Entdeckung der Langsamkeit


Eilig hatten es The National noch nie: weder mit ihren Alben, noch mit ihrer Karriere. Doch dank ihres fünften Albums, HIGH VIOLET, wird sich Sänger Matt Berninger an eine neue Geschwindigkeit gewöhnen müssen.

Warum wurde The National von Kritikern geliebt, aber vom Publikum weitestgehend übersehen? Ganz einfach: Sie hatten nie einen Hit. Zum Erscheinen ihres fünften Albums HIGH VIOLET führt jedoch kein Weg mehr an dieser Band aus Brooklyn vorbei. Denn The National dürften nun endlich die langersehnten Hits produziert haben: „Bloodbuzz Ohio“ und „Anyone’s Ghost„.

Ein weiterer Grund, warum die Band mehr Beachtung finden sollte: Bei The National spielen gleich zwei Brüderpaare, die Dessners und die Devendorfs. Und das besondere ist, es herrscht große Harmonie – was ja für musizierende Familien nicht unbedingt üblich ist. Nun ist es an der Zeit, auch den vergangenen Alben die entsprechende Aufmerksamkeit zu schenken. Zum Beispiel dem 2007er Album BOXER oder dem noch viel tolleren ALLIGATOR (2005).

Aber vor allem ist es das Motiv, das die 1999 gegründeten Band im innersten zusammenhält, etwas, das in der Welt von heute mehr und mehr an Wert verliert: Ausdauer und Geduld.

Elf Jahre, vier Alben und Hunderte von Auftritten liegen hinter Matt Berninger, als er an einem lauen Frühlingstag in einem Restaurant in Hamburg zum Gespräch bittet.Er ist hochgewachsen, hat wache Augen, trägt eine schwarze Lederjacke, die nicht danach aussieht, als müsste er sich irgendetwas beweisen.

The National sind die Langstreckenläufer im Musikgeschäft. Seit Jahren trainieren sie schon für den großen Augenblick. Für ihren Druchbruch. Und ihre Musik ist das Produkt ihrer Ausdauer, Durchhalteparolen.

Sie könnten gar nicht anders, sagt Berninger: „Wenn wir ein Album aufnehmen, läuft es immer so: Scheitern, scheitern, scheitern. Dann gelingt uns etwas, es folgen zehn weitere Misserfolge und dann klappt wieder ein bisschen was. Wir wissen aber, dass irgendwo in all‘ dem ein paar gute Ideen zu finden sind. Wir sind geduldig, wir warten. Du kannst nie wissen, wann du die besondere Stelle findest, die den Unterschied macht zwischen einem wirklich guten Song und einem wahrhaft wunderbaren Song.“ Dennoch beneidet Berninger andere Bands, die Alben in kurzer Zeit zustande bringen. Wie die Pixies, die für ihre ersten drei Alben weniger als zwei Jahren benötigten. „Diese Platten sind so verdammt aufregend, wahnsinnig und großartig. Ich habe Frank Black gefragt: Wie habt ihr das bloß hinbekommen?'“Die Antwort war ganz nach Berningers Geschmack. Die Songs hätten in ihm gesteckt, seit er 14 Jahre alt war, antwortete Black. Er habe sie einfach nur noch aus sich rausfließen lassen müssen. „Nach DOOLITTLE hatte er alle Songs geschrieben, die er seit der Highschool mit sich herumgetragen hat“, sagt Berninger, „ab da ging’s von vorne los. Wir fangen bei jedem Album von vorne an.“ Berninger schreckt nicht davor zurück, Begrifflichkeiten, wie harte Arbeit, zu benutzen. Wie verbissen die Band an den Songs herum feilt, sie „bis zum Erbrechen“ (Berninger) wiederholt, hat der französische Filmmacher Vincent Moon in seiner Dokumentation „A Skin, A Night“ bei den Aufnahmen zu BOXER festgehalten.

Gut ist eben nicht gut genug. Das heißt: Songs wieder und wieder hören. Rudimentäre Songskizzen ergänzen. Befreundete Musiker einladen. Sufjan Stevens etwa, der schon bei BOXER mitmachte. Justin Vernon von Bon Iver, Richard Reed Parry von Arcade Fire. Sie alles Mögliche einspielen lassen. Dann 95 Prozent davon wegschmeißen. Die Songs noch mal anhören. Das, was dazu getan wurde, wieder wegnehmen. Sich streiten. „Es gibt einen Unterschied zwischen einem guten Album und einem großartigen Album“, sagt Berninger. Und das der nur schwer zu erklären sei. Letztlich werde es die Zeit zeigen. Bei HIGH VIOLET habe ihn besonders „Lemonworld“ beinahe um den Verstand gebracht, erzählt Berninger. „Anfangs hatte der Song einen ganz besonderen Charme, aber je besser wir die Drums klingen ließen, je perfekter die Gitarren und je sauberer den Gesang, um so mehr ruinierten wir ihn. Er verlor seine Persönlichkeit. Wir gingen letztlich zurück zu den schlecht klingenden Drums, den schlecht klingenden Gitarren und dem dahingenuschelten Gesang, um wieder an die ursprüngliche Magie des Songs heranzukommen. Auf dem Album befindet sich die 116. Version.“ Perfektionisten seien sie aber nicht, sagt Berninger und lacht.

Schon auf ihrem 1999er-Debüt THE NATIONAL suchten sie den perfekten Song, betitelten einen vermeintlichen sogar danach: Berninger singt darin über eine verflossene Liebe und ein Unbehagen auslösendes Wiedersehen: „Wanted me to take you home / You said you’d rather be alone / I never thought of that / Car is warm and we had wine / But I couldn’t find the perfect song.“

Vier Zeilen, die auf den Punkt bringe, worum es dem Texter Berninger geht. „Menschen schreiben über Dinge, die sie nicht beantworten können“, sagt er. Seine Fragen kreisen immer wieder um die gleichen Themen: Liebe, Angst, die Suche nach dem Sinn. Und immer wieder bildet ein hässliches, unbarmherziges New York den Hintergrund dafür. Denn hier leben alle Bandmitglieder, seitdem sie vor Jahren aus Cincinnati/Ohio fortzogen. In den „Manhattan valleys of the dead“, in dem Leben und Sterben im Dauerregen nichts bedeuten. Matt Berninger schreibt die Texte erst, wenn die Musik von Aaron Dessner da ist. Der schreiberische Prozess kann schon mal Monate dauern. Er spielt kein Instrument, ist nur Sänger, ähnlich wie Bono. U2s THE JOSHUA TREE hält Berninger für eines der wenigen wirklich großartigen Alben der Musikgeschichte. Berninger mag die Band auch heute noch. Selbst das, was viele an U2 verbascheuen: das Monströse. Live hingegen ist Bernigner der Anti-Bono. Seine Performance: introvertiert bis zur Selbstvergessenheit. „Wir haben jahrelang vor drei bis fünf Zuschauern gespielt, von denen dann zwei irgendwann gegangen sind.“ Das Bühnenverhalten von The National habe sich kaum geändert. „Wir haben vor drei Leuten auch so getan, als wären es 1.000.“

Angst vor großem Publikum hat Berninger aber aus einem anderen, eher banalen Grund nicht: „So groß wie U2 werden wir ohnehin nicht.“ Da mag er Recht haben.

Albumkritik S. 98

www.americanmary.com

Bandinfo

1999 gründen Aaron und Bryce Dessner sowie Scott und Bryan Devenhof gemeinsam mit Matt Berninger The National. Die Alben THE NATIONAL (2001) und SAD SONGS FOR DIRTY LOVERS (2003) wecken das Interesse der Kritiker. Mit ALLIGATOR (2005) und Boxer (2007) tauchen sie erstmalig in verschiedenen Magazincharts auf. Am 7.Mai 2010 erschien ihr neues Album HIGH VIOLET.