Gorillaz im Roundhouse, London


Fleischgewordene Comicfiguren? Kurzfilm-Festival? Kulturelle Anarchie? Postmoderner Karneval der Sinne? Bei der Live-Rückkehr der Gorillaz ging einiges, aber vor allem eins: große Kunst.

Man hat den Song unzählige Male gehört: auf Kopfhörern im Bus, im Radio, blechern plärrend aus Laptop-Boxen. Aber sobald dieser bekannte, knochentrockene Beat durch die Halle schallt, ertönt ein kollektiver Seufzer, und London ergibt sich aufs Neue.Als dann auch noch die ersten beiden Ehrengäste auf der Bühne erscheinen, wird einem zum ersten Mal richtig bewusst, was hier passiert. Aber langsam.

Wo sind wir eigentlich? Das weiß man ja nie so genau, wenn es um Gorillaz geht, diese unheilige Allianz aus Pop und Computer-animierter Parallelwelt. Interviews rund um die Veröffentlichung des aktuellen Albums PLASTIC BEACH lasen sich in den besten Fällen wie liebevoll gestaltete, surreale Kurzgeschichten, in den schlechtesten wie prätentiöse Aufmerksamkeitsheischerei. Doch alle nährten sich von der gleichen Idee: Nämlich der, dass man es mit einem Künstlerkollektiv zu tun hat, dessen Mitglieder den Bandalltag eher als Last denn als Lust betrachten. Das ergibt natürlich Sinn, wenn man an die konfliktreichen Geschichten der beiden Gruppen denkt, die das Rückgrat dieser Gorillaz-Inkarnation bilden: The Clash und Blur. Doch gerade angesichts dieses Wahnsinns-Line-Ups wurde bei manchem der Wunsch wach, die Supergroup solle mehr Band und weniger Konzept werden.

Gutes Omen: Heute Abend gibt es im Foyer Kapitänsmützen und T-Shirts mit Motiv der leiblichen Band zu kaufen, und anders als vor fünf Jahren in Manchester (beim letzten Gorillaz-Gig) sind da keine chinesischen Wände auf der Bühne, die die Musiker verbergen. Stattdessen hängt über der Bühne eine Leinwand, auf der während des Konzerts in Höchstqualität auf jedes einzelne Lied abgestimmte Clips gezeigt werden. Den Anfang macht, zu den Klängen des PLASTIC BEACH-Intros, eine Art virtuelle Tour um den Müllhaufen inmitten des Ozeans, bevor Snoop Dogg in eine herrlich dämliche Kapitänsuniform gepresst, von ebendieser Leinwand herab (Lou Reed und Mark E. Smith haben es leider auch nicht nach London geschafft) das Geschehen eröffnet: „Welcome to the world of the plastic beaccchhh!“ Man ist noch unsicher: Wird das ein Konzert oder ein von hochkarätigen Musikern untermaltes Kurzfilm-Festival? Nur Geduld: Bereits bei der vierten Nummer, einer apokalyptischen („O Green World“), springt Bandchef Damon Albarn von seinem Klavierhocker auf und hämmert die Hookline raus, bis der Song darin untergeht. Seine Losgelöstheit erinnert an die Blur-Konzerte des vergangenen Sommers, aber heute bieten die Clash-Männer Mick Jones (Gitarre) und Paul Simonon (Bass) eine andere Art von Charisma-Paroli als damals Graham Coxon und Alex James: Die beiden Punk-Kampfschweine trotten gebückt über die Bühne, als würden sie einen Angriff aus dem Hinterhalt planen, während im Hintergrund der Chor und die Streicher professionell-unauffällige Nuancen setzen.

Passend dazu klingt das Clash-eske „Kids With Guns“ um ein Vielfaches muskulöser als auf Platte. Der Song hat eine akute Relevanz für London: Zwei Wochen vor dem Konzert wurde ein 16-jähriges Mädchen erschossen, keine 20 Minuten vom Roundhouse entfernt. Für entschieden bessere Stimmung sorgt der im besten Sinne des Wortes ansteckende Sci-Fi-Funk von „Dirty Harry“, sowie der völlig organische Mash-up des Libanesischen Nationalorchesters und der Londoner Grime-MCs Kano und Bashy. Die Animationen sind originell und bieten Ablenkung, wenn sich auf der Bühne wenig tut. Das kommt zum Glück selten vor, obwohl „Dare“ überraschend flach ausfällt – aber das hat nichts mit den Gorillaz zu tun, das liegt am domestizierten, planlosen Gast-„Sänger“ Shaun Ryder, der eine wuchtige Disco-Granate in eine peinliche Karaoke-Session verwandelt.

Wo „Dare“ verpufft, explodiert „Feel Good Inc.“: Der Kontrast zwischen De La Souls wummernden Strophen und dem erhebenden Refrain mit Albarns in Honigmilch getränktem Gesang wird perfekt ausgereizt. Bei „Stylo“, dem anfangs erwähnten Song, kommt alles zusammen. Der refrainfreie Hit, punktiert von Mos Defs Rhymes und Bobby Womacks jetzt schon legendärem, improvisierten Vokal-Freakout, räumt alle Zweifel weg: We have band. Und wir wollen mehr Konzerte von ihnen.

Albumkritik & Story ME 4/10

www.gorillaz.com