Die heißesten Newcomer 2015: Benjamin Clementine, Tobias Jesso Jr. und George The Poet – Männer am Klavier


Reflexionen an den Tasten, existenziell und morbid – das neue Jahr bringt einige außergewöhnliche Pianotalente hervor. Herausragend dabei: Benjamin Clementine und Tobias Jesso Jr.

Eine krachende E-Gitarre ist wie eine Superheldenmaske. Sie verleiht Stärke, man fühlt sich unschlagbar. Das ist super, das ist Rock’n’Roll. Aber manchmal auch langweilig. Ein Klavier ist anders. Der Pianist sitzt beim Spielen, der Körper kann nicht weg. Dafür geht der Geist auf Reisen, man kann das spüren, wenn man sieht, wie die Musiker den Kopf hin und her bewegen. Es gibt kein besseres Instrument, um sein Inneres nach außen zu stellen.

2015 wird das Jahr einiger außergewöhnlicher Klaviertalente werden. Das Zeug zum Star hat Benjamin Clementine (26), ein Brite, der viel Zeit in Frankreich verbringt. Dort hat er gelernt, dass die Franzosen den Männern am Klavier sehr genau zuhören. Das Chanson-Publikum ist anspruchsvoll. Es will mehr als nur gute Unterhaltung, es will Drama und Existenzialismus. Und Clementine gibt ihnen das. Er trägt Schwarz, eine Turmfrisur und keine Schuhe, hat sich das Klavierspiel beim Hören von Erik Satie selbst beigebracht. Seine Stimme ist dunkel, und wenn sie stolz nach oben geht, liegt der Geist von Edith Piaf in der Luft. In seinen Liedern vermischt er Klassik mit Chanson, Soul mit Jazz. Seine Texte funktionieren auch als Poesie, so wie die Lyrik des Spoken-Word-Künstlers George The Poet, einem weiteren englischen Talent, das man 2015 beachten sollte. Aber Clementine bleibt immer auch Pop, weil dieser Kerl weiß, wie eine Hookline funktioniert – und sei sie noch so ungewöhnlich. Seinem Stück „Condolence“, dem zentralen Song der EP GLORIOUS YOU, schenkte er elektronische Beats, jedoch ist Benjamin Clementine kein neuer James Blake. Er begibt sich eher auf die Spur der göttlichen Nina Simone. Für ihn und seine Hörer ist das ein Abenteuer. Sein erstes Album AT LEAST FOR NOW ist für das Frühjahr angekündigt.

Während Clementine ganz selbstverständlich zum Piano kam, musste sich das Ins­trument die Gunst von Tobias Jesso Jr. erst erarbeiten. Der Kanadier lernte Gitarre, um den Mädchen zu imponieren. Er spielte in einer Indierockband, die auf The Killers machte, und nahm mit Bob Rock auf, dem Metallica-Produzenten, der seinem Nachnamen gerecht wird. Dann lernte er in Kalifornien JR White kennen, den früheren Partner von Christopher Owens bei den Indierock-Lieb-lingen Girls. Mit ihm erfand sich Jesso Jr. neu: Er wechselte ans Klavier und schreibt nun Lieder in der Tradition von Randy New­man und Harry Nilsson. Bereits erschienen ist „Hollywood“, ein bittersüßer Abgesang auf den Ort, der längst mehr mit Tod als mit Träumen zu tun hat.

„I think I’m gonna die in Hollywood“, singt Jesso zum verhallten Klavier, dann schwellen Friedhofsbläser an. Wer „Bored In The USA“ von Folk-Superstar in spe Father John Misty liebt, liegt hier richtig. Sein Debütalbum GOON erscheint im März.

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Gar nicht wie: Paul Kuhns Atem

Dieser und alle weiteren Artikel über die Newcomer dieses Jahres sind in der Februar-Ausgabe des Musikexpress erschienen.