Pop x Politik

Human Abfall: „Als Künstler wird man immer als politische Person betrachtet“


Vor der Bundestagswahl wollten wir wissen: Was sagt die Musik über das Land aus, in dem sie entsteht? Wir haben Fragebögen an 150 deutsche Künstler verschickt. Diesmal kommen die Antworten von Flavio Bacon von Human Abfall.

Kurz vor der Bundestagswahl 2017 wollten wir wissen: Wie viel sagt die Musik über das Land aus, in dem sie entsteht? Wie politisch ist deutscher Pop kurz vor der Bundestagswahl und zwei Jahre nach „Wir schaffen das“? In einer Zeit, die geprägt ist von einer Rückkehr in nationalstaatliches Denken, von Europakrise, islamistischem Terror, Klimawandel und zunehmender gesellschaftlicher Spaltung.

Status: Es ist kompliziert
Also haben wir Fragebögen an 150 deutsche Künstler und Künstlerinnen verschickt. Nur 29 Antworten kamen zurück. Nicht wirklich überraschend, aber sehr aussagekräftig auch von der Stuttgarter Punkband Human Abfall. Sänger Flavio Bacon hat für uns die Fragen beantwortet.

ME: Versteht Ihr Euch als Band als politisch? Schreibt Ihr politische Songs?

Flavio Bacon (Human Abfall): Es gibt viele Künstler, die behaupten, nicht politisch zu sein, aber das ist einfach eine falsche Auffassung, wie Personen in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden. Als Künstler wird man immer als politische Person betrachtet. Wenn man als Künstler authentisch ist, tritt man mit einer Grundhaltung, die durch Sozialisation, Habitus oder auch subkulturelle Distinktion geprägt ist, vor die Menschen und drückt diese aus. Diese Grundhaltung kann man immer einem politischen Milieu zuordnen. Ich wundere mich jeden Tag, wie schmerzfrei Massen rechter, rassistischer, antiamerikanischer, frauenfeindlicher, antisemitischer oder neoliberaler Inhalte auf großen Bühnen galant verpackt verkauft werden. Das zeigt, wie gleichgültig man wieder in Deutschland gegenüber Tabubrüchen und Entmenschlichung geworden ist.

Und ja, ich schreibe politische Texte. Da ich dadurch versuche, die Realität und den Zeitgeist für mich abzubilden.

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Warum schreibt Ihr politische Songs oder warum verzichtet Ihr darauf?

Ich schreibe politische Texte, da ich mich nicht als astrales Geistwesen sehe, das in seiner Herrlichkeit lachend auf die Menschen herunterblickt. Ich bin ein völlig normaler Mensch mit Fehlern und Neurosen, der versucht, halbwegs mit den Umständen klarzukommen, die durch den Kapitalismus bedingt sind, wie z. B. Rechtsruck in Europa, Krieg, Brexit, Völkermord, ein unerträglicher Job, Terror, Bullshit. Um das Beschreiben dieses Klarkommens oder des Scheiterns daran im Spätkapitalismus geht es in meinen Texten.

Können politische Inhalte in Songs tatsächlich etwas beeinflussen? Welche Wirkung können sie haben?

Wenn man z. B. ein deutschsprachiges Stück hört, das von erfülltem oder nicht erfülltem Liebesleben, von Heimat, Gesetzlosigkeit, finanziellem Erfolg, von uns (als unbestimmter Gruppe) gegen die da Oben (als unbestimmte Elite) oder Partylöwen handelt, dann passiert etwas Unglaubliches. Durch die Irritation, dass es sich hier entweder um Inhalte oder Nonsens handelt, wird der Geist für einen Moment wach. Im besten Fall ist für den Hörer nicht die Frage zu klären, ob es sich um Inhalte oder Nonsens handelt, und ehe man es merkt, hat er sich für ein paar Minuten mit einer ihm unbekannten Sichtweise eines Themas befasst. Und – 1, 2, 3 – ist die Revolution gewonnen, die Fesseln der Lohnarbeit sind abgestreift und die Bourgeoisie ist locker easy enteignet. ATOMROFL!

„Die Welt war noch nie in Ordnung und es gab noch nie gesicherte Zustände“ (Flavio Bacon, Human Abfall)

Fühlt Ihr Euch durch die politischen Entwicklungen der letzten Zeit (Flüchtlingsentwicklung, erstarkender Nationalismus, Autokraten in politischen Führungen, Klimawandel usw.) herausgefordert, Euch künstlerisch und/oder als Personen, die im Licht der Öffentlichkeitstehen, politisch zu äußern?

Nicht mehr als sonst, da die Welt noch nie in Ordnung war und es noch nie gesicherte Zustände gab. Es gibt immer wieder große Themen, die aber auch schnell wieder in Vergessenheit geraten. Vor ein paar Jahren drehte sich plötzlich alles um Griechenland, Rating-Agenturen und Schuldenschnitte. Heute ist das nur noch eine Fußnote in der Presse, obwohl sich die Situation nicht geändert hat. Und natürlich ist es aus deutscher Sicht immer populär und notwendig, sich über Despoten in den USA, Russland und der Türkei zu beschweren. Und natürlich ist es auch einfacher als Menschenrechtsverletzungen und andere politische Verbrechen in der BRD anzuprangern. Protest darf und muss woanders stattfinden – wenn jedoch dieselben Formen von Protest in der BRD angewendet werden, ist dieser Protest indiskutabel und ein Verbrechen, gegen das mit Gewalt wie eben in der Türkei oder Russland vorgegangen wird. Wenn Künstler aus der BRD glaubwürdig bleiben wollen, sollten sie mal anfangen, vor der eigenen Haustüre zu kehren und die Demokratie, in der sie leben, kritisch mitzugestalten.

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Status: Es ist kompliziert – der deutsche Pop und sein Verhältnis zu Politik und Gesellschaft

Eine ausführliche Analyse darüber, wie es um den deutschen Pop und sein Verhältnis zu Politik und Gesellschaft steht, findet Ihr im Essay von Torsten Groß im Musikexpress 10/2017, der am 14. September erschienen ist. Der komplette Text ist jetzt auch online nachzulesen:

Die weiteren Antworten auf unsere Fragen: