast so, als stünden Depeche Mode auf dem Spiel. „Ich glaube nicht, dass Depeche Mode gefährdet sind. Die Band ist, was sie ist, und wird es immer bleiben“, sagt er. Und Punkt? An dieser Stelle könnte der Befragte getrost einen Punkt machen und ganz geschmeidig zum nächsten Thema kommen. Aber Gahan macht keinen Punkt. Nicht einmal ein Komma: „Im Moment weiß ich nicht genau, ob ich bei Depeche Mode unter denselben Bedingungen arbeiten könnte wie vorher. Ich glaube nicht. Man müsste mich zu Wort kommen lassen, mich anhören und mir das Gefühl geben, dass meine Ideen genauso wichtig sind wie die Martins. Ich kann mehr und muss einfach mehr machen, das ist ganz offensichtlich. Und deshalb habe ich das Soloalbum gemacht. Ich hoffe, dass ich zu Martin sagen kann: ‚Schau her, wir haben zwar nie darüber geredet, aber das und das kann ich tun; lass es uns machen, lass uns gemeinsam daran arbeiten‘.“ Bei den Aufnahmen zum letzten Depeche Mode-Album Exciter war keine Rede von „gemeinsam arbeiten“ Gore hatte wochenlang mit einem Toningenieur und einem Programmierer an den Demos gearbeitet, bevor er dann im Studio Dave Gahan und Andy Fletcher vor beinahe vollendete Tatsachen stellte.

Wie gegensätzlich die beiden Charaktere Gahan und Gore funktionier(t)en, wird deutlich, wenn bei Interviews die Frage auf die Musik kommt. Gahan sprach früher lieber über Gott und die Welt als über Musik. Gore dagegen reagierte selbst auf beiläufig eingestreute Namen von Minimaltechno-Künstlern aus Köln heftigst. Beispiel: 1998 beim Musikexpress-Interview in New York im Vorfeld der Depeche Mode-„Singles“-Tour bat der Fragesteller Dave Gahan darum, sich in ein bis zwei Sätzen zu jedem Depeche Mode-Album zu äußern. Der aber winkte nur leicht genervt ab. „Das kann ich nicht, da musst du Martin fragen.“ Was drei Jahre später in Hamburg geschehen ist. Gores erste Reaktion auf denselben Wunsch: „Das ist schwierig“ aber nicht, weil er sich nicht in der Lage dazu gefühlt hätte, sondern weil es schwierig für ihn war, „das in ein, zwei Sätzen zu machen. Aber ich versuch’s mal“.

Oder die Art, wie die beiden auf die Soloalben des jeweils anderen reagiert haben. Gahan hatte Gore ein Vorab-Exemplar seiner Platte geschickt. Reaktion: keine. Und umgekehrt? Bei einem Telefonat mit Gore fragte Gahan: „Wo bleibt mein Album?“ Gore: „Ich habe meinen Manager gebeten, dir eins zu schicken“ Gahan: „Was soll das heißen, du hast deinen Manager darum gebeten? Krieg deinen Arsch hoch, nimm eine CD, steck sie in einen Umschlag und schick ihn mir zu, du arroganter Arsch!“

Ist es Zufall, dass Paper Monsters und Martins Soloalbum fast zeitgleich erscheinen? „Das hat sich einfach so ergeben. Ich habe am Anfang nicht einmal gewusst, dass Martin an einem Album arbeitet. Ich wusste zwar, dass er an einer Counterfeit-Sache dran ist, aber ich habe gedacht, es würde wieder so was werden wie damals, eine EP oder so was. Bei einem Telefongespräch sagte er zu mir: ,Ich weiß gar nicht, warum ich eigentlich im Studio bin, halt einfach, damit ich was zu tun habe.‘ Diese Einstellung funktioniert bei mir nicht. Ich würde nie etwas machen, nur um beschäftigt zu sein sondern weil ich es machen muss. Der kreative Prozess bei Depeche Mode stimuliert mich nicht mehr. Ich mag die Tourneen, ich liebe es – wie du vorhin gesagt hast-, den Entertainer zu spielen, auf der Bühne zu stehen. Deshalb habe ich auch die neuen Songs mit dem Gedanken im Hinterkopf geschrieben, sie auf die Bühne zu bringen. Wenn ich mir nicht vorstellen kann, wie ein Song live wirkt, funktioniert er auch nicht. Bei den Aufnahmen hatte Knox Chandler schon an verschiedenen Sachen gearbeitet, einer Bassline, programmierten Drums, einem Gitarrenpart oder so was. Aber ich konntedazu einfach keineTexte schreiben. Weil es bereits. .. ‚fertig‘ ist nicht ganz das richtige Wort – aber eine Spur zu fertig war, weil die Melodie und der Text nicht von mir waren. Ich habe versucht, etwas dazu zu schreiben, aber es war sehr schwierig. Deshalb haben wir uns auf einen anderen Arbeitsprozess geeinigt. Er spielte ein paar Akkorde, und die Akkordwechsel haben mich dazu inspiriert zu singen, manchmal war das nicht einmal ein Wort, sondern nur eine Note. Darum habe ich auch Ken Thomas als Produzenten gewählt. Er ist ein Oldschool-Producer. Er sitzt nicht mit einem Programmierer herum und wartet darauf, bis die Bassline fertig ist, und dreht dann ein bisschen an den Knöpfen, bis es gut klingt. Martin muss im Gegensatz dazu bei einer Platte immer ein übergeordnetes Thema haben. Mein Thema ist: Fühlst du dich gut, wenn du die Musik hörst?

Bewegst du deinen Arsch oder wippst du mit dem Fuß dazu, gibt dir die Musik ein gutes Gefühl? Wir sind nicht mit der Einstellung ins Studio gegangen: Okay, hier ist das Demo, hier das Arrangement, hier der Text. Das ist der Hauptunterschied zu Depeche Mode.“

Jetzt vertauscht der Künstler kurzzeitig die Rollen und will dann doch irgendwie vom Fragesteller wissen, wie dem Fragesteller das Album des Künstlers so gefällt. „Um ehrlich zu sein „, sagt der Fragesteller jetzt als Antwortgeber, „als ich erfahren habe, dass du ein Soloalbum machst, warich erst sehr skeptisch, weil du eben kein Musiker bist. Und als ich es dann angehört hatte, war ich ziemlich überrascht. „Der Künstler grinst über das ganze Gesicht. Fast so wie „Superstar“ Juliette, es fehlt nur noch diese indische Verbeugung mit den gefalteten Händen. „Danke, danke“, sagt der Künstler, „das bedeutet mir sehr viel. Ich wusste immer, dass es da war. Ich hatte nur Angst, es auszuprobieren. Auch wegen der Texte. Ich habe immer Martins Fähigkeit bewundert, bestimmte Situationen mit seiner ganz eigenen Sichtweise auszudrücken. Wir haben alle Gefühle. Es ist nur verdammt schwer, sie zu Papier zu bringen. Oft weiß ich gar nicht, was ich mit meinen Texten ausdrücken will. Es geht mir um Gefühle, nicht darum zu sagen, dass der eine Song hier von handelt, der andere davon,“

Paper Monsters ist also deine Emanzipation von Martin ? „Ich weiß nicht genau, (denkt lange nach) Manchmal bin ich sehr wütend auf Martin. Es ärgert mich, dass er nicht mit mir redet. Auf der anderen Seite habe ich ihm das auch nie gesagt. Mittlerweile herrscht eine fast schon künstliche Atmosphäre, wenn wir zusammen im Studio sind. Wir kennen uns sehr lange und versuchen deshalb, es mit dem anderen nicht zu weit zu treiben, keine Gefühle zu verletzen oder Fragen zu stellen, deren Antwort wir schon im Voraus kennen. Ich würde zum Beispiel niemals sagen: ,Hey Martin, diesen Songteil, denn könnten wir doch so und so machen.‘ Ich sage das nicht, weil ich genau weiß, dass er antworten würde: ,Hmm, ich weiß nicht‘ Das ist seine Antwort auf die meisten Fragen. Es ist echt frustrierend. Und nach einer Weile hörst du auf, Fragen zu stellen. Es ist eine Schande, aber so ist es nun mal. Ich habe aber die Hoffnung, dass sich das ändern wird. Ich bin sehr gereift in den vergangenen fünf Jahren. Ich hoffe, dass Martin das akzeptieren kann, ich hoffe, dass er keine Angst hat, die Kontrolle zu verlieren, nur weil ich mich in eine andere Richtung entwickle. Veränderung kann eine gute Sache sein.“ Willst du kein Rockstar mehr sein ? „Doch, ich liebe es! (lacht) Es ist ein wunderbarer Beruf. Während der Songs Of Love And Devotion Tour war es allerdings kein Spaß. Es war schmerzhaft. Das muss aber nicht sein. Musik gibt mir Hoffnung. Ich will das jetzt mehr zum Ausdruck bringen und eine Seite von mir zeigen, die mehr als nur Image ist: der Mensch hinter der Maske. Es macht zwar Spaß, mit dem Image zu spielen, aber ich bin Vater und Ehemann, ich lebe ein normales Leben. Ich lieb ees, mit meinen Kindern ins Kino zu gehen, Pizza zu essen, American Idol’zu sehen (die amerikanische Variante von „Deutschland sucht den Superstar“, Anm. d. Red.) und all diese ganz normalen Dinge – auch wenn ich es hasse, das jetzt zuzugeben. Ich führe ein sehr sehr glückliches Leben. Und das soll sich nicht ändern. Ich habe mich immer wie ein Hochstapler gefühlt, ich habe geglaubt, keine Anerkennung zu bekommen. Wenn ich das jetzt sage, hört es sich nach Selbstmitleid an, das stimmt aber nicht. Ich will nicht bemitleidet werden, ich will nur, dass man mich beachtet. In der Hauptsache möchte ich von Martin beachtet werden. In den letzten paar Jahren hat er sich mir gegenüber viel höflicher verhalten als jemals zuvor. Als wir mit den Aufnahmen für Exiter fertig waren, hater mich umarmt. Das war sehr schwer für ihn, weil er damit zugegeben hat, dass ich auch etwas eingebracht hatte. Aber ich kann das verstehen. Manchmal meinen wir, wenn wir jemandem etwas geben, wird uns gleichzeitig etwas weggenommen, statt zu denken, dass wir dabei selber etwas erhalten.“

P.S.: Wir wollten Martin Gore die Möglichkeit geben, sich zu Dave Gahans Bemerkungen über das Arbeitsklima bei Depeche Mode zu äußern. Ein bereits vereinbartes Telefongespräch mit Gore, der zu dieser Zeit in Santa Barbara, Kalifornien, mit den Proben für seine Solotournee beschäftigt war, wurde eine halbe Stunde vor dem Termin abgesagt. Nach Auskunft seines Labels wollte Gore sich während der Vorbereitungen zu seiner ersten Tournee als Solist nicht durch ein Interview ablenken lassen. Ein vage ins Auge gefasster Ersatztermin (fünf Tage nach dem ursprünglichen) wurde schließlich abgesagt. Wegen Grippe. Zwei Tage später gab Martin Gore in Köln das erste seiner beiden Deutschland-Konzerte. www.davegahan.com