Kunstpause


Zuletzt vertonten sie Literatur und schrieben Ballettmusik, doch jetzt widmen sich Air wieder ganz dem Pop. Behilflich war ihnen dabei Produzent Nigel Godrich.

Die Rückkehr der Chucks ist besiegelt. Sogar ein stilbewusster Musiker wie Jean-Benoit Dunckel trägt beim Interview ein abgelatschtes Paar. Dabei sind die berühmtesten aller Converse-Schuhmodelle nach dem Regelbuch nur für Rock’n’Roller gemacht, nicht für ausgewiesene Elektronikspezialisten. Doch Dunckel stellt seine eigenen Modegesetze auf. Er trägt nämlich auch eine viel zu große dunkelbraune Baskenmütze, dazu ein graues Hemd aus dem Second-Hand-Laden. Auch Partner Nicolas Godin hat ein graues Oberteil an. Der Air-Connaisseur reagiert auf äußere Eindrücke traditionsgemäß sehr sensibel, denn mit Farben hat es bei dem französischen Duo in der Regel etwas auf sich. Auf ihrer ersten Tournee erschienen Dunckel und Godin ganz in weiß, bei der zweiten ganz in Schwarz. Spielt jetzt also der Mischton aus beidem eine Rolle?

Zunächst ein Blick zurück. Bei Veröffentlichung ihres letzten „Popalbums“ 10.000 HERTZ LEGEND vorüber zwei Jahren hatten Air verkündet, sie wollten sich fortan in eine mysteriöse Scheinwelt zurückziehen und weniger berechenbar werden. Diese Ankündigung machten sie in gewisser Weise wahr, indem sie danach ein Album mit dem italienischen Schriftsteller Alessandro Baricco (tre storie western) und (wohl unveröffentlicht bleibende) Ballettmusik für die Aufführung „Near Life Experience“ des frankoserbischen Choreografen Angelin Preljocaj produzierten. In beiden Fällen blieben Air immer schön brav im Hintergrund. „Wir haben es genossen, an diesen sehr langen und atmosphärischen Kompositionen zu arbeiten. Doch wir werden uns niemals ganz aufKunst konzentrieren. Früher oder später ist uns immer nach simpler Popmusik zumute“, erklärt Godin. Air halten sich für unfähig, ständig nur einen Stil zu verfolgen. Nach einem größeren Projekt brauchen sie künstlerische Zerstreuung, um sich besser auf das nächste kommerzielle Album vorbereiten zu können. „Schon beim Sex ist Routine eher hinderlich. Für Künstler ist sie der absolute Albtraum. Routine blockiert jedwede Kreativität. Wenn uns jemand einsperren würde, um schnell ein Hitalbum zu produzieren, käme überhaupt nichts dabei heraus.“Dunckel ergänzt: „Selbst ein Song wie,Sexy Boy‘ wurde nur zufällig ein Hit. Da fehlt es an allern, was normalerweise zählt. Es gibt keinen richtigen Beat, dieSongstruktur ist nur schemenhaft vorhanden. Erfolg kann man einfach nicht planen.“ Mit der Plattenfirma gab es in dieser Frage schon so manchen Dissens. Virgin würde am liebsten nur zugängliche Produktionen veröffentlichen, Air dagegen legen auf Narrenfreiheit Wert. Um die Denkweise einer kommerziell ausgerichteten Firma dennoch verstehen zu können, haben Dunckel und Godin vor drei Jahren ihr eigenes Label Record Makers gegründet, auf dem sie den theatralischen Performer Sebastien Tellier, den amerikanischen Elektronikbastler Arpanet und die französischen Hip-Hopper DSL und Klub Des Loosers veröffentlichen. „Es ist nicht einfach für uns, als Lahelchefs auf Dinge zu achten, die mit der Musik nichts zu tun haben. Andererseits ist das der Preis dafür, wenn man wie wir den Kontakt zur aktuellen Musikszene halten will. Wir haben, seit es das Label gibt, viel gelernt und nehmen die unangenehmen Nebenerscheinungen notgedrungen in Kauf.“

Einem guten Ratschlag von außen sind Air aber nicht per se abgeneigt. Vor allem nicht, wenn er von Nigel Godrich kommt Der von seinen Arbeiten mit Radiohead, Travis und Beck bekannte Soundtüftler gehört schon seit längerem zum Bekanntenkreis der beiden Franzosen. Es war also wahrscheinlich, dass er früher oder später eines ihrer Alben produzieren würde, wie es nun bei talkie wa lkie der Fall ist. Godrich wiederum gilt in der Branche nicht als Abzocker, der pflichtbewußt seinen Job tut und dann verschwindet. Godin kann sich auch denken, warum Godrich mit Air besser arbeiten konnte als etwa mit den Strokes. „Wir sind zu Experimenten bereit, dieStrokes offenbar nicht. Sie wollten dieselbe Platte noch einmal machen. Da frage ich mich dann schon, warum sie Nigel überhaupt engagieren wollten. Sie haben doch eine bestimmte Vorstellung von ihrem Sound, also brauchen sie niemanden, der ihnen neue Wege aufzeigt. „Der Fall Air ist vom Grundsatz natürlich ein anderer. Rockbands schreiben Songs und singen sie selbst. Elektronikbands schreiben Songs, behandeln Musik wie eine Skulptur, benötigen aber oft fremde Sänger. Genau an diesem Punkt hat Godrich eingehakt. Bisher haben meist Gastinterpreten wie Beck, Beth Hirsch

oder Buffalo Daughter den Gesang auf Air-Alben beigesteuert. Auf TALKIE walkie nun singt Dunckel alle Songs. „Nigel hat sich gewundert, warumwirnichtöfierselbstsingen.EristEngländerundfiirihnpersönlich hat der französische Zungenschlag etwas Charmantes. Das hat uns überzeugt und war uns natürlich auch irgendwie sympathisch.“ Der Album titel folgt derselben Eingebung. Für Engländer und uns zum Beispiel heißt das alte tragbare Funksprechgerät Walkie-Talkie, bei den Franzosen dagegen Talkie-Walkie. Das klingt für unsere Ohren ungewöhnlich und amüsant- ein Umstand, dessen sich Air durchaus bewusst sind, wie Godin einräumt: „Es ist nicht so, dass wir auf unsere Herkunft stolz sind. Aber wir haben gemerkt, dass Dinge, die uns völlig normal erscheinen, anderswo ganz anders aufgenommen werden. Wirnehmengewissermaßen eine ausländische Perspektive ein und lachen über uns selbst.“

Das Walkie-Talkie enthält aber auch einen symbolischen Hinweis, der in eine bestimmte zeitliche und musikalische Richtung weist. Walkie-Talkies stehen für eine Ära, in der moderne Technik schon vorhanden, aber noch nicht perfektioniert war. Nun sind Air sicher keine überzeugten Anhänger des antiken CB-Funks, doch bei der Wahl ihres Musikequipments bevorzugen sie häufig ältere Modelle und fördern damit die romantische Vorstellung vom Analogsynthesizer als unverdorbenem Instrument. Was Dunckel bestätigt. „Wir benutzen bei den Aufnahmen schon digitale Quellen. Doch Analoggeräte habenfraglos einen naiven Charakter, den wir schätzen. Naivität istfür uns absolut positiv besetzt. Wir können es akzeptieren, dass wir als Menschen im täglichen Leben gereift sind und uns altersgemäß verhalten. In der Kunst aber hat der Gedanke der ewigen Jugend seinen Reiz. Hier können wir so tun, als ob wir die Dinge mit den Augen von Kindern sehen. Das setzt bei uns eine bestimmte Energie frei und ermöglicht es den Hörern womöglich, in einen Fantasieraum vorzustoßen. „Das Ganze garnieren Air gerne mit musikalischen Referenzen an die Vergangenheit. „Run“ zum Beispiel ist ein Song, bei dem man den Einfluss von iocc’s „I’m Not In Love“ nicht lange suchen muss. „Das ist ganz klar einer unserer Lieblingssongs. Er ist so alt und doch immer wieder so neu. Es hatte uns immer interessiert, mit welcher Technikereinst produziert wurdeNigelmeinte, wir könnten dasselbe Klangprinzip auch mit digitalen Mitteln nutzen. Wir haben in Paris Stimmenloops aufgenommen und diese dann mit dem Fader bearbeitet. Ursprünglich klang der Song sehr kalt, doch Nigel hat dafür gesorgt, dass er nun so warm klingt, wie man ihn hört.“ Das ist beachtlich, denn nicht jeder arrivierte Pop-Act vertraut auf das Votum anderer Leute. Air tun es, und vielleicht ist genau das ein Grund, warum sie aufregender und anders als viele ihrer Zeitgenossen klingen.

Ach ja, die Ausgangsfrage. Das Graue betreffend. Wird diese Farbe bei den anstehenden Konzertterminen tatsächlich ins Auge stechen? „Wir haben noch kernfestes Konzept. Möglich ist, dass uns ein Designer von Christian Dior bei der Gestaltung unterstützt. Es soll kein Rockkonzert werden, mehr eine Art Modenschau, bei der wir elegant und ausdrucksvoll erscheinen.Die Leute verstehen unsere Musik vielleicht noch besser, wenn die Grundzüge klar ins Auge stechen.“ Dunckel und Godin reduzieren sich auf das Wesentliche, bleiben aber trotzdem die sanften Franzosen, deren Musik wie ein klang gewordenes Gedicht von Baudelaire oder Verlaine erscheint und obendrein jeden Grauschleier vertreibt.