Genauso wie anders: Bericht aus einer Disco für Behinderte


„Falsche Schuhe!“, „Falsches Gesicht!“, „Du kommst hier nicht rein!“ In einer Disco für Behinderte hört man solche Sprüche nicht, hier wird nicht selektiert. Und das war’s dann auch fast schon mit den Unterschieden. Ein Bericht von ME-Redakteur Stephan Rehm mit Fotos von Markus Burke.

16 Uhr, der Bass setzt ein und dreißig Armpaare schwirren durch die Luft über dem Dancefloor. Dann der Refrain, eine hochgepitchte Stimme schwärmt vom „Endless summer, endless summer“. Wer kann, singt mit so laut er kann. Eine Szenerie wie bei einer Hipsterparty, auf der ein sonnenbebrillter DJ zu frühspäter Stunde vom Vortag hängen gebliebene Dauerdruffis mit Eurotrash bei Laune hält. Doch dieser Song, einer der größten Hits von Scooter, ist der erste, der heute läuft. Die wild feiernden Menschen haben den Club eben erst betreten, sind stocknüchtern. Und nur wenige von ihnen verausgaben sich, um den eigenen Marktwert auf dem Bazar der Alleinstehenden zu erhöhen. Der jugendzentrumsartige Club ist Teil des Münchner „Löhe Haus“, einer Einrichtung für die Zusammenführung von Menschen mit und ohne Behinderung. Der 14-jährige David ist einer der begeistertsten Partygänger hier. Seine Art der Behinderung ist nicht genau zu bestimmen. Als Kind konstatierte ihm ein Arzt einen niedrigen IQ. Man vermutet, David trage Züge von Autismus und des Down-Syndroms, einer zu geistiger Beeinträchtigung führenden Genonmutation, dessen Träger in der Regel stark auf Musik ansprechen. Aber wie für jeden Menschen gibt es auch für David keine Anleitung. Worauf allerdings Verlass ist: Ihm wird schnell langweilig. Selten kann er sich länger als zehn Minuten mit einer Sache beschäftigen. 

Wenige Stunden bevor er über den Tanzboden fegt, bereitet er sich in seinem Kinderzimmer auf den Abend vor. Er lernt den Text seines Lieblingssongs, dem „Fliegerlied“ der bayerischen Stimmungskombo Donikkl und die Weißwürschtl auswendig, übt die Griffe des Stücks auf seiner Gitarre, damit er später fehlerfrei seine Luftgitarre bearbeiten kann. „Fünf ‚Milky Way‘ ess’ ich heute“, verkündet er seinen Schlachtplan für die Nacht, danach sei Schluss, er wolle schließlich seine schlanke Figur behalten. Es geht ihm wie den meisten Pubertierenden: „Mädchen finde ich sehr gut“, sagt er grinsend, fügt Casanova-Vermutungen zuvorkommend aber sofort hinzu: „Meiner Freundin bin ich treu.“ Steffi heißt sie, seit zwei Jahren seien sie zusammen, sagt David. Für sie hat er sich heute in Schale geworfen: Mit Anzug und Krawatte, die nur die Mama binden darf („Bei allen anderen Knoten bekommt er irgendwann Angst, der Kopf könne ihm vom Hals fallen“, sagt diese), lässt er sich von seiner Mutter in den Club chauffieren.

Seit 1987 feiern hier, im gutbürgerlichen Stadtteil Neuhausen-Nymphenburg, Behinderte mit ihren Betreuern, mit Zivis, mit FSJlerInnen. „Und sogar mit Kids aus der Nachbarschaft, die für das Nachtleben noch zu jung sind“, ergänzt Jörg Schwinger, Diplom-Sozialpädagoge, der hier seit Jahren nach dem Rechten sieht. Ins Geschehen greift er nur selten ein. Die Behinderten kommen ganz gut selbst zurecht. Jeder weiß, was er zu tun hat: Willie bedient an der Bar, Alex und Barney legen auf, der Rest hat sich einfach nur zu amüsieren. Türsteher gibt es keine.

Im Club angekommen, muss David erst mal viele Hände schütteln: „Servus David!“, „David, Oida, heut’ wird wieder gerockt!“. Keine Zeit. Bevor ihm angekündigtes Gerocke die frisch gestylten Haare zerzaust, muss David sich seiner Steffi präsentieren. Doch wo ist sie? Bei den Tänzern jedenfalls nicht, also raus zu den Rauchern, auf den Balkon. Wieder keine Steffi. Dann sind zehn Minuten vergangen, Davids Aufmerkamskeitsspanne kommt an ihre Grenze. Er verliert die Lust am Suchen, lieber will er erzählen: von seiner Vergangenheit  mit Steffi – in der sechsten Klasse habe man sich kennengelernt, schnell saß man  nebeneinander – und von ihrer gemeinsamen Zukunft: „Morgen heiraten wir!“. Moment, steht für morgen nicht ein Sonntagsausflug mit seinem Betreuer nach Augsburg an? Doch, doch, danach sei aber immer noch genug Zeit für eine Hochzeit, versichert er. Ob das aber nicht etwas überstürzt sei, das mit dem Heiraten in so jungen Jahren? „Nein“, sagt David, er habe sich das alles genau überlegt: Um die Familienfinanzierung werde er sich kümmern –¬ als „Bürgermeister von München“; anschaffen habe er schon immer gut gekonnt. Einen profitablen Beruf hat er sich da ausgesucht, allerdings auch einen zeitraubenden. Für seine Familie – im Idealfall mit zwei Kindern, klassisch: ein Junge, ein Mädchen – will er aber da sein, von Anfang an: „Natürlich kümmere ich mich während der Schwangerschaft um meine Frau, bringe sie zum Arzt, zum Ultraschall“, sagt er. Dann sind seine zehn Minuten wieder rum.

David schnappt sich das Aufnahmegerät des ME-Reporters und geht damit selbst auf Interviewtour. Als erstes läuft ihm der leicht geistig behinderte Andy unters Mikro, der gerade seine Freundin Heike, eine über beide Ohren in ihn verliebte Down-Syndrom-Patientin, sucht: „Andy, was machst du morgen?“ –¬ „Mal schauen, wenn’s Wetter mitmacht, geh’ ich wahrscheinlich raus, chillen.“ –¬ „Und was machst du morgen?“ –¬  „Ey, du bist so ein Dussel! Da hast du mich doch grade schon gefragt! Ich chille, Mann!“ „M-hm, okay. Meine lieben Damen und Herren, als nächstes habe ich hier Christian Ude, Oberbürgermeister von München. Herr Ude, eine Frage: Was machen Sie beruflich?“ Da Herr Ude nicht anwesend ist, antwortet er nicht. Auch nicht auf die Fragen, ob er schon bei „Stars in der Manege“ gewesen sei, ob er eigentlich seine Schwester mag oder wo er gestern um 19.01 Uhr war. Doch in Davids Fantasie antworter er. Zufrieden mit dem Gespräch bedankt sich David bei Herrn Ude und setzt mit der Wettervorhersage fort: „15 bis 16 Grad plus“, soll es morgen zwar werden, allerdings sei mit Regen und sogar mit Schnee zu rechnen.

Die kleine Alex in ihrem Rollstuhl fährt vorbei. An der Tür zum Tanzsaal spielt einer Türsteher: „Ausweis! Ausweis!“, verlangt er. Alex zeigt ihm einen Gutschein für eine Leberkäsesemmel und darf passieren. In der Mitte des Dancefloors angekommen, klatscht sie zu dem unwahrscheinlichen, einen alten „Werner“-Gag recycelnden Song „Anna Nass“ der Atzen („Sie wackelt mit dem Arsch, sie hat riesengroße Möpse/ Also macht die Anna nass, dicke Spritzbeschaumkanone, Bubblegum heut’ oben ohne“) mit. Doch irgendwie findet sie nicht die gewünschte Beachtung. Sie richtet sich auf, steht für kurze Zeit wacklig auf ihren Füßen. Dann stürzt sie zu Boden. Ein Hochgewachsener mit Camouflage-Käppi eilt zur Hilfe, hebt Alex hoch, trägt sie auf Händen, wie eine Braut. Sie umklammert ihn fest, küsst ihn wild auf beide Wangen, links, rechts, links, rechts. Die meisten der umstehenden Tänzer lachen. „Der ist nur selten hier. Der kennt Alex’ Verführungstricks noch nicht“, sagt ein Stammgast. Jetzt durchkreuzt Frank die Szenerie. Frank geht in etwa so zackig und linear wie die marschierenden Hämmer aus Pink Floyds „The Wall“. „Host du a Auto?“ fragt er „Downie“ Carolina. „Nein“, sagt sie, weil sie sonst kaum etwas anderes sagen kann. „Dann kaafst dir oans“, empfiehlt Frank. „Nein“, sagt Carolina wieder. „Dann bist a bläda Hund“, urteilt Frank. Natürlich meint er das nicht so, er hat das irgendwo aufgeschnappt. Carolina nimmt’s ihm nicht übel, bietet ihm sogar spontan eine Rückenmassage an.

„Rah-rah, Ah-ah-ah! Roma, Roma-ma-ah! Ga-ga, Ooh-la-la!“, Lady Gaga schneidet durch DJ Barneys Eurodance-Set. Die Abwechslung tut gut. Am meisten den Betreuern. Eine von ihnen, Steffi, wirbelt zurück auf die Tanzfläche. Sofort ist sie Mittelpunkt des Geschehens, kann sich vor bereitwilligen Tanzpartnern kaum retten. Steffi? Genau, schon mal gelesen: Es ist Davids angebliche Freundin. Aber was heißt hier „angeblich“? Sie IST Davids Freundin, in Davids Welt. Schon bäumt er sich hinter ihr auf und stuppst einen Nebenbuhler bedrohlich an: „Das ist meine Freundin!“. David genießt hier große Beliebtheit, ständig erkundigt sich jemand nach ihm. Mit so einem Tony Manero will man sich nicht anlegen. Die Konkurrenz räumt das Feld, David hat seine Steffi wieder für sich.

Ein riesiger Schlaks betritt die Euphoriewolke – ¬mit Kopfhörern in den Ohren. „Ich komm’ hier immer zum Tanzen her“, sagt er, „aber die Musik, dieses Bumm-Bumm-Techno, das kann ich ja überhaupt nicht leiden. Deswegen bringe ich immer meine eigene Musik mit, jetzt habe ich grade ‚Remmidemmi‘ drin. Ist doch wurscht, ob’s zusammen passt, hier tanzt doch eh jeder so, wie er will“. Das bringt den Abend, das bringt den Club auf den Punkt. Hier ist so vieles wurscht: Coolnessrichtlinien, Klamotten, Musikgeschmack. Ob der Typ mit seinen Kopfhörern wohl auch eine Behinderung hat? Oder der neben ihm? Oder ist das ein Betreuer, der sich etwas auffällig benimmt? Aber eigentlich benimmt der sich doch gar nicht so auffällig. Wer ist schon auffällig? Wer ist schon nicht behindert? Alles relativ. Paul Stanley hat verkümmerte Ohren, Stevie Wonder sieht nichts und wir alle verehren Daniel Johnston. In den Neunzigern gab sich die Hamburger HipHop-Elite um Jan Delay und Samy Deluxe stolz den Namen „Mongo Clikke“, um den auf Schulhöfen abwertend verwendeten Begriff „Mongo“ in ein Synonym für gedankliche Freiheit zu verwandeln. Die Menge der sich in letzter Zeit zu ihrer bipolaren Störung bekennenden Popstars (Adam Ant, Russell Brand, Scott Weiland, …) ließ fast schon einen Marketingtrend vermuten.

Die Grenzen verschwimmen, nicht nur, aber auch im „Löhe Haus“: „Ya ya ya Coco Jamboo, ya ya yeah“. Irgendwann hört der Spaß auf? Nein, hier fängt er gerade erst an: Polonaise zur Strophe, pogoartige Ausschreitungen im Refrain. Der DJ fadet den Song aus, Kunstpause. Er hebt den Finger und lässt ihn auf den „Play“-Knopf fallen: „If it hadn’t been for Cotton Eye Joe/ I’d been married a long time ago“. Willkommen auf der 90s-Trashparty! Nur schüttelt hier keiner den gepiercten Kopf und freut sich dann doch klammheimlich. Hier muss sich die Freude nicht verstecken. Hier ist „Cotton Eye Joe“ ein großartiger Song. Hier hat David eine Freundin, die er morgen heiraten wird. Hier wird er Bürgermeister einer Millionenstadt. Warum auch nicht? Ein paar hundert Meter weiter, im „Atomic Café“, im „P1“, im „Pacha“ bauen sie sich doch Luftschlösser: werden Könige des Dancefloors, finden die Liebe ihres Lebens (Nein, echt! Diesmal wirklich!), können sich auch die nächste Lokalrunde noch leisten. Fantasien sind lebensnotwendig. Am Montag, wenn man vom König wieder zum Diener wurde, sind sie vorbei. Für David enden sie nie.

Weiterführende Links:
www.oba-muenchen.de
www.gll-muenchen.de