Jahresrückblick 2016: So findet der Pop des 21. Jahrhunderts sein eigenes Gesicht


Die endlos wirkenden Jahre des Recyclings gehen langsam zu Ende: Der Pop im 21. Jahrhundert findet ein eigenes Gesicht – hinter der Maske.

20 Jahre nach dem Anbruch eines neuen Millenniums könnte die Popmusik ihr stattliches Erbe des 20. Jahrhunderts endlich aufgebraucht haben. Dass das gerade in als hochbeschleunigt wahrgenommenen Zeiten so lange dauert, liegt an ebenjenen Mitteln und Mechanismen, die uns Abend für Abend reizüberflutet auf Ruhe im Schlaf hoffen lassen. Mit der weitgehenden Verdrängung des Fernsehens as we know it durch YouTube, mit dem Niedergang der Radiodiktatur durch Filesharing- und Streamingplattformen lag auf einmal sämtliches Popkulturgut seit Anbeginn seiner Konservierungsmöglichkeiten zum jederzeitigen Abrufen bereit. Wie eine Schatztruhe ohne Boden.

Warum also neue Ideen ausbrüten, wo es doch so viel nachzuholen galt? Behauptete Mikrotrends wie Vaporwave und Witch-House mal  außen vor gelassen.
 Revivals gab es natürlich schon immer: Von „Grease“ 1978 bis „Hairspray“ 1988 blühten die 50s in den 80s nochmals auf, ein Nostalgie-Act wie Shakin’ Stevens verkaufte damals im UK mehr Singles als zeitgemäße Elektropop-Künstler wie Depeche Mode oder New Order.

Nirvana beriefen sich schon im Titel ihres erfolgreichsten Albums auf ihre geistigen Väter aus den 70s, die Sex Pistols. Kurz darauf überflügelte Retrorock im UK die aufregenden neuen Impulse von Jungle, TripHop und Drum’n’Bass. Revivals sind integraler Bestandteil von Pop, der stets auf sich selbst aufbaut. Was aber die Popmusik seit 2001 prägte, war bisher beispiellos: Ausgerechnet die möglichst exakte Kopie galt als probate Methode, Authentizität zu erreichen. Es ist (noch) das Zeitalter von Vintage-Mode und Manufactum-Interieur. Jack White brüstete sich damit, weitestgehend mit antiken Instrumenten zu arbeiten. Auf die Kay-Hollowbody-Gitarre etwa, mit der er das Riff des Jahrzehnts auf „Seven Nation Army“ aufnahm, wurde er aufmerksam, weil Howlin’ Wolf sie gespielt hatte.

Vieles davon war deswegen sehr gut, weil man sich sehr genau und umfassend darüber informieren konnte, „wie die das damals so gemacht haben“

Sharon Jones bekam Applaus, weil sie den Soul der mittleren 60er- bis 70er-Jahre originalgetreu wieder aufleben ließ. Zusammen mit deren Backingband, The Dap-Kings, nahm Amy Winehouse eines der erfolgreichsten Alben der Dekade auf. BACK TO BLACK löste ein Soul-Comeback aus, das sogar einen nichtssagenden Dusty-Springfield-Klon wie Duffy an die Spitze der Charts schoss. Parallel dazu tirilierten sich The Darkness als Queen-Tributeband zur „nation’s leading rock combo“ (heute spielt Roger Taylors Sohn Rufus bei ihnen), mauserten sich Kings Of Leon mit klassischem Southern Rock zur Stadionband, sorgte The-Clash-Gitarrist Mick Jones als Produzent der Libertines für den Fortbestand seiner Art. Vieles davon war deswegen sehr gut, weil man sich sehr genau und umfassend darüber informieren konnte, „wie die das damals so gemacht haben“.

YouTube als interaktives Lexikon. Wurden früher Trends und Marken von neuen überrollt und lächerlich gemacht, kamen sie nun alle zurück und ließen für neue keinen Platz. Im Hollywoodkino ist das bis heute so, siehe „Jurassic Park/World“, „Kong“, „Dschungelbuch“, „Ninja Turtles“, „Ghostbusters“ und immer noch und immer wieder „Star Wars“.

Doch wurde bislang brav ein YouTube-Video nach dem anderen studiert, hat man jetzt den Eindruck, dieser neue Pop entstehe daraus, dass jemand gleichzeitig bei allen Musik-Clips des Portals auf „Play“ drückt

Die Arbeiten von Künstlern wie Arca, Holly Herndon, Oneohtrix Point Never und zu einem gewissen Grad sogar dem frühen Skrillex bauten nun aber das Fundament für das überfällige Ende des musikalischen Recyclingwahns. Im Grunde, und um im Bild zu bleiben, griffen sie dabei auf dieselben Ressourcen zurück wie alle anderen. Doch wurde bislang brav ein YouTube-Video nach dem anderen studiert, hat man jetzt den Eindruck, dieser neue Pop entstehe daraus, dass jemand gleichzeitig bei allen Musik-Clips des Portals auf „Play“ drückt. Ein gutes Beispiel dafür ist COLOR, das erste Album der selbst ernannten „Sounddesignerin“ Katie Gately aus L.A., ein Rauschangriff.

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Hier passiert scheinbar alles auf einmal. So überwältigt wird man in einem Moment, dass man im nächsten, in dem eigentlich Stille dominiert, Dinge hört, die gar nicht da sind. Wie das geht, hat man bei James Blake und The xx gelernt. Man denkt sich Töne assoziativ dazu. In etwa so, wie wenn man kurz in die Sonne blickt, danach die Augen schließt, sie woandershin richtet und wieder öffnet. Dann zeigt sich die Welt anders: bunter, wackliger, diffuser. Wie die mehrfach modulierte Musik von Katie Gately. Permanenter Umbruch als Istzustand. Musik für die Generation Skip, deren Jugendheldinnen wie Rihanna und Beyoncé auf Konzerten 30 Hits anstatt 15 ausspielen. Jedes noch so kleine Detail dieses Alles wird hier durch so viele Filter gejagt, dass der Ursprung verschwindet, das Original seine Bedeutung verliert. Erst nach und nach schält sich der Pop heraus, werden Strukturen zumindest gefühlt erkennbar. Man könnte das als Avantgarde für ein paar wenige Auskenner, wie es sie immer gegeben hat, abtun. Aber längst ist die alles verfremdende Kraft aus dem Underground in den Charts angekommen.

Miley Cyrus riss bereits 2015 ihren regelkonformen „Wrecking Ball“-Pop mit der Abrissbirne eines Flaming-Lips-Albums ein, Björk verpflichtete für ihr VULNICURA den wie Gately beim maßgeblichen Londoner Label Tri Angle gesignten Künstler The Haxan Cloak. 2016 ver- öffentlichte Danny L Harle vom einflussreichen Londoner Voraus-Pop-Kollektiv PC Music, das seinen Künstlerstamm kunstvoll verschleierte, dann einen Track mit Carly Rae Jepsen. Und sehen, besser: hören wir uns zwei der am meisten erwarteten Alben dieses Jahres an. BLONDE von Frank Ocean und Bon Ivers 22, A MILLION brachen jeweils mit einem Getöse über uns herein, als hätte man es 1987 mit Michael Jacksons BAD zu tun. Mit der gravierenden Ausnahme, dass in keinem dieser beiden Fälle neun Welt-Hits auf der Tracklist standen, sondern kein einziger.

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BLONDE (Nr. 1 in den USA und im UK) und 22, A MILLION (Nr. 2 in den USA und im UK) zählen zu den ungewöhnlichsten Erfolgsalben einer alten und zu den ersten Meilensteinen einer neuen Ära. Pop, der die Grenzen verwischt, und das mehr als in einem Crossover- oder Fusion-Sinne. Sogar auf dem reduziert wirkenden, Singer-Songwriter-artigen Album von Frank Ocean wird allerorts manipuliert, entfliegt der Junge mit der Gitarre oder eben dem Keyboard in surreale Nebenwelten, ins Upside Down. Der von Auto-Tune bearbeitete Gesang des Ex-Hemdsärmeligen Justin Vernon ist so salonfähig geworden, dass sogar ein alter Hase wie Kurt Wagner ihn sich zuletzt auf dem Lambchop-Album FLOTUS zu eigen machte.

Bei all ihrer vordergründigen Künstlichkeit eint diese Alben ihre Menschlichkeit, ihre Intimität, ihre Aufrichtigkeit. Das zentrale Thema bei Vernon ist die Unsicherheit, Ocean gewährt Einblicke in seine Seele, während er meditiert, schutzlos, auf sich reduziert. Die Effekte, die aufgetürmten Soundschichten, die absichtlichen Glitches und Störgeräusche sollen nicht von ihrem Schöpfer ablenken, sondern den Weg zu seinem Versteck aufzeigen. Das Handgemachte als primär glaubwürdige Ausdrucksform des Innenlebens hat ausgedient. „Alle Menschen, welche leben, alle, wie sie sich auch geben, tragen Masken bis zum Grab. Nur in tollen Faschingstagen, wenn sie Narrenmasken tragen, da nur fällt die Maske ab“, heißt es in einem alten Gedicht. Oder ist mit Ziggy Stardust und schließlich mit David Bowie wirklich nur eine Kunstfigur gestorben?

Lady Gaga, die letzte Verfechterin des Pops des 20. Jahrhunderts mit seinen großen Gesten, seiner vielgesichtigen Eindeutigkeit, wirkte 2016, nur fünf Jahre nachdem die Welt sie als neue Allmacht akzeptiert hatte, trotz überarbeitetem All-Natural-Konzept gestrig und für das Hier und Jetzt irrelevant. Dieser neue Pop muss sich keine Maske aufsetzen – er ist mit ihr geboren. Madonna hat wahrscheinlich schon bei Tri Angle anrufen lassen.