Kritik

„I’m Thinking of Ending Things” auf Netflix: Mehr als nur eine neurotische Nabelschau?


„I’m Thinking of Ending Things” ist ein typischer Film von Charlie Kaufman, der sich um seine eigenen psychischen Befindlichkeiten dreht. Wir haben für Euch eine Therapiesitzung eingelegt, um zu schauen, ob der Film mehr als egozentrische Selbstbeweihräucherung zu bieten hat.

„Ein Film von Charlie Kaufman ist wie eine Schachtel Pralinen – man weiß nie, was man kriegt”, sagte einmal so oder so ähnlich ein weiser Mann. Letztlich stimmt das jedoch nur halb. Denn Kaufmans Filme – beispielsweise „Being John Malkovich”, „Vergiss mein nicht” oder „Synecdoche, New York” – haben letztlich alle eine Sache gemeinsam: Sie sind das Produkt eines neurotischen Wirrkopfes, der sich irgendwo zwischen Genie und Wahnsinn bewegt und sich dabei so oft und so schnell um sich selbst dreht, dass er nicht für jedes Publikum zu fassen ist. Mit „I’m Thinking of Ending Things” startet Netflix nun einen neuen Versuch, einen weiteren verqueren Kaufman greifbar zu machen.

An der Oberfläche scheint das zu gelingen. Denn wer kennt sie nicht, diese Anspannung vor dem Kennenlernen der Eltern der neuen Liebe? In „I’m Thinking of Ending Things” hängt diese unangenehm im Nacken der namenlosen jungen Frau (Jessie Buckley), die mit ihrem neuen Freund Jake (Jesse Plemons) bei seinen Eltern zum Abendessen eingeladen ist. Doch im Haus der Eltern, grandios verkörpert von Toni Collette und David Thewlis, gerät nicht nur die psychische Verfassung aller Beteiligten, sondern die Zeit selbst aus den Fugen.

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Im Seitenverhältnis gefangen

Die ganze Zeit über denkt die junge Frau darüber nach, die Dinge zu beenden. Doch was meinst sie damit? Ihre Beziehung zu Jake, den Besuch bei seinen Eltern oder gar ihr Leben? Die Frage ist mitnichten rhetorisch gemeint, denn glaubt ja nicht, dass Kaufman in seiner neunten Drehbuch- und dritten Regiearbeit überhaupt versucht, eine klare Antwort zu liefern. Klarheit ist nicht sein Stil. Vielmehr verhält er sich wie ein hyperaktiver Hamster, der einen Faden nach dem anderen anknabbert und zwischendrin fast an einem dicken Knoten erstickt.

Es liegt an den Zuschauer*innen, genügend Interesse zu zeigen, dem putzigen Nager beim Entwirren des Knotens zu helfen. Einfach ist das nicht, denn „I’m Thinking of Ending Things” ist wie eine Spieluhr, die sich dreht und dreht und dreht und dreht – immer wieder um die eigene Achse, auf ewig in dieser einen Bewegung gefangen.

Gefangen sind auch die Charaktere – nämlich im üblicherweise nicht mehr genutzten Seitenverhältnis 4:3. Diese zunächst anachronistisch wirkende Entscheidung stellt sich letztlich als wunderbares Stilmittel heraus. Denn schnell wird klar, dass alles, was außerhalb der einengenden Bildgrenzen passiert, nicht unseren Gesetzen der Zeit folgt.

„I’m Thinking of Ending Things” fordert die Zuschauer*innen heraus, Zeit nicht nur als drei Zeiger auf einem Ziffernblatt, sondern als ein philosophisch dehnbares Konzept zu begreifen. Was wäre, wenn man sich selbst nicht auf einem Zeitstrahl nach vorne bewegt, sondern selbst ein Fixpunkt ist, der von der Zeit aus unterschiedlichen Richtungen durchflossen wird und sich so mehrere Realitäten an einem Punkt überschneiden? Was bedeutet das für den freien Willen? Das sind Fragen, die sich in dieser Form wohl nur Charlie Kaufman stellen kann.

Die Angst vor der Bedeutungslosigkeit

Dem Realitätsbegriff versuchte sich Kaufman in praktisch all seinen Filmen auf unterschiedliche Arten zu nähern. Doch in keinem seiner bisherigen Filme ist er diesem Streben auf so zynische, fast schon hoffnungslose und gleichzeitig doch poetische Weise begegnet: Was sind unsere Beziehungen, unser künstlerisches Schaffen, unser Streben nach Erfüllung wert? Charlie Kaufman scheint in einer fast schon lähmenden Angst zu leben, diese Frage mit „nichts” beantworten zu müssen. Kaufman hat diese existenzielle Angst, dass alles bedeutungslos sein könnte und die Zeit ohne auf uns achtzugeben so schnell an uns vorbeirauscht, dass nicht einmal mehr der Name der jungen Frau oder unserer eine Rolle spielt, Film werden lassen. Gespräche über Familie, Ängste, Gefühle und Kunst drehen sich in „I’m Thinking of Ending Things” völlig ziellos im Kreis, fahren letztlich gegen eine Wand bedeutungsloser Nichtigkeiten und erfüllen doch einen Zweck.

Damit wird „I’m Thinking of Ending Things” zum Horror durch die Hintertür – einer, der sich unbemerkt anschleicht, mit verwirrenden Timeline-Spielchen tarnt und seine Zuschauer*innen plötzlich mit den Scherben ihres Selbstwertes konfrontiert. Oder eben einer, dem nur mit schulterzuckendem Abwinken zu begegnen ist. Denn Charlie Kaufmans Filme sind niemals kompromissbereit – „I’m Thinking of Ending Things” ist da keine Ausnahme. Sie sind Manifestation seiner Neurosen, die man entweder teilt, zumindest auf einer metaphorischen Ebene interessant findet oder als egozentrische Selbstbeweihräucherung abtut. Bitte denke niemals darüber nach, die Dinge zu beenden, Charlie Kaufman.

„I’m Thinking of Ending Things” ist seit dem 04. September 2020 weltweit auf Netflix zu sehen. In den Hauptrollen spielen Jessie Buckley und Jesse Plemons. Die Spieldauer beläuft sich auf 2 Stunden und 14 Minuten.

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