Einspruch- abgelehnt


Als 2002 die großen Rap- Metal-Acts wie Papa Roach und Korn ihren Abstieg vom Olymp begannen, spielten Linkin Park ihr nächstes Mega-Album ein. Auf der Suche nach dem Geheimnis der größten Band ihrer Generation trifft ME auf sechs junge Männer, die über Musik sprechen wie Anwälte.

Hatte Gitarrist Brad Delson nicht auf der Bühne seinen monströsen Kopfhörer getragen, dann hätte auch er die Stimme gehört. Sie kam bei einem Auftritt vor zwei Jahren in Pittsburgh aus der ersten Reihe und hob sich in den akustischen Pausen deutlich von der Menge ab. „Ich will deine Seele vergewaltigen!“ – wieder und wieder. Und als Sänger ehester wie immer nach dem Konzert auf dem Weg zum Tourbus Autogramme schrieb, war sie plötzlich ganz nah: „Ich werde dich auf Schritt und Tritt verfolgen. Wenn du auf dem Höhepunkt deiner Karriere angekommen bist, werde ich dich umbringen!“ Die Stimme gehörte einem 13-Jährigen. Er war Linkin Parks einziger Feind und hat sich lange nicht mehr gemeldet. Möglich, dass er von dem Vertrag gehört hat: Allabendlich, steht darin rechtsbindend geschrieben, müssen Linkin Park frische Socken in die Tourgarderobe geliefert werden. „Keine Kniestrümpfe – ganz normale Socken“, stellt Bassist David „Phoenix“ Farrell klar. „Das ist sehr praktisch. Die stehen immer noch auf der Liste“.

Egal wie psychopathisch die Veranlagung – man kann diese Band nicht lange hassen. Wohl kann man die jungen Männer langweilig finden – doch auch damit wird man ihnen nicht gerecht. Das südkalifornische Sextett hat sich in nur zwei Jahren eine Position als Rockband erspielt, die ihr – was die Zahlen angeht – einen Platz in der Liga der Red Hot Chili Peppers garantiert: Vor Reanimation, dem erfolgreichsten Remix-Album aller Zeiten, veröffentlichten Linkin Park die weltweit über zwölf Millionen Mal bezahlte Habrid-Theory-LP, die selbst die Erfolge von Californication in den Schatten stellt. Das Debüt mit zwölf Adrenalin-gefluteten Alternative Metal/HipHop-Songs war 2001 vor N*Sync und Britney Spears das bestverkaufte und eines der meistkopierten Alben in den USA, hielt sich beständig in den oberen Rängen auch der deutschen Charts und gewann mit dem Song „Crawling“ einen Grammy für die beste Hard Rock-Performance. Höchste Zeit, kurz vor der Veröffentlichung des offiziellen Nachfolgers Meteora die Band in ihrer Heimat zu besuchen, um das Personal zu durchleuchten, das dieses Unternehmen zu einem derart unschlagbaren Team gemacht hat.

Als eine heftige Detonation die warme, abgasgelbe Luft in Downtown Los Angeles erzittern lässt, verzieht keiner der zahlreichen Bodyguards eine Miene. In schwarzen Anzügen haben sich die kurzhaarigen bulligen Herren auf dem zur Bar umgebauten Hoteldach verteilt, um Linkin Park bei einem nachmittäglichen Fotoshooting zu bewachen. Während die Filme gewechselt werden, lehnen sich Phoenix und ehester Bennington über die Brüstung, um einen besseren Blick auf das Set von „Swat“ zu haben. Für den Actionfilm mit Samuel L. Jackson und LL Cool J heben zwei Kräne zum wiederholten Mal ein brennendes Helikopter-Wrack an, um es vor laufenden Kameras nach freiem Fall in der Häuserschlucht explodieren zu lassen. „Die letzte Security- Firma war wohl nicht gerüstet, die anspruchsvolleren Probleme in den Griff zu bekommen“, erklärt Chris, ein am Hals tätowierter Gorilla, ohne die Augen von der Band zu lassen. Sein Unternehmen wurde im Mai 2002, kurz vor dem Erscheinen von Reanimation, engagiert. Da sich die braven Musiker selten in Gefahr bringen, gehört zu seinen Aufgaben vor allem, „das Album zu beschützen“. Nach dem Dachausflug muss er zurück in den 9. Stock, um Journalisten auf dem Weg zur Listening Session von Meteora abzufangen und sie nach versteckten Aufnahmegeräten zu durchsuchen. Die Zeiten sind vorbei, als Linkin Park absichtlich MP3-Files ihrer Songs so lange im World Wide Web streuten, bis sich knapp 1000 Kids in einem Fanclub organisierten, um die Band erfolgreich auf der Suche nach einem Plattenvertrag zu unterstützen. Chris wurde nicht darüber informiert, dass das Internet – wie die Band früher gern betonte – Linkin Park großgemacht hat. „Das Netz hat zwei oder drei Platten komplett ruiniert“, weiß er dagegen zu berichten, während er an dem durchsichtigen Spiralkabel nestelt, das aus seinem Ohr kommt und im Kragen verschwindet. Er muss die Position wechseln, denn die Rap-Metal-Band, die nach dem Debüt nun auch das zweite Studioalbum ohne ein einziges Schimpfwort aufgenommen hat, wird aus seinem Blickfeld zum Pool geführt.

Zwei Stunden Spater, kurz nachdem ME unter ständiger Aufsicht in den Genuss kam, das neue und wieder enorm druckvolle Album zu hören, bestellt Mike Shinoda in seiner Suite Essen für sich und die Jungs. Mit Phoenix und Joe Hahn einigt er sich auf ein leichtes japanisches Dinner ohne Dessert. „Wir haben die LP Meteora genannt, weil es ein echt cooles Wort ist“, sagt der Co-Produzent des Albums strahlend. „Wie sich das anfühlt – die Energie!“ Als er enthusiastisch erzählt, wie inspiriert sich die Mitglieder von Linkin Park bei Betrachtung der griechischen „Meteora“-Felsklöster in der Reisebroschüre ihres Tourbusfahrers fühlten, verlieren wir in Joe Hahn den ersten Gesprächspartner. Der koreanisch-amerikanische DJ und Videoproduzent bittet um einen Musikexpress. „Als wir diese Fotos gesehen haben – die Mystik von diesem heiligen Ort …“ fährt Shinoda fort, während Hahn blätternd im Sessel versinkt. „Obwohl unsere Platte nicht wirklich was damit zu tun hat, hoffen wir, dass sie dieselbe Kraft hat.“ Hahn beginnt leise zu singen. Was für ein Auftakt. Ein Interview mit Linkin Park ist bisweilen so spannend wie eine Haushaltsdebatte in einem unterfränkischen Gemeinderat. So interessiert Shinoda und Phoenix am Gespräch teilnehmen, so allgemein gültig und austauschbar sind oft ihre Statements. Kritische Fragen werden nicht beantwortet, sondern mit einem schmeichlerischen „Oh – du hast deine Hausaufgaben gemacht“ kommentiert, bevor sie entweder freundlich ignoriert oder von der omnipräsenten Aufpasserin der Plattenfirma mit Hinweis auf die knappe Zeit gestrichen werden. Auch wenn alle Beteiligten mit dieser Politik weit über ihr Ziel hinausschießen – Linkin Park verdanken ihren Status vor allem der strengen Disziplin, dem diplomatischen Geschick und der unbedingten Professionalität, die alle sechs jungen Mitglieder von Anfang an verinnerlicht hatten.

Der japanisch-amerikanische Rapper

Mike Shinoda (26) lernte Joe Hahn (26) am Art Center College in Pasadena kennen, wo die beiden ganztägig Design-Kurse besuchten, bevor ab 1996 fast jeden Abend mit der Band Xero geprobt wurde. Phoenix (26) studierte Philosophie, Schlagzeuger Rob Bourdon (24) finanzierte seine Kurse im Rechnungswesen mit Jobs in einer Bowling-Bahn. Brad Delson (25) studierte Kommunikation an der Universität L.A. und knüpfte erste Kontakte zum Musikbusiness: Als Praktikant bei Zomba Music organisierte er auf Geheiß seines Chefs Jeff Blue Konzerte für Macy Gray. Nach dem Ausscheiden des Vokalisten Mark Wakefield bat schließlich selbiger Jeff Blue ehester Bennington am 20. März 1999 – zufällig an dessen 23. Geburtstag -, von Phoenix, Arizona, nach L.A. zu kommen, um sich als Sänger vorzustellen, ehester war nur zu bereit, mit seiner Frau Samantha nach Kalifornien aufzubrechen, um mit einem Ortswechsel endgültig eine Kindheit hinter sich zu lassen, die alles andere als glücklich war. Nachdem sich seine Eltern getrennt hatten, als er vier Jahre alt war, lebte er mit dem vom Polizeidienst überarbeiteten Vater in Phoenix. In mehr als einem Interview erzählte er, über einen Zeitraum von fünf Jahren Opfer von außerfamiliärem sexuellen Missbrauch geworden zu sein, dessen Folgen ihn als Teenager in die Drogensucht trieben. „Ich hatte mehr Selbstbewusstsein, wenn ich high war“, erinnerte sich der ernste Sänger im Frühling 2002. „Ich hatte das Gefühl, meine Umwelt besser unter Kontrolle zuhaben, wenn ich Halluzinogene oder Alkohol in mir hatte.“

Bennington trat im Sommer 1999 der Band bei, die sich inzwischen Hybrid Theory nannte.

Insgesamt 42-mal spielte das Sextett Konzerte für geladene Gäste von verschiedensten Plattenfirmen, die oft nach dem dritten Song das Weite suchten. Plagten ein Bandmitglied Zweifel, motivierten es die anderen. So sollte zum Beispiel nach einer frustrierenden Probe 1999 jeder nach Hause gehen, um fünf Ziele aufzuschreiben, die er mit der Band erreichen wollte. „Das war mit Sicherheit Brads Idee „, sagt Mike Shinoda lachend, der damals auf Platz 1 seiner Liste zur Belustigung seiner Kollegen mit großen Buchstaben „Grammy“ geschrieben hatte. „Alles, was nach Business-Meeting klingt, kommt von Brad. Er wollte mal Jura studieren. Aber die ganze Band ist so. Wir sind extremfokussiert.“ Phoenix nickt: „Wenn nur einer von uns nicht gewillt wäre, so hart zu arbeiten, wäre das nicht zu tolerieren. Jeder hat sein Talent und muss das auch einbringen. „Mit einer wachsenden, über das Internet vereinten Fanschaar gelang es Hybrid Theory nach endlosen Anläufen, mit Warner Music ein Major-Label für sich zu überzeugen, das zuvor bereits dankend abgelehnt hatte. Ein letztes Mal musste der Name geändert werden: „Es gab einen Lincoln Park in Santa Monica, an dem ich jeden Morgen vorbeigefahren bin“, sagt ehester. „Ich fand, dass das ein guter Name für eine Band sei.“ Die Grünanlage wurde inzwischen zu Ehren der Bürgermeisterin und Aktivistin in Christine Emerson Reed Park umbenannt. Als „Linkin Park“ begannen die Jungs mit dem Produzenten Don Gilmore mit den Aufnahmen für ihr Debüt-Album. „Wir hatten es verdient“, so ehester. „Uns wurde nichts geschenkt. Alles, was du siehst, kommt von uns. Jede Note haben wir geschrieben, geübt und eingespielt. Jedes Artwork haben wir designt. Als uns Leute erklärt haben, dass es keinen interessieren wird, haben wir ihnen gesagt, dass sie verdammt nochmal irren. Unsere harte Arbeit hat sich ausgezahlt.“

Trotz allen Erfolges hat sich bis heute nichts an dieser Disziplin geändert. Auf Tour reiste die Band 2001 mit zwei Bussen, von denen einer zum Studio ausgebaut war. Im anderen, der ausschließlich für Bandmitglieder reserviert war, herrschte strenges Alkoholverbot. Als Chesters Frau Samantha zu Gast war, musste das Paar auf den Studiobus ausweichen. Die Jungs bürdeten sich mit 324 Konzerten in nur einem Jahr eine unglaubliche Last auf, die heute – wie so vieles wegdiskutiert wird.

„Touren ist anstrengend, aber wir sind eine stabile Einheit“, sagt Shinoda. „Unsere Gewohnheiten sind so vorhersehbar. Wir lieben es, Musik zu machen. Punkt. Nach dem Konzert findet man uns normalerweise im Bus beim Videospielen.“ Immer seltener allerdings, und davon erzählt der Rapper nichts, fand man im Herbst 2001 ehester vor der Konsole. Obwohl seine Frau wieder in Kalifornien war, zog sich der stille Sänger zwischen den Shows immer häufiger in die Einsamkeit des Studiobusses zurück, um dort zu trinken. „Ich hab auch zu anderen Sachen nicht mehr nein gesagt“, gab er in einem offenen Augenblick zu. Es mag damit zu tun gehabt haben, dass Samantha damals schwanger wurde – seit Januar 2002 ist ehester jedenfalls clean. Bei den Aufnahmen zu Meteora hat er wieder eine wichtige Rolle gespielt. Während Shinoda am Computer die Gitarrenriffs und Drumtakes solange zerstückelte und neu zusammensetzte, dass Delson und Bourdon ihre eigenen Parts am Ende neu lernen mussten, hauchte ehester den oft akribisch berechneten Songkörpern mit seinem emotionalen Gesang die Seele ein. Nicht immer war das einfach: Die Vocals für die Single „Somewhere I Belong“ wurden über 40-mal umgeschrieben und neu aufgenommen. Aufgrund seiner schwierigen Vergangenheit ist ehester der komplizierteste Charakter in der Band. „Ich will nicht jedem erzählen, um was es in den Songs geht. Was für den einen dunkel und pessimistisch klingt, kann für einen anderen die Türe zum Optimismus sein“ sagt er. Dass er fähig ist, sich im Studio emotional zu öffnen, ist auch das Verdienst von Produzent Don Gilmore. „Ich glaube, dass wir inzwischen ein Vertrauensverhältnis aufgebaut haben“, sagt Gilmore in einem exklusiven Interview mit dem ME. „Ich kann ihm (nach einer mittelmäßigen Leistung) sagen, dass er mehr drauf hat. Genauso kann er mir sagen, dass ich mich verpissen soll. „Zu Wortgefechten zwischen den Mitgliedern, die sich in Pausen „im Studio verstecken und sich gegenseitig erschrecken“, wie Gilmore berichtet, kommt es allerdings selten. „Als Produzent sind die Egos mein größter Feind. Diese Jungs haben den Intellekt, die ihren vor dem Studio abzulegen, damit wir daran arbeiten können, den Song zu verbessern.“

Das Abendessen trifft ein, und Joe Hahn erwacht wieder zum Leben. Während Phoenix für eine Pointe überlegt, welche Farben die Pillen aus dem Film „The Matrix“ hatten, schaltet er sich wieder zu. „Vielleicht ist das alles nur Illusion „, sagt Hahn und macht ausladende Schwimmbewegungen. Als er die Miso-Suppen verteilt, bleibt eine übrig, ehester ist, gefolgt von seinem Bodyguard, durch eine Stahltüre im neonbeleuchteten Treppenhaus verschwunden und noch einmal aufs Dach gestiegen. Er wippt von den Fersen auf die Zehenspitzen und betrachtet lange ausdruckslos die nächtliche Skyline, deren Türme an den Spitzen in Wolken gehüllt sind. „Wurdest du emotional tief verletzt, wird der Schmerz nie wirklich aufhören“, gab er im Frühling zu Protokoll. „Die Narben verheilen nicht. Manche davon nässen noch immer.“ »>www.linkinpark.com