Geheimtipp & Interview

Straight outta Schlafzimmer: Wunderkind Gisli hat nach 15 Jahren ein neues Album veröffentlicht – und keiner hat’s gemerkt


Straight outta Schlafzimmer: Der isländische DIY-Songwriter Gisli wurde schon zu Zeiten seines Debüts HOW ABOUT THAT (2004) sträflich unterschätzt bis ignoriert. Jetzt ist sein drittes Album erschienen. Eine Ungerechtigkeit, dass er auch damit wieder kaum als das Talent wahrgenommen wird, das er ist. Wir haben nachgefragt, ob er das ähnlich sieht.

Es gehört zu den größeren Ungerechtigkeiten der jüngeren Popgeschichte, dass Gisli nicht zu ihren größten Stars gehört. Gisli heißt mit vollständigem Namen Gisli Kristjansson, stammt aus Island und brachte 2004 mit HOW ABOUT THAT ein herrlich knarziges und verschrobenes Lo-Fi-Debüt heraus, das vor Ideen, Rock’n’Roll-Lifestyle, Slackertum, Wortgewalt und Indiehitpotential nur so strotzt. Songs, deren Schmissigkeit in einer Welt mit besseren Radiosendern kaum jemand hätte überhören können.

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So wie Gisli mutmaßlich anfangs selbst nicht wusste, wie er all seine Ideen auf maximal 74 Minuten und in jeweils drei Minuten versammeln und verdichten sollte, so staunend hörte man jeden der 13 Songs: In „Worries“ pirschte Gisli sich an sein pessimistisches lyrisches Gegenüber heran. In „Can You Make Me Right“ mimte er sprechsingend den posenden Rapper („I’m like MTV without the music, I’m like a terrorist attack without the panic, I’m like the Second World War without the Nazis, I’m like Diana without the paparrazis“). In „TV= Devil“ verneigte er sich vor Soulwax und schob immer wieder Handclaps und elektronische Spielereien ein. Mit „End Of My Ropes“ gelang ihm ein entwaffnendes Liebeslied („you stole my heart and ran away“) und mit „Straight To Hell“ hatte er den Soundtrack für ein Slackerleben geschrieben.

Gislis zweites Album ist nie erschienen

Spätestens jetzt kam man nicht mehr um die so großen wie naheliegenden Vergleiche umhin: Doch doch, in einer gerechteren Popwelt hätte Gisli in einer Liga mit Beck oder Pavement, mindestens aber Ben Kweller gespielt. Stattdessen wurde er mit seinem Eröffnungs- und Titeltrack des Albums leider beim Wort genommen: „Leave me the fuck alone. How about that?“

Gislis zweites Album BUILD-UPS & BREAK-DOWNS wurde ein paar Jahre später in Los Angeles aufgenommen, ist aus unerfindlichen Gründen* nie offiziell erschienen, kann aber seit 2011 auf Soundcloud nachgehört werden. Eine nach Band klingende Platte, die in den USA mit ihrem Indiefolk- und Schrammelpop-Appeal im Dunstkreis von Manchester Orchestra, Brand New und Kevin Devine ein Zuhause hätte finden können. Ebenfalls auf Soundcloud veröffentlichte Gisli seitdem eine Handvoll neuer Songs. Dort heißt es auch, dass Kristjansson in den vergangenen Jahren als Produzent, Songwriter, Arrangeur und Programmierer u.a. für Duffy, Roisin Murphy, Mick Jones, Jamie Cullum und Wiley tätig war und dass er gegenwärtig an seinem dritten Album arbeite. Vielleicht, so blieb zu hoffen, gibt es doch noch ein Stück Gerechtigkeit.

Straight outta Schlaf- und Kinderzimmer

Die Antwort auf diese Frage muss eindeutig „Jein“ lauten: Am 24. Mai 2019 ist eben jenes Album unter dem Namen THE SKELETON CREW tatsächlich erschienen – ausschließlich digital, mit acht Songs in 24 Minuten und deshalb wieder sträflich unter jedem Radar fliegend. Gisli hat jedes Instrument selbst eingespielt, programmiert, gesungen und lässt neben sich nur seine Freundin Eliza Newman (Geige und Background Vocals) und ihre gemeinsame fünfjährige Tochter Salka („spontane Percussions“) hören, seine „Skeleton Crew“ eben. Noch immer nutzt er weitgehend  klassisches Instrumentarium, noch immer klingt seine Stimme wie straight outta Schlafzimmer.

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Das kleine große Album beginnt ohne Umwege mit „Babababaaa“-Gesang, Handclaps, der Akustischen und einer fluffigen Melodie, die die nächste jagen wird. Die Produktion ist besser, die Texte (wenig überraschend) erwachsener, die Balladen („Broken Arm“ und „Hold On, Romeo“) kommen schon an Stelle Nummer 2 und 3 daher, es werden nicht die letzten sein („Sweet Surrender“). „Out of Control“ ist einer dieser eigentlichen Radiohits, der wieder keiner werden wird. Gisli schmeißt hier eine Runde Powerpop, wie Brendan Benson solo an seinen bestgelaunten Tagen. „Mechanical Birds On A Wire“ könnte auch von Chris Martin gesungen werden oder worden sein und hat es immerhin auf ein paar Spotify-Playlists geschafft, wie Gisli auf Facebook erfreut mitteilt.

Kurzum: THE SKELETON CREW ist einmal mehr eine Frühjahrsplatte geworden, die kaum einer als solche wahrgenommen hat: „Mechanical Birds On A Wire“ kommt bei Spotify auf aktuell immerhin 23.000 Streams, die sieben weiteren neuen Songs auf jeweils unter 1000. Ihr könnt was daran ändern – Euer Schaden wird es nicht sein.

Gislis neues Album „THE SKELETON CREW“ im Stream hören:

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*Die Gründe hat Gisli uns erklärt, als wir anlässlich dieses Artikels mit ihm gechattet haben. Hier unsere Fragen und seine Antworten:

Gisli im Interview: „Als kleiner Solomusiker verdient man eh kein Geld“

Musikexpress.de: Warum wurde Dein zweites Album nie veröffentlicht? Sag jetzt bitte nicht, dass kein Label interessiert gewesen wäre.

Gisli: Mein zweites Album wurde nie veröffentlicht, weil ich damals bei der EMI unter Vertrag war und das Label kurz vor der geplanten Veröffentlichung verkauft und dann dicht gemacht wurde. Ich verlor das Interesse an Majorlabelpolitik und konzentrierte mich darauf, im Studio zu arbeiten. Außerdem wollte ich kein weiteres Album nur zum Selbstzweck aufnehmen, ich wollte warten, bis ich wirklich Lust darauf hatte. In letzter Zeit habe ich haufenweise Musik geschrieben und aufgenommen. Es werden als weitere Veröffentlichungen folgen!

Warum kam Dein neues, drittes Album SKELETON CREW nur digital heraus?

Ich wollte es im Alleingang erledigen. Ich habe diesmal mit keinem Label gesprochen. Meine Freunde von Apollon Records in Norwegen wollten das Album herausbringen. Aber ich wollte lieber meinen eigenen, ganz einfachen Plan verfolgen. Es fühlte sich richtig an, als ob ich einen Stecker ziehen müsste, um meine Kreativität wieder anzukurbeln. All die Plattenfirmengespräche und wochenlange Promotion, all das wollte ich dieses Mal nicht. Vielleicht beim nächsten Mal wieder.

Da Du aber bestimmt viel Zeit und Energie in die neuen Songs gesteckt hast: Hast Du kein inneres oder wirtschaftliches Bedürfnis, wenigstens ein bisschen Geld damit zu verdienen? Von den paar Streaming-Cents können selbst bekanntere Künstler nicht leben.

Ach, als Musiker ist in dieser Branche eh so wenig Geld zu holen, dass das so oder so kein Thema war. Mein Geld verdiene ich trotzdem mit dem Machen von Musik, nur eben nicht mit meinen Solosachen.

Durch Deine Studioarbeiten mit anderen Musikern?
Ja, ich mache allen möglichen Kram. Im Moment nehme ich ein neues Album mit meiner Freundin Eliza Newman auf. Außerdem arbeite ich mit ein paar jungen isländischen Bands und schreibe Musik für einige Fernsehshows hier in Island. Nichts Riesengroßes, aber allesamt Projekte, die mir Spaß machen.