„Ich neige dazu, Ideen zu klauen“


Er liebt Thom Yorke. Er möchte ein Renaissancekünstler sein. Und er übt Askese. Ein Gespräch mit Michael Stipe vor den Deutschlandkonzerten von R.E.M.

Wer das ist, Michael Stipe? Keine Ahnung. Wie das ist, mit Michael Stipe zu telefonieren? Das ist so: Du sitzt gegen Mitternacht mit deinen Fragen in Berlin am Schreibtisch, am anderen Ende der Leitung sitzt Michael Stipe in seiner Hotelsuite, für ihn ist es erst früher Nachmittag „im ziemlich sonnigen Los Angeles“. Und irgendwann fragt er dich dann, ob du ihn liebst. R.E.M. ist die letzte echte Supergroup des Rock. Keine andere Band ist nach R.E.M. wieder so groß geworden, auf keine andere Musik haben sich Menschen aller Schichten und Altersgruppen so sehr einigen können wie auf den Folkrock der Gruppe aus Athens, Georgia. Buche ganz allein R.E.M. fürs Frankfurter Waldstadion, sie werden es ausverkaufen. Oasis, Blur und Radiohead werden es nicht einmal zusammen füllen können, R.E.M. ist die planetarische Konsenskapelle der neunziger Jahre, vergleichbar vielleicht nur noch mit U2 für die Achtziger, Pink Floyd für die Siebziger und den Rolling Stones forever. Die Leute sagen, das liege vor allem an Michael Stipe. Die Leute sagen, Michael Stipe versprühe Charisma. Im Sommer kommt eine „Best Of“-Platte, im Herbst ein komplett neues Album. Weil es darüber so viel zu erzählen gibt, holt sich Michael Stipe nach ein paar Minuten erst einmal einen bequemeren Stuhl.

Wo waren wir stehen geblieben? Wir hatten noch gar nicht richtig angefangen mit dem Gespräch, aber wie war’s mit dem vermaledeiten Prozess, der Peter Bück unlängst in London gemacht wurde, weil er auf einem Transatlantikflug gepöbelt hatte? Nicht zuletzt wegen Zeugenaussagen von Bono und Michael Stipe ist der R.E.M.-Gitarrist nun freigesprochen worden. Sein Ausraster, glaubte das Gericht, sei auf den Konsum von Rotwein nebst Beruhigungspille zurückzuführen. „Der Vorfall passte so gar nicht zu seiner Persönlichkeit“, beteuert Stipe. „Peter ist so ein ruhiger, zurückhaltender Typ. Außerdem hat die Angelegenheit viel Energie gebunden“. Stimmt, mit Schlagzeilen im Hinterkopf wie „R.E.M.-Gitarrist fällt Stewardess an“) lässt es sich schwerlich konzentriert arbeiten.

„Es war schon so ein ziemlich emotionaler Trip, die Titel auszuwählen“, erzählt Stipe, der sich für die demnächst erscheinende Anthologie mit seinen Kollegen durch den umfangreichen Backkatalog der Band gearbeitet hat. Gerüchten zufolge soll die intensive Beschäftigung mit dem alten Material nicht ohne Wirkung auf die neue Platte gewesen sein, die „primitiv und dreckig“ geraten sein und an Document von 1987 erinnern soll. Es wird ihr 13. Studioalbum sein, das dritte nach dem Abgang von Schlagzeuger Bill Berry. Ist das wahr – primitiv und dreckig? „Kann sein, dass ich diese Begriffe mal in einem Interview verwendet habe“, bestätigt der Sänger vage: „Die Arbeit mit den alten Sachen hat uns mehr belebt, als wir alle gedacht haben. Zwei neuere Stücke kommen auch noch auf die Hit-Sammlung. Aber eigentlich machen wir nur, was wir immer machen: Uns innerhalb unserer Grenzen weiter zu entwickeln und neues Terrain zu erforschen“.

Welche Grenzen könnten einer Band wie R.E.M. gesetzt sein, die von Wave über Folk bis zu breitarschigem Rock und Elektro-Exkursen schon so gut wie alles ausprobiert und davon ganze Frachtschiffladungen in aller Welt verkauft hat? Die Frage zeitigt eine seltene Wirkung, nämlich einen drucksenden Michael Stipe: „Naja, musikalisch gibt es da schon Beschränkungen“, räumt er ein: „Mike und Peter sind tolle Musiker, aber es gibt die Dinge, die sie einfach nicht beherrschen. Die meisten tollen Musiker sind technisch nicht die Allerbesten. Wir alle müssen lernen, mit unseren Beschränkungen zu leben und innerhalb der Schranken etwas Neues zu entwickeln darin liegt die eigentliche Chance. Auch meine Stimme hat ganz eindeutig Grenzen, was das Volumen angeht. Deswegen fordere ich auf Konzerten auch immer das Publikum auf, mitzusingen – damit man meine Fehler nicht so hört. Es gibt immer unsaubere Stellen…“

Ist das auch der Grund, warum es bis dato noch kein offizielles R.E.M. Live-Album gibt? Stipe verneint: „Es gibt einfach zu viele Raubkopien da draußen. Und gäbe es Charts für Bootlegs, die in Amerika kursieren, dann stünden wir auf dem dritten Platz“. Ein Lars Ullrich von Metallica reagiert auf den Diebstahl seines künstlerischen Outputs aggressiv wie der klassische Kapitalist, der er ist. Ein Michael Stipe von R.E.M. nimmt’s gelassen wie der klassische Künstler, der er sein will. Genau genommen will er sogar so etwas wie ein Renaissancekünstler sein, universell zuhause in den verschiedensten Disziplinen. Der ehemalige Kunststudent ist Fotograf, Lyriker, Filmproduzent und, ach ja, Sänger. Und es ist ein wesentlicher Teil seiner Ausstrahlung, dass er diesen Ehrgeiz herunterspielt: „Wie jeder Mensch reagiere ich nur auf die Dinge, die mich umgeben – und das sind nicht immer die angenehmsten Sachen“.

Andererseits sagt Stipe das mit der selbstverständlichen Gelassenheit eines Menschen, der seine weiße Weste fortwährend wäscht, als wäre er tatsächlich stets im Reinen mit sich selbst – und überzeugt von seiner mit mönchischem Eifer betriebenen Mission, Liebe und Verständnis in die Welt zu tragen. Und weil dergleichen nur mit der universellen Sprache der Musik möglich ist, übt er während der Arbeit an der neuen Platte musikalische Askese – sehr zu seinem eigenen Leidwesen: „Ich bin entsetzlich gespannt auf die neue Radiohead, aber ich höre gerade prinzipiell keine Musik von anderen Künstlern – schon gar nicht von Leuten, die ich sehr schätze. Es ist einfach zu gefährlich, weil ich dazu neige, Ideen zu klauen. Wahrscheinlich unbewusst, aber manchmal lässt es sich nicht vermeiden, speziell was die Texte angeht“. So ganz mag er aber in dieser Zeit auf Musik nicht verzichten. Nur: Unverfänglich muss sie sein, also instrumental: „Ich höre gerade eigentlich nur noch Dub Taylor“. Dub wer? „Dub Taylor“ wiederholt Stipe geduldig, „den müsstest du eigentlich kennen, das ist ein Berliner Musiker. Ziemlich abgefahren und unglaublich.“

Hmm. Man lernt nie aus: Superstar Michael Stipe vertreibt sich die Zeit mit den obskuren, technoid minimalen, angejazzten Housetracks von Alex Krüger alias Dub Taylor. Überhaupt sind ihm moderne musikalische Entwicklungen nicht fremd. Das Projekt der „Reveal“-Remixe beispielsweise habe ihm große Freude gemacht, zu sehen, was Künstler aus völlig anderen Bereichen mit dem Material anstellen. Ein Soloalbum, so oder so, werde es von ihm aber einstweilen nicht geben: „Ich habe ein Stück für einen französischen DJ eingesungen, das im Sommer auf den Markt kommt. Das war’s aber auch schon. Was ich als Mensch und Künstler erleben und fühlen will, das kann ich nirgendwo besser als bei R.E.M.“

Hat so ein dauernd Reisender und vielbeschäftigter Popstar überhaupt Gelegenheit, seine Wirkungsstätten kennen zu lernen? „In Deutschland? Ich glaube, die derzeit spannendste Stadt ist Berlin. Jedesmal, wenn ich dort bin, hat sie sich schon wieder verändert. Das habe ich auf der ganzen Welt noch nicht erlebt. Dazu kommt, dass ich ein besonders angenehmes Erlebnis damit verbinde: Wir spielten dort vor Jahren mal mit Radiohead, und dort lernte ich Thom Yorke endlich besser kennen. Wir setzten uns in Kreuzberg raus auf die Straße, tranken Bier, die Sonne schien… Was soll ich sagen? Es war der Anfang unserer Beziehung“.

Interessantes Thema. Und er hat’s eigenhändig angesprochen. Also ran an den Speck, fragen, ob denn was dran ist am pikanten Gemurmel, die beiden, naja, hätten was miteinander. Ich kann ihn förmlich abwinken hören: „Ach, das ist doch langweilig. Was sollen denn das für Kategorien sein? Wenn du einen Menschen liebst, dann liebst du ihn, Punkt. Mehr habe ich dazu nicht zu sagen. Bist du eigentlich R.E.M.-Fan?“ Bumm, das war er, der Gegenangriff, unvermittelt. Michael Stipe will wissen, ob ich R.E.M.-Fan bin. Habe ich mich verdächtig gemacht? „Es interessiert mich nur, ob ich mit Leuten rede, die R.E.M. lieben – oder mit jemandem, der nur seinen Job macht“, erklärt er beiläufig. Er will tatsächlich wissen, ob du zur Familie gehörst, zum Kreis der Jünger, zu den Gläubigen, kurzum: ob du ihn liebst. Was antwortest du dann? Du erzählst dann, dass du alle Platten hast und man sich vor vier Jahren auch schon mal in New York getroffen habe, er werde sich daran sicher nicht erinnern, aber … – „Doch, doch „, behauptet Stipe, „das war eine wilde Zeit“. Er sagt das mit einer entwaffnenden Verbindlichkeit, wie man sie vielleicht von einem Guru kennt. Einem sehr weisen, liebevollen Guru. Oder einem Scharlatan. Kann man Michael Stipe trauen?

Und dann sitzt du wieder gegen Mitternacht allein mit deinen Fragen am Schreibtisch, am anderen Ende der Leitung war Michael Stipe, der jetzt gleich zurückfliegt nach Vancouver, um dort seine R.E.M.-Sachen zu machen. So ist das, mit Michael Stipe zu telefonieren. Wer ist Michael Stipe?