Kante – Rhythmus der Großstadt


Wenn Kante-Songs klingen wie von Maffay gesungen, wenn die Hamburger Schule auf ausgetüftelte Choreografien prallt, dann haben wir nicht umsonst gelebt, dann hat Peter Thiessen eine Musical-Revue geschrieben. Ein Besuch in einer anderen Welt

Die Friedrichstraße runter, am Berliner Ensemble vorbei: „Europas größtes Revuetheater“ nennt sich der Friedrichstadtpalast. Vor den schweren Türen haben sich bereits ein paar gesetztere Herren und ein Kegelclub eingefunden, die mit dem Gesamtwerk der Band Kante noch nicht vertraut sein dürften. Wird die Revue „Rhythmus Berlin“ das Vorurteil bekräftigen, dass das Schlimmste an Musicals und Revues nicht die Aufführungen selbst, sondern ihr Publikum ist? Rund 1.900 Zuschauer finden Platz im weiten Rund, es finden sich ein: eher ältere als jüngere, eher gutbetuchte als ärmliche, eher zu grell als dezent gekleidete Leute. Zwei Sitze weiter haben es sich zwei überschminkte, reichlich parfümierte und sehr reich aussehende Damen mit Gucci-Täschlein bequem gemacht, gleich daneben harrt ein nachlässig rasierter Großstadt-Hippie der Dinge, die da kommen. Das Licht geht aus, Fidelmusik ertönt, aus dem Off hören wir die bekannte Stimme Peter Thiessens, die auch das Album KAN-TE PLAYS RHYTHMUS Berlin so einleitet: „Kannst du es hören?/Spürst du es? /Das leise Zittern in der Luft?/In der Stille dieses Raums/Ein Puls, der durch die Wände geht / Ein Sturm, der um die Häuser weht/ Espocht, esflackert, stockt und rast /Der Rhythmus einergroßen Stadt /Rhythmus Berlin. „Szenen aus dem uralten Walter-Ruttmann-Film „Berlin – Die Sinfonie der Großstadt“ werden an die Wände projiziert, der Fotograf Helmut (gespielt von Lothar Stadtfeld) erblickt vor dem Kino, in dem sie den Film gerade in der Spätvorstellung zeigen, Katherine (Nathalie Tineo), die Frau seines Lebens. Er ist zu schüchtern, er spricht sie nicht an, er verliert sie aus den Augen. In jenen 24 Stunden, in denen die Stadt Berlin alle Spuren verwischt und Katherine und Helmut nach einander suchen, spielt „Rhythmus Berlin“.

Um Miss Verständnisse zu vermeiden: Weder Peter Thiessen noch seine Band tauchen in der Revue auf. Die Musikstücke, die Thiessen als Auftragsarbeit für den Friedrichstadtpalast komponierte, werden von den Revue-Darstellern gesungen. Auch die Texte auf dem Album stimmen mit dem, was auf der Bühne gesungen wird, nicht zwingend überein: Über eine Melodie, die dem Song „Die alten Gespenster“ vom Kante-Album ähnelt, wird ein anderer, ebenfalls von Thiessen geschriebener Text angestimmt, zu anderen von der Platte bekannten Thiessen-Texten wird eine andere Melodie verwendet, auch wurden Teile gekürzt oder weggelassen. Zum besseren Verständnis: Erst bei Thiessens Arbeit für den Friedrichstadtpalast fielen Songs ab, die er gern auch selbst singen und mit Kante aufnehmen wollte. Revue, Idee zur Platte, Platte – in dieser Reihenfolge.

Verschwenderische Kostüme, Baiiettund Tanzszenen, gefährliche Zirkusnummern am Zifferblatt einer Uhr und dem „Todesrad“, ausgetüftelte Choreografien. Zurück in Hamburg, erklärt Peter Thiessen, was er daran so interessant fand: ,Als man mich anrief und fragte, ob ich das machen will, gab es das sogenannte Spielbuch (vergleichbar mit einem Drehbuch beim Film; Anm.) von Thomas Münstermann ja schon. Also auch die Anlehnung an den Walter-Ruttmann-Film aus den zoern. Das Team von .Rhythmus Berlin‘ ist ziemlich jung und versucht, frischen Wind in diesen etwas angestaubten Friedrichstadtpalast zu bringen. Wenn man sich mal andere Shows von denen anguckt oder vor ein paar Jahren da war, weiß man: Das war schon sehr viel mehr,Ein Kessel Buntes’mäßig. Es ist natürlich eine total andere Welt als die, in der ich mich sonst so bewege. Einfach total abgefahren, dass ich da in so einerVeranstaltung rumlaufe. Das ist Unterhaltungstheater und eben kein Rock-Konzert und auch keine Shakespeare-Inszenierung. Aber ich persönlichfinde die Form ,Revue’schon echt toll. Man muss keine durchgeplottete Handlung erzählen wie beim Musical. Mehr freie Nummernfolge als zusammenhängende Geschichte, eine echt spannende Erzählform.“

Für den gemeinen Rock-Typen sind in einem Revuetheater nicht nur die Preise gewöhnungsbedürftig (entweder das Nullkommazweiliterglas Rotwein oder das Programmheft – beides wäre dekadent), sondern auch die Show an sich: Warum intonieren die in Musicals oder Revuen singenden Protagonisten immer wie Peter Maffay und die Protagonistinnen wie Angelika Muster? Wieso müssen die Balladen immer klingen wie „Up Where We Belong“? Wieso sehen die Mitglieder eines in der Revue auftretenden Filmteams aus wie Playmobil-Männchen und welche Funktion hat das halbnackt in einem weit oben an der Decke angebrachten Wasserbottich sich räkelnde Pärchen?

Die Welt der Revue bleibt eine fremde. Interessanter scheinen die Menschen zu sein, die dahinterstecken. „Vor allen Dingen sind das sehr interessante Lebensläufe“, berichtet Peter Thiessen. „Der Friedrichstadtpalast war ja ein wichtiges DDR-Unterhaltungstheater. Es gibt also viele Leute, die da schon seif 30, 40 Jahren arbeiten. Einmal, in der Kantine, kam so ein Bühnenarbeiter rein und erzählte seinen Kollegen:,Also ich weiß ja, was das nächste große Thema sein wird: Globalisierung!‘ Wir kamen dann so ins Erzählen und er meinte: Mensch, warum muss eigentlich jeder neue

Intendant auch den neuesten technischen Schnicknack mitbringen? Das haben uns die Russen doch damals alles schon eingebaut! Als wir dieses Becken bekommen haben, kamen 50 russische Techniker und haben uns das installiert! Und weißte, dass wir die gleiche Belüftungsanlagehaben wie im Kreml?‘ Oder einer von den Haus-Choreografen, der kam an: ,lchfind’das echt interessant, was ihr mit eurer Band macht- aber kennste eigentlich die Gruppe Karat? Das Lied mit dem Albatros war so ein verstecktes Anti-Stasi-Lied, da hab’ich damals die Choreografie zu gemacht.‘ Das sind total spannende Leute, vor denen ich echten Respekt habe.“

ThieSSen meint damit nicht nur den studierten Komponisten, Musikwissenschaftler und Dirigenten Jan Dvorak, über den er an den Friedrichstadtpalast-Auftrag kam, sondern auch den musikalischen Leiter Detlef Klemm und Marc Schubring (einer der Komponisten der Revue), der die sogenannte „Broadway-Lizenz“ besitztund die Hälfte des Jahres in New York verbringt und dort an Workshops für Broadway-Projekte arbeitet. „Derhatmir viel darüber erzählt, wiedieZusammenarbeitzwischenTextern und Komponisten am Broadway funktioniert. Die überlegen sich, worum es gehen soll, und dann entsteht eine Punchline, also die wichtigste Zeile des Refrains. Diese eine Zeile muss dann eigentlich schon alles enthalten, um was es in dem Stückgeht. Dann schreibt der Komponist das Stückund derTexter textet da drauf. Solche Sachen sind auch für meine Arbeit sehr interessant.“

In letzter Zeit hat Thiessen, den Motown-, Broadway- und Tin-Pan-Alley-Sachen schon immer fasziniert haben, wieder viel Frank Sinatra gehört. „Ein Stück wie,Fly Me To The Moon‘ istfür mich wie das musikalische Pendant zu einem Hi-Tech-Produkt. Das ist so wahnsinnig gut gemacht. Da hört man einen Drei-Minuten-Song und denkt: Das waren mindestens zehn Minuten. Und die Texte waren bei Sinatra niemals dumm. Es war immerein intelligenter und witzigerDrehdrin.“

Und so wie sich in Sinatra-Songs (und bei der Gruppe Kante) manchmal aktuelles Geschehen und Erinnerung vermischen, vermischen sich in „Rhythmus Berlin“ auch die Erinnerungs- und Fantasiebilder des Mythos Berlin mit dem Geschehen der Jetztzeit. „Bei Kantefühle ich mich für alles verantwortlich. Hier habe ich einfach malgenossen, Teil dieser Riesenmaschine zu sein. Außerdem mag ich es wirklich, so auftragsmäßig zu arbeiten.“Es geht das Gerücht, man könne dabei auch besser verdienen als im lndie-Rock. >» www.kantemusik.de; »>

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