Köln: Ein Pop-Aschenputtel macht sich schön


Wer beim Thema Popmusik aus Deutschland als Erstes auf Köln kommt, verströmte bis vor Kurzem noch die Aura kompletter Ahnungslosigkeit. Doch die Zeiten haben sich geändert. Unser Autor hat sich für uns auf einen Streifzug durch die Proberäume einer neu erblühten Musiklandschaft begeben – und hält sich dabei nicht lange mit BAP oder AnnenMayKantereit auf.

„Die Leute sind total ausgeflippt“, Wolfgang Perez runzelt die Stirn und setzt hinzu: „Wusste gar nicht, dass so was zu unserer Musik möglich ist…“

Die Band, um die es hier geht, trägt den schlichten Namen Golf. Vor einigen Tagen hatte sie mit ihrem geschmeidigen Pop-Entwurf irgendwo im tiefsten Bayern gespielt, es hat funktioniert, verdammt gut funktioniert.

GOLFKonzert-Locations, die überschnappen und wegen Überfüllung geschlossen werden, kennen Wolfgang und seine drei Bandkollegen dabei eigentlich schon. Bevor sie sich über die Stadtgrenzen wagten, spielten sie in zwei aufeinanderfolgenden Jahren bei der c/o pop, einem Musikfestival in Köln, das über mehrere Tage die unterschiedlichsten Acts in Clubs über die Stadt verteilt aufbietet. Jedes Mal, wenn dabei Golf den Stadtgarten bespielten, ging ganz schnell nichts mehr, Einlassstopp. Heute nun sind sie ihrem Lokalhelden-Status entwachsen. Das Debütalbum „Playa Holz“ erschien Anfang 2016 und trug die Band weit. Wer in der ersten Singleauskopplung, einer Ode an den ehemaligen Kinderstar und Proto-Kevin „Macaulay Culkin“, jedenfalls noch kölsches Lokalkolorit sucht, tut dies vergebens. Gedreht wurde der Clip in Vietnam während einer Konzertreise von Golf durch Südostasien. Das Goethe-Institut zeigte sich begeistert von ihrem hochästhetischen Umgang mit Sprache und lud die vier Anfang-Zwanzigjährigen zu diesem außergewöhnlichen Trip ein. Ein Trip, der auch in den besuchten Ländern nicht ohne Nachhall blieb: So findet sich eine rührige vietnamesische Fanseite mit dem Namen „GOLF – Meine Deutsche Jungen“ im Netz. Wobei es besser heißen müsste: „GOLF – Meine Kölner Jungen“, denn nachdem die Band stets proberaumlos zwischen Essen, Berlin und Köln pendelte, haben sie sich nun ganz bewusst festgelegt: Köln soll es sein. „Wir haben der Musikszene hier einiges zu verdanken“, sagt Wolfgang. Ein einfacher Satz, der allerdings für einen kaum mehr möglich gehaltenen Paradigmenwechsel steht.

Alles BAP, oder was?

Denn so groß die Reputation ist, die der Standort Köln hinsichtlich elektronischer Musik (und dem vom Label Kompakt in die Welt getragenen „Sound of Cologne“) genießt, so karg und dürr sah es sich auf quasi allen anderen Felder bestellt. Was klingt wie üble Nachrede, ist nichts anderes als eine üble Wahrheit. Welche Bands aus Köln, die sich nachhaltig in die Pop-Annalen eingeschrieben haben, könnte man denn selbst beim nächsten Kneipen-Quiz aufzählen? Genau: BAP, danach wird es schon eng – und dass einem dann vielleicht noch die Höhner oder die Bläck Fööss einfallen, ist bereits Teil des Problems. Mit ein bisschen Bedenkzeit kommt man möglicherweise noch auf Klee oder Erdmöbel – doch wenn man Karneval, BAP und besagten „Sound of Cologne“ beiseite lässt, hat es über die vergangenen Jahrzehnte erschreckend wenig Nennenswertes über die Stadtgrenzen hinaus geschafft. Umso erstaunlicher, dass sich die festgefahrene Situation seit wenigen Jahren im Wandel befindet. Entscheidungen von Bands wie Golf für Köln sind kein Einzel- oder gar Unfall mehr, hier wachsen auf vielen Ebenen endlich die Szenen heran, die einer Metropole würdig sind.

Woman

Die Kölner Band Woman
Woman

Die Konzertdichte lokaler Bands hat sich erhöht, was aber noch signifikanter ist, ist, wie sehr sich das Interesse an hiesigen Acts und Veranstaltungen vergrößern konnte. „Wir erleben in Köln seit einigen Jahren die Entstehung einer neuen Popmusikszene – von AnnenMayKantereit bis hin zu Xul Zolar kennt und schätzt man sich. Köln ist eben im Gegensatz zu Berlin ein Dorf und somit vom Netzwerk her viel enger gestrickt. Die Szene steckt jedoch noch in ihren Kinderschuhen“, erzählt Manuel Tran, er spielt Keyboard bei der Band Woman. Dieser Tage trifft man diese oft im schmucklosen Braunsfeld an, einem Stadtteil mit viel Gewerbegebiet, das einst mal für die Musikbranche Relevanz besaß, weil hier die Major-Plattenfirma EMI ihren Sitz hatte. Doch mittlerweile ist jene längst geschluckt, ausradiert und bloß noch eine Erinnerung an ferne Zeiten, in denen Köln Medienstadt war und Record Companys mächtig. Heute setzt das Stadtmarketing auf den etwas weniger distinguierten Titel „Eventstadt“ – und in Braunsfeld proben in einem dunklen Kellerraum Woman für ihre heiß gehandelte Debütplatte. Die Musik darauf, auf die nicht wenige warten, ist sehnsuchtsvoll abgehangener Poprock mit eingängigen Melodien. Eine Mischung aus The Rapture, Roxy Music und der Nacht an einem See.

Mülheim Asozial

Wer es dreckiger und rechtsrheinischer haben möchte, setzt sich einfach in die Linie 4, ab über die Brücke. Krachende Gitarren und ein treibendes Schlagzeug bestürmen den Hörer, dazu die einprägsame und erfrischend andere Stadtführung durch Köln: „Schon wieder besoffen in der Vier / Mit Kevin, nur mit Dir!“ Wohin die Fahrt dieses Abstechers geht, gibt schon der Bandname vor: Mülheim Asozial. Eine der am meisten gefeierten deutschen Punkbands kommt aus eben jenem Arbeiterstadtteil, das Stück, in dem sich die angetrunkene Straßenbahn-Zeile findet, heißt dabei „Kevin“ – und lässt sich wie die Single von Golf auf den Film „Kevin – Allein zu Haus“ zurückführen. Allerdings versetzen sich jene in den ehemaligen Kinderstar hinein, wohingegen Mülheim Asozial sich mit all denen solidarisieren, die wegen des Booms um den Film Kevin getauft wurden, heute erwachsen sind und mit dem Stigma zu kämpfen haben, jener sei ein Merkmal für Unterschicht. So nah sich die Bands in diesem Moment kommen, so wenig Überschneidungen gibt es sonst. Kölns Musikszene stellt eben endlich keine Monokultur mehr dar, diverse Genres haben sich sichtbar breitmachen können. Mülheim Asozial stehen für Punk, dabei aber neben aller bierigen und behaupteten Härte vor allem auch für Selbstironie – und zwar nicht nur für die ihres Genres.

Sans Gene und die Off-Locations

Nicht weniger extrem und krachig treten Sans Gene auf, dabei verzichten sie allerdings fast gänzlich auf den doppelten Boden der Ironie. Sucht man die queere Riot-Grrrl-Band auf, führt der Weg die Luxemburger Straße runter, vorbei am berüchtigten „Bermuda-Dreieck“ (die drei Clubs Blue Shell, Stereo Wonderland und Prime Club), macht aber noch vor dem architektonischen Brutalismus-Dreieck (Uni-Center, Amtsgericht, Arbeitsamt) Halt. Dort findet sich das AZ, das Autonome Zentrum. Hinter dem Tor erwartet einen bei schönstem Sonnenschein fast eine Filmkulisse von alternativen Freiräumen. Freilaufende Hunde, aus denen Staubwölkchen aufsteigen, wenn man sie tätschelt, eine Fahrradwerkstatt, viele Pfandflaschen – an diesem Ort sieht Köln nicht aus wie Köln, sondern wie das Nach-der-Wende-Berlin in den 90ern. Sans Gene haben hier nicht nur ihren Proberaum, sie sind Teil des Kollektivs. „2018 ist hier allerdings Schluss, dann wird abgerissen“, sagt Schlagzeugerin Alva Blockshot. Immer in Bewegung bleiben, gehört eben dazu, wenn man keine Lobby besitzt.

Musikalisch beziehen sich Sans Gene auf Sleater-Kinney, Hole und L7. Sängerin Ricarda Will blinzelt gegen die tief stehende Sonne: „Wir wissen, wie wichtig es ist, dass Frauen auch auf Bühnen sichtbar sind. Uns hat das immer wahnsinnig viel bedeutet, wir wollen von diesem Empowerment heute etwas zurückgeben.“ Ein verinnerlichtes „Alles muss man selbst machen“ prägt die Band und strahlt dabei weit über die eigene Bühne hinaus. Im AZ finden selbstveranstaltete Konzerte statt – überhaupt scheint hier ein Schlüssel zum Köln der Neuzeit zu liegen. Die vielen neuen Bands der diversen Genres gehen einher mit der spürbaren Zunahme sogenannter Off-Locations, also temporären Nutzungen, semilegalen Party-Reihen, Galerien in privaten Wohnungen, Eroberung von leerstehenden Räumlichkeiten. So spielten Sans Gene parallel zur diesjährigen c/o pop (abseits des offiziellen Programms) im Gold + Beton, einer winzigen wie prosperierenden Spielstätte unter dem Kölner Ebertplatz, die zu einem alternativen Kollektiv gehört, das zu Teilen auch die Baustelle Kalk betreibt. Ebenfalls ein Raum zum Machen, Ausprobieren, Abhängen, um Bands einzuladen, Kunst aufzuhängen, zu saufen – und was eine Szene eben sonst noch so befeuert.

Keshavaras Welt

Keshavara
Keshavara

Ein paar Stadtteile weiter, in einem verwinkelten Proberaumkomplex von Köln-Zollstock, in dem unter anderem auch die Band Von Spar genau wie das Elektronik-Duo Camp Inc. Stücke übt, trifft man Keshav. Der schnurrbärtige Junge mit den indischen Wurzeln trinkt ein alkoholfreies Weizenbier, in den Nullerjahren war er Sänger der Band Timid Tiger. Die aber – passend zum einstigen Köln-Syndrom – trotz Plattenvertrag nie die große Wahrnehmung erreichte. Solo fokussiert sich Keshav nun ganz auf das, was bei seiner Band stets einer der reizvollsten Aspekte war: westlichen Nerd-Pop mit flirrenden indischen Versatzstücken kurzzuschließen – und sich dabei Gäste dazuzuholen. „Mein Solodebüt ist eigentlich ein Bandalbum – von einer riesigen Band mit Musikern aus der ganzen Welt.“ Noch 2016 erscheint die Platte dazu unter dem Namen
Keshavara, dafür hat er jetzt sein eigenes Label gegründet.

Mehr von allem

Kaum ein Genre, das in jenem „Neu Köln“ nicht gerade erblühen würde. Natürlich findet auch der einstig einsame Primus der elektronischen Musik seine Fortschreibung, die Debütplatte von Roosevelt brachte den Wahl-Kölner auf Magazintitelseiten genau wie zu Festivals rund um die Welt. Die vielgebuchte Techno-Produzentin Lena Willikens steht diesen Begehrlichkeiten kaum nach. Selbst im HipHop, dessen Höhenflügen Köln bis dato stets nur von unten zuschaute, tut sich etwas: Der milchgesichtige LGoony genießt bereits jetzt Starstatus in der angesagten Spielart des Trap. Eine dickhosige Variante von Rap mit viel behauptetem Bling-Bling, eigenen Codes, Anglerhütchen und mehr Autotune-Effekt als bei Chers Klassiker „Strong Enough“.

In die USA vielleicht noch mit Big Ballermike

Die kleine Safari nähert sich ihrem Ende, dort allerdings wartet noch einmal eine eindrucksvolle Gestalt. Breite Schultern, eine Vokuhila-Frisur, 80er-Look. Bei Big Ballermike irritiert mehr als nur der Name, er erscheint wie eine Mischung aus Kollegah, dem Fußbroich-Sohn und einem Bösewicht aus „Miami Vice“ – gegen seine Statur wirkt sogar der Berliner Brecher Rummelsnuff wie eine Fee. Die Musik des Hünen klingt dabei nach Großraumdisko, Kunstprojekt und Borderline – gleichzeitig, versteht sich. Big
Ballermike probt dieses musikalische Alleinstellungsmerkmal in den „düsteren Gassen von Nippes“, gepumpt wird allerdings in seinem eigenen Studio in der Kölner Südstadt. Für seine Heimat hat Big Ballermike dabei nur gute Worte in der Sporttasche: „Was wir machen, würde nirgendwo außer in Köln funktionieren, weder Berlin noch Mallorca – jeglicher Inhalt unserer Musik hat immer einen Bezug zu Köln und zum Rheinland. Ich würde hier nie weggehen außer in die USA!“

Schräge Vögel, neue Netzwerke, das Weiterdenken des Sound of Cologne: In keiner anderen deutschen Stadt hat die Musikszene in den letzten zwei, drei Jahren so einen enormen Sprung hingelegt. Sicherlich hat Köln es leicht, da es als Underdog das Feld von hinten aufrollen kann. Doch genau das passiert hier gerade. Hinhören lohnt sich.

Alexander Gehring
Hertha Orth
Hertha Orth