Kraftwerk – Rückkehr Der Roboter


Keine andere Band aus Deutschland hat den Pop stärker beeinflußt als Kraftwerk. Nun gehen die Elektropioniere aus Düsseldorf wieder ans Netz. Auf einer britischen Bühne ebenso wie auf einer neuen Platte. ME/Sounds erzählt die ganze Story.

Wer sich als Fan oder Journalist in den vergangenen Wochen regelmäßig bei der Kölner Zentrale der Plattenfirma EMI Electrola nach den neuesten Aufnahme-Aktivitäten im Hause Kraftwerk erkundigte, bekam immer die gleiche unbefriedigende Antwort zu hören: „Tut uns leid. Wir wissen von nichts. Eine neue Kraftwerk-Platte kann nächsten Monat kommen, genauso gut kann es aber auch noch bis zum nächsten Jahr dauern.“ Eine Auskunft, die verwundert. Schließlich wird das Erscheinen eines neuen Kraftwerk-Albums auf dem hauseigenen Veröffentlichungsplan der EMI und mit einer ganzseitigen Anzeige im Branchenblatt „Musikwoche“ längst für den Monat Juni offiziell angekündigt.

Die Akte „Kraftwerk“ unterliegt also der höchsten Geheimhaltungsstufe. Die Sicherheitsmaßnahme wurde allerdings nicht von der Plattenfirma angeordnet, sondern von den beiden Bandgründern Ralf Hütter und Florian Schneider höchstselbst, die mit einer bewußten Politik der Desinformation ihren Status als geheimnisvolle Gralshüterderelektronischen Popmusik wahren wollen. Seit Anfang des vergangenen Jahres erste Gerüchte über die bevorstehende Veröffentlichung eines neuen Kraft werk-Albums geschürt wurden, glühen die Drähte in Köln. Vor wenigen Wochen wurde zudem überraschend bestätigt, daß die Elektro-Popper am 24. Mai beim jährlichen „Tribal Gathering“-Fest(titel)

RALFHUTTER „Kraftwerk ist keine Band, sondern eine Idee, eine Vision, eine Lebensphilosophie‘ ival nördlich von London als Headliner auftreten werden. Die Gerüchteküche begann überzukochen. So wollte die Musikzeitschrift „SPEX“ aus sicherer Quelle erfahren haben, daß Thomas Bangalter, eine Hälfte des Techno-Duos Daft Punk, vorab ein Tape des neuen Albums von den Herren Hütter und Schneider zum Remix erhalten haben soll. Günther Poecker, Leiter des deutschen Kraftwerk-Fanclubs, erfuhr von EMI UK, daß im Mai, noch vor dem geplanten Festival-Auftritt, eine neue Single sowie vier Vinyl-Maxis mit alten Songs als Club-Promos erscheinen solien. Der „Kölner Express“ vermeldete gar, daß Kraftwerk zum „Tribal Gathering“ in der (längst auseinandergefallenen) Besetzung Ralf Hütter-Florian Schneider-Karl Bartos-Wolfgang Flur auftreten werden. Erst Ende April schickte die Plattenfirma einen gesicherten Lichtstrahl ins Informationsdunkel: Die Kölner teilten feierlich mit, daß Kraftwerk „definitiv an der Fertigstellung ihres neuen Albums, das im September erscheinen soll, arbeiten.“

Aber auch das will noch nichts heißen. Denn die Öffentlichkeitsarbeit und die Veröffentlichungspolitik der Herren Schneider und Hütter war immer schon durchaus eigenwillig. So hatten die Düsseldorfer Elektroniker im Jahr 1983 das geplante Album „Technopop“, das kurz vor der Auslieferung stand, im letzten Moment zurückgezogen. Erst drei Jahre später gingen sie mit einem vollkommen anderen Werk erneut an den Start. Der Kraftwerk-Output der letzten 16 Jahre umfaßt ganze zwei Alben mit neuem Material („Computerwelt“, „Electric Cafe“) und ein Remix-Album („The Mix“). Bei einem seiner seltenen Interviews klärte Ralf Hütter ME/ Sounds-Autor Michael Fuchs-Gamböck im Jahre 1991 über diese ungewöhnliche Veröffentlichungspolitik auf: „Es gab eine Veröffentlichungspause, aber Kraftwerk als Projekt ruht niemals. Das kann es gar nicht, denn dahinter stecken Individuen, die sich völlig damit identifizieren. Wir leben Kraftwerk, und das bedeutet logischerweise weitaus mehr als Konzerte, Videos oder Schallplatten. Kraftwerk, das ist Philosophie, ist Lebenseinstellung!“ Ob man denn in Zukunft von Kraftwerk regelmäßigere Produktionen erwarten könne? „Auf so einen Terminus kann und will ich mich nicht festlegen, in solchen Rastern haben wir nie gedacht. Vielleicht veröffentlichen wir ab

sofort monatlich ein Album, vielleicht mub mdii dui die nächste Platte zehn Jahre warten. Kraftwerk ist keine Band im eigentlichen Sinne, sondern eine Idee, eine Vision, eine komplett in sich abgeschlossene Lebensphilosophie. Wenn ich morgens aufwache und mir die Zähne putze, bin ich Kraftwerk. Und wenn ich nachts im Bett liege und die Augen zumache, bin ich ebenfalls Kraftwerk. Diese Obsession geht soweit, daß ich gelegentlich sogar ‚Kraftwerk träume‘. Aber mit der herkömmlichen Pop-Marketingstrategie hat das ganz sicher nichts zu tun. Ich lasse mich auf die Zukunft nicht festnageln. Dazu ist sie mir zu kostbar.“

Hinter dieser für andere Bands möglicherweise tödlichen Marketingstrategie steckt bei Hütter und Schneider Kalkül. „Die sind ja nicht doof,“ erklärt einer, der es wissen muß: Wolfgang Flur, von 1974 bis 1990 (elektronischer) Kraftwerk-Trommler. „Ralf und Florian wissen ja selber, daß es besser ist, ganz selten mal ein Album zu bringen, damit dann wieder alle Augen darauf gerichtet sind, anstatt mit ihren Produkten den Markt zu überschwemmen. Warum buiueii bie dULti: wegen uer iunie: wenn uie Hiuen genug verkauft haben, haben sie es auch nicht nötig, immer wieder eines nachzuschieben, um die Kasse aufzufüllen. Das ist gar nicht ihre Intention. Ihre Intention besteht einfach darin, klasse Musik zu machen. Und wäre das jemals anders gewesen, wären sie bestimmt nicht so lange am Ball geblieben.“

Wie lange Kraftwerk noch am Ball bleiben werden, wird sich zeigen, wenn die Urväter des Technopop nach ebenso namhaften wie neuzeitlichen Elektronikern wie Daft Punk, Orbital oder Laurent Garnier bei besagtem Rave-Fest in Luton auf die Bühne treten werden. Dann wird sich erweisen, ob die Techno-Pioniere ihren Nachfahren musikalisch gewachsen sind und ob Kraftwerk – als gepflegte Herren um die 50 in korrekten Anzügen-vor einer Meute postpupertärer, zungengepiercter Ecstasy-User bestehen können. Ed Simons von den Rave-Rockern Chemical Brothers meldet seine Zweifel an: „Sie haben wirklich ein paar verdammt wichtige Platten gemacht, und ihre Sounds sind auch heute noch überwältigend. Aber ich bin mir nicht sicher, ob Kraftwerk in den Rahmen des ‚Tribal 6athering‘ passen. Ich weiß nicht, wieviele 18jährige, die ja eigentlich dorthin kommen, um ‚chirpy-cheep-cheep happy hardcore‘ zu hören, sich wirklich für Kraftwerk interessieren.“

Wer sich in Zukunft für Kraftwerk interessieren wird, bleibt ungewiß, sicher ist hingegen, daß sich in der Vergangenheit eine Menge Bands für die vier Technopopper vom Rhein interessiert haben. Seit über 20 Jahren gelten Kraftwerk als Elektronikpioniere – sowohl auf musikalischer wie auch auf technischer Ebene: In ihrem Song „Kling Klang“ von 1971 setzten sie erstmals in der Geschichte der Popmusik ein (selbstgebasteltes) elektronisches Schlagzeug ein-den Ruhm müssen sie sich allerdings mit Sly & The Family Stone teilen, die auf ihrem zeitgleich erschienenen Album „Family Affair“ ebenfalls einen Drumcomputer benutzten. Der Kraftwerk-Hit „Autobahn“ von 1975 gilt als der erste vollelektronische Pop-Song. Ihr 1978er Album „Die Mensch Maschine“ (engl: „The Man Machine“) brachte die Techno-Pop-Bewegung so richtig ins Rollen: In der Folgezeit nahmenunzählige Bands die Vorstellungen Kraftwerks von einem elektronisch-industriellen Popsound auf und entwickelten sie weiter, darunter Depeche Mode, Cabaret Voltaire, Suicide, Simple Minds, Human League, Heaven 17, OMD und DAR Der Kraftwerk-Song „Heimcomputer“ vom ’81er Album „Computerwelt“ markiert den Beginn der Techno/House-Bewegung. „Heimcomputer“ wurde zum meistgesampelten Kraftwerk-Stück. Nicht zuletzt hatten die Düsseldorfer Klangkünstler einen nicht unerheblichen Einfluß auf die EX-KRAFTWERKER WOLFGANG FLUR

aufkeimende HipHop-Szene zu Beginn der 8oer. Im April 1982 erschien die Single „Planet Rock“ von Afrika Bambaataa & The Soul Sonic Force. Dieser weltweite Disco-Hit benutzte die Schlagzeugpatterns des Kraftwerk-Stücks „Nummern“ sowie die Melodie von „Trans Europa Express“ und erschloß den vier Musikern aus Düsseldorf über den Umweg des Samples ein ganz neues Publikum. Schließlich wäre da noch der Einfluß, den Kraftwerk auf Solokünstler wie David Bowie und Iggy Pop hatte, deren Alben in den späten zoern deutlich von Kraftwerk inspiriert wurden. Manche Jünger der deutschen Elektronik-Pioniere, wie etwa Depeche Mode, übernahmen sogar das Bühnenbild ihrer Vorbilder: Drei Männer stehen in einer Reihe vor ihren Maschinen und drehen an Knöpfen. Auch der New Waver Gary Numan C.Cars“) machte sich den roboterhaften Habitus für seine Auftritte und Videos zu eigen.

Das war gestern, wie aber werden sich Kraftwerk anno 1997 den Herausforderungen der mittlerweile auf höchstem Niveau techno-sierten Musiklandschaft stellen? Zumindest bereiten sie sich bestens darauf vor. Ralf Hütter und Florian Schneider besuchen von Zeit zu Zeit den Kölner In-Techno-Club „Liquid Sky“, um sich dort mit eigenen Ohren davon ¿zu überzeugen, welches Niveau die musikalische Konkurrenz inzwischen erreicht hat.