Kurt Cobain: Highway to Hell


Er war Boss der größten Band der Welt, Idol einer Generation und ein gequälter Mensch. Dann war Kurt Cobain plötzlich tot. Was ist passiert? Ein Rekonstruktionsversuch, zehn Jahre danach.

Kurt Cobain ist kein gesunder Mann: Zu seinem Magenleiden kommen die Erschöpfung nach dem kometenhaften Aufstieg und private Turbulenzen in seiner Ehe mit Courtney Love; der Konsum diverser Betäubungs- und Rauschmittel tut ein übriges.

Umso überraschter sind Freunde, Kollegen, Interviewer, die Cobain um die Jahreswende

1993/94 treffen: Der 27-jährige Nirvana-Kopf ist optimistisch, clean, trinkt ausschließlich Wasser. Es sieht aus, als hätte er nicht nur das eigene Leben im Griff, sondern auch seinen Frieden mit dem Musikbusiness gemacht. „Ich war in meinem Leben noch nie glücklicher. Ich bin ein viel fröhlicherer Typ als viele Leut es glauben „, erzählt er dem Rolling-Stone-Redakteur David Fricke, der ihn am 23. Oktober 1993 nach einem fürchterlichen Konzert in Chicago trifft – nicht mal der verheerende Sound und die Buh-Chöre können an diesem Dennoch kommt das abrupte Ende der Europatournee mit der Absage des zweiten Münchner Konzerts am 2. März 1994 (wegen Mandelentzündung und Bronchitis) überraschend, nicht nur für Tony Barber und Pete Shelley von den Buzzcocks, die Nirvana im Februar als Vorband begleiteten: „Ich weiß, dass er auf dieser Tour keine Drogen genommen hat“, sagt Barber später. „Er trank Evian-Wasser und sah sehr gut aus.“ Auch Shelley wundert sich, dass Kurt an den „gemäßigten Ausschweifungen“ nach Konzerten nicht teilnahm – nicht einmal am 20. Februar, seinem 27. Geburtstag.

Dann überschlagen sich die Ereignisse.

Cobain reist nach Rom, wo er sich mit Tochter Frances Bean, Courtney und ihrem als „Babysitter“ angestellten Ex-Freund Michael „Cali“ DeWitt im Excelsior-Hotel einquartiert. Courtney kommt direkt von einem Interview mit der britischen Musikzeitschrift Select, in dem sie betont hat, dass sie das Rohypnol, das sie während des Interviews einnimmt, von ihrem Arzt verschrieben bekommen hat: „Es ist wie Valium. Scheiß auf das Prozac-Zeug. Ich bin nicht depressiv.“

Harmlos ist Rohypnol nicht. Das Opiat-Substitut wird gerne als „K.O.-Tropfen“ verwendet; es ist geruch- und geschmacklos und fuhrt in Verbindung mit Alkohol zu Bewusstlosigkeit und Gedächtnisverlust. Tatsächlich kann sich Kurt später, dem behandelnden Arzt Dr. Galetta zufolge, an nichts erinnern, was in der Nacht auf den 4. März geschah. Was genau passiert ist, bleibt unklar. Stimmt es, dass Kurt Cobain plante, nicht nur die laufende Tournee abzusagen, sondern seine Ehe zu beenden, Nirvana zu verlassen und sich aus der Glitzer-Etage des Musikgeschäfts zurückzuziehen, zumindest für die nächste Zeit? Nach einem heftigen Streit mit Courtney bleibt Kurt in seinem Zimmer, wo er eine Nachricht schreibt – die nächste bekannte Tatsache ist ein Notruf nach einem Rettungswagen gegen 6 Uhr 30 morgens. Mit einer Mixtur von Rohypnol und Champagner im Blut wird Cobain ins Krankenhaus Umberto Prima eingeliefert, in tiefer Bewusstlosigkeit – allerdings wird Courtney Love, die Cobain zwischen 3 und 4 Uhr morgens (also über zwei Stunden vor dem Notruf) mit blutender Nase scheinbar tot in seinem Bett gefunden haben will, später erzählen, sie habe gesehen, wie sein Kopf im Ambulanzwagen „wild auf und ab schlug“. Obwohl die Ärzte dringend von einem weiteren Transport abraten, besteht Courtney darauf, dass Kurt ins American Hospital verlegt wird. Die Öffentlichkeit erfährt am Morgen von dem lebensgefährlichen „Unfall‘. Als Kurt erwacht, ist er verwirrt und hungrig und bittet die Ärzte um einen Erdbeer-Milkshake.

Am 7. März wird Kurt aus dem Krankenhaus entlassen, am 12. März kehrt er mit Courtney nach Seattle zurück, in das Haus am Lake Washington Boulevard 171, das den beiden seit einem Jahr gehört (neben einem Anwesen in Carnarion, etwa 25 Meilen östlich von Seattle). Sechs Tage später kommt ein Notruf aus Cobains Haus: Kurt habe sich mit einem Gewehr eingeschlossen, um Selbstmord zu begehen, teilt Courtney mit. Als die Polizei eintrifft, erklärt er den Beamten jedoch, er habe nicht vor, sich umzubringen, sondern lediglich versucht, sich nach einer verbalen Auseinandersetzung von Courtney fernzuhalten; Courtney bestätigt diese Version im Verhör. Kurt händigt der Polizei vier Schusswaffen und Munition aus, beschlagnahmt werden außerdem „unidentifizierte Pillen“. Weitere Turbulenzen folgen: Bei einem Streit am 22. März soll Kurt darauf bestanden haben, dass Courtney das neue Luxusauto (ein Lexus), das sie sich gerade gekauft hat, zurückgibt. Dann ruft Courtney wutentbrannt die gemeinsame Anwältin Rosemary Carrollan: Sie solle ihr „den härtesten, bösesten Scheidungsanwalt“ besorgen, den sie finden könne „Ich habe so laut gebrüllt, dass er mich hären konnte und vielleicht damit aufhören würde, mit der verdammten Knarre rumzufuchteln“, sagt sie später. Kurt hingegen soll mit Carroll über sein Testament gesprochen haben, aus dem er Courtneys Ansprüche streichen möchte.

Außerdem sind bei Kurts „Ausbruchsversuchen“ offenbar wieder Drogen im Spiel. Am 25. März beruft Courtney eine „Versammlung“ ein: Cali DeWitt, Bassist Krist Novoselic, drei Manager und sein bester Freund Dylan Carlson sprechen fünf Stunden mit Kurt. Ob es dabei um eine neue Therapie oder Kurts Plan, die Lollapalooza-Tour abzusagen, geht, wird nicht bekannt. Ersteres ist nicht allzu wahrscheinlich: Cali und Dylan (sowie Courtney) nehmen selber Heroin. Am nächsten Tag fliegt Courtney nach Beverly Hills und quartiert sich im Peninsula-Hotel ein, um Promotion für das kommende Hole-Album zu machen.

Am 29. März erscheint eine Nachricht von Kurt im Internet: „Ich bin immer noch entsetzt über die Sache in Rom und brauche Zeit, um mich zu erholen und darüber hinwegzukommen.“ Tags darauf begleitet ihn Dylan zu Stan Bakers Waffenladen, weil Kurt sich vor „Eindringlingen “ schützen will. Der Verkäufer empfiehlt ein Gewehr für leichte Munition, die nicht durch Wände dringt- ideal für diesen Zweck. Dylan kauft, Kurt zahlt, bringt das Gewehr nach Hause; dann fahren beide zum Flughafen, wo Kurt feststellt, dass er die Munition noch dabei hat. Er gibt sie dem Taxifahrer und fliegt nach LA in die Exodus-Entzugsklinik.

Eigentlich soll die Kur einen Monat dauern, aber am 1. April gegen 19 Uhr erklärt Kurt den Betreuern, er wolle eine Zigarette rauchen, klettert über eine Mauer und kauft sich ein Ticket für den Delta-Flug 788F nach Seattle, Sitznummer 2F (neben ihm sitzt zufällig Duff MacKagan von GunsN’Roses). Er zahlt mit seiner Kreditkarte. Um 20.47 Uhr ruft er Courtney im Peninsula- Hotel in LA an. Sie ist nicht da; Kurt hinterlässt eine Nachricht mit einer Telefonnummer. Am Nachmittag desselben Tages hat Courtneys Freund Joe Mama Kurt in der Klinik besucht und war überrascht: „Ich hatte erwartet, dass er total im Eimer und depressiv wäre. Aber er sah verdammt gesund aus. Nachdem Kurt die Klinik verlassen hatte, rief ich Courtney an, und sie war außer sich. Wir sind in der Gegend rumgefahren und haben ihn überall gesucht. Sie war echt verängstigt.“

Am 2. April um 12.47 Uhr kommt Kurt am Sea-Tac- Flughafen in Seattle an. Linda Walker von Seattle Limousines empfängt ihn und fährt ihn zum Haus am Lake Washington Boulevard, das gut fünf Stunden zuvor ein seltsamer Mann verlassen hat: „Der passte nicht zu dem Anwesen“, sagte der Chef der Taxifirma Gray Top später der Polizei. „Er suchte nach einem Laden, um Patronen zu kaufen, fand aber keinen. Er erzählte dem Fahrer, er sei überfallen worden und brauche Munition.“ Im Haus trifft Kurt Cali DeWitt an; der unterrichtet Courtney per Telefon. Sie reagiert seltsam: lässt Kurts Kreditkarte sperren und berichtet abends der Nachrichtenagentur AP, sie habe eine Überdosis genommen, um Kurt Angst zu machen, damit er sich mir ihr in Verbindung setze. Kurts Versuch, das Haus wieder zu verlassen, scheitert: An seinem Auto sind alle vier Reifen platt.

Am 3. April beauftragt Courtney Privatdetektiv Tom Grant, Kurt zu suchen. Grant wird zu einer Schlüsselfigur der Affäre, denn seine Ermittlungen bringen ihn zu dem Schluss, Kurt sei einem Mordkomplott von Courtney und Cali zum Opfer gefallen – eine These die der Ex-Polizist, der seit 1975 als Detektiv und Sicherheitsfachmann für eine Reihe schillernder Hollywood-Klienten tätig ist, seither offensiv vertritt (siehe seine Webseite www.cobaincase. com). Courtney erzählt Grant von ihrer Befürchtung, Kurt wolle sich scheiden lassen, von der getürkten Überdosis-Story vom Vortag und schimpft, Kurt habe mit der Nirvana-Absage für Lollapalooza Millionen von Dollar verschenkt. Dass Kurt in Seattle ist, verschweigt sie. Vielleicht sei er in den Osten geflogen, um Michael Stipe zu treffen. Am selben Tag gegen 15 Uhr versucht jemand, mit Kurts Kreditkarte 1.100 Dollar abzuheben, vergeblich. Am 4. April um 9 Uhr meldet Courtney Kurt bei der Polizei als vermisst. Dabei gibt sie sich als Kurts Mutter Wendy O’Connor aus (nach US-Recht strafbar) und erklärt, Kurt halte sich in Seattle auf und habe Selbstmordabsichten. Dann sagt sie den ersten Gig der Hole-Tournee ab, um sich, so das Management, „wichtigeren Dingen zu widmen – Gesundheit und Glück ihrer Familie“. Der 5. April wird später bei der Autopsie als Todestag Kurt Cobains festgestellt. Allerdings räumen die Pathologen einen Fehlerbereich von 24 Stunden ein. Möglich also, dass Kurt zum Zeitpunkt der Vermisstmeldung bereits tot war. Am 6. April ruft Courtney die Firma Veco an, die sie tags zuvor mit der Reparatur der elektrischen Anlagen im Haus in Seattle beauftragt hat, und bittet sie, auch das Licht und die Bewegungsmelder im „Gewächshaus“ über der Garage zu überprüfen. Tom Grant bietet an, nach Seattle zu fahren, um nach Kurt zu suchen. Bis jetzt war dort sein Mitarbeiter Ernie Bath tätig. Auf die Frage, ob sie nicht selbst nach Seattle fahren wolle, sagt Courtney, sie müsse sich „hier um geschäftliche Dinge kümmern „, und verabschiedet sich mit den Worten: „Rette die amerikanische Ikone, Tom!“ De Witt hält sich Zeugen zufolge derweil nach wie vor im Haus am Lake Washington Boulevard auf.

Um 11.30 Uhr ist Grant in Seattle, trifft Dylan Carlson und fragt ihn nach möglichen Selbstmordabsichten des Sängers. Carlsons Meinung: „Er steht ziemlich unter Druck, aber er kann gut damit umgehen.“ In der Nacht zum 7. April gegen 2.15 Uhr kommen sie beim Cobain-Haus an; dort ist offenbar niemand. Von einer Telephonzelle aus rufen sie Courtney an und bitten sie, die Alarmanlage abschalten zu lassen, damit sie ins Haus können. Kurz darauf landet Courtney wegen einer „allergischen Reaktion auf eine verschreibungspflichtige Substanz“ im Krankenhaus. Gegen 2.45 Uhr sind Grant und Carlson wieder beim Hausund steigen durch ein offenes Küchenfenster ein. Sie durchsuchen das Haus gründlich, auch die Betten, und finden eine Packung Rohypnol. In DeWitts Schlafzimmer ist das Bett ungemacht, der Fernseher läuft – offenbar hat er das Haus überstürzt verlassen. Ob Carlson, wie von Courtney befohlen, im Gewächshaus nachgesehen hat, ist unbekannt; Grant kennt den Raum noch gar nicht. (Am 11. Mai wird Carlson der Seattle Times sagen, er habe ebenfalls nichts von der Existenz eines Gewächshauses gewusst!) Am Nachmittag des 7. April fliegt DeWitt von Seattle nach LA, um Courtney zu treffen und sie, wie sie später sagt, von dem Vorwurf abzubringen, er schirme Kurt vor ihr ab. Courtney ist unmittelbar nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus wegen Besitz von Drogen und Diebesgut verhaftet und gegen 10.000 Dollar Kaution auf freien Fuß gesetzt worden. Als Carlson und Grant gegen 10 Uhr abends das Haus erneut durchsuchen, finden sie auf der Treppe eine Nachricht von DeWitt an Kurt, die bei ihrem letzten „Besuch ‚ noch nicht da war. Grant glaubt, die Nachricht sei ein Fake; möglicherweise habe DeWitt bereits gewusst, dass Cobain tot war. Gegen 8.30 Uhr am 8. April findet Gary Smith, Angestellter der Elektrofirma Veca, im Gewächshaus die Leiche von Kurt Cobain. Die Polizei trifft um 8.56 Uhr ein und stellt „Heroin-Zubehör“ und ein Gewehr sicher. Kurt Cobain ist durch einen Kopfschuss gestorben, mit etwa 1,52 Milligramm Heroin pro Liter sowie Beruhigungsmitteln in seinem Blut. Die Nachricht vom Tod des Rock-Idols geht binnen Minuten um die Welt. Grant und Carlson sind auf dem Weg nach Carnation, als sie an einer Tankstelle im Radio davon hören. Grant ruft seinen Mitarbeiter Ben Klugman an, der berichtet, noch am selben Morgen habe erneut jemand versucht, mit Kurts Kreditkarte Geld abzuheben. Es ist der letzte Versuch dieser Art, die Kreditkarte bleibt jedoch bis heute unauffindbar. Am frühen Vormittag teilt Vinnette Tichi, Sprecherin der Polizei von Seattle, mit, bei der Leiche sei ein Abschiedsbrief gefunden worden. Noch ehe toxikologische und andere Untersuchungen durchgeführt werden, steht damit die Todesursache Selbstmord zumindest inoffiziell bereits fest. Fünf Tage später sagt Tichi dem Journalisten Richard Lee, neben der Vermisstenanzeige habe auch die Meldung von einem Selbstmordversuch im März zur Überzeugung der Polizei beigetragen. Bei der „Meldung“ handelt es sich um den Anruf von Courtney am 18. März.

Tom Grant ruft noch am 8. April bei der Mordkommissionin Seattle an und äußert sein Unbehagen über die Selbstmordthese. Ein Beamter erklärt ihm jedoch, das Gewächshaus sei von innen versperrt und verbarrikadiert gewesen, die Feuerwehr habe ein Fenster einschlagen müssen, um die Tür zu öffnen, was eine Fremdbeteiligung definitiv ausschließe. Diese Aussage, so stellt sich später heraus, ist falsch: Die Tür war nicht verschlossen, sondern lediglich zugeschnappt, und die angebliche „Barrikade“ ein kleiner Hocker – der auf der entgegengesetzten Seite des Raums vor der Balkontür stand.

Am 14. April zeigt Courtney Tom Grant den „Abschiedsbrief‘, den Grant kopiert. Dabei fällt ihm eine Unstimmigkeit ins Auge: Der lange Text enthält keine Andeutungen einer Lebensmüdigkeit; es handelt sich vielmehr um die schriftliche Bekräftigung von Kurts oft angedeuteten Plänen, aus dem Musikgeschäft auszusteigen. Ganz am Ende des Blatts aber sind vier Zeilen angefügt: „Please keep going Courtney / for Frances/for her Life which will be so much happier / without me … I LOVE YOU. I LOVE YOU“dieser Zusatz ist in einer anderen Handschrift geschrieben. Zwei Graphologen konstatieren „über ein Dutzend auffällige Unterschiede“.

Die Schlüsse, die Tom Grant aus seinen Ermittlungen und Courtneys Verhalten zieht, sind eindeutig: Seiner Meinung nach wollte sie Kurt davon abhalten, sie zu verlassen und sein Testament zu ändern – Vertuschungs- und Verwirrungsmanöver verstärken den Verdacht. Auch die Polizei von Seattle, die sich weigert, Ermittlungen in irgendeiner Richtung aufzunehmen, spielteine wenig rühmliche Rolle. Man behauptet gar, es gebe keine Fotos vom Tatort, da es „nicht üblich“ sei, Selbstmordfotos zu entwickeln. Es ist jedoch gesichert, dass 23 Polaroidaufnahmen existieren, die ein Polizeifotograf unmittelbar nach Eintreffen der Beamten gemacht hat. Zusätzlich erschwert wird Grants Untersuchung, als Detecrive Antonio Terry vom Drogendezernat in Seattle, Courtneys Verbindungsmann zur Polizei nicht nur während der Suche nach Kurt, am 4. Juni 1994 ermordet wird. Außerdem lässt Courtney Jeden, der für mich arbeitet, eine Schweigeverpflichtung unterschreiben, tritt aber selbst mit immer neuen Geschichten von Kurts Selbstmordneigungen an die Öffentlichkeit. In einem Rolling-Stone-Interview im Dezember 1994 auf die Unstimmigkeiten in Cobains „Abschiedsbrief“ angesprochen, sagt sie, sie habe inzwischen einen zweiten Brief gefunden. Die Stellen, die sie daraus zitiert, weisen erneut eher auf Pläne hin, sie und Seattle zu verlassen: „Ich liebe dich, ich liebe Frances… Bitte folgt mir nicht… Ich werde da sein, euch beschützen. Ich weiß nicht, wohin ich gehe, aber ich halte es hier einfach nicht mehr aus.“

Ernsthafte Ermittlungen finden auch nicht statt, als Kristen Pfaff tot aufgefunden wird. Die Hole-Bassistin hatte nach Kurts Tod beschlossen, ihrer Band und Seattle den Rücken zu kehren. Ihr Freund Paul Erickson soll sie am 16. Juni 1994 abholen und wegbringen; gegen 20 Uhr am Abend vorher – ihr Koffer ist bereits gepackt- erhält sie Besuch von Eric Erlandson. Als Paul morgens bei Kristens Apartment ankommt, findet er die 27-Jährige mit einer Überdosis Heroin tot im Badezimmer. Er ruft Notarzt und Polizei, die kurz darauf eintreffen. Courtney Love berichtet später, sie habe „rübergehen müssen und Eric von der Leiche wegzerren „.

Warum Erlandson am Morgen wieder in Kristens Wohnung war und wieso ihn nicht die Polizei „wegzerrte“ … wir werden es nie erfahren. Im Dunkel bleibt auch die verwegene Geschichte des Alkoholiker-Rockers Eldon „El Duce“ Hoke, der 1996 behauptete, Courtney Love habe ihm Ende Dezember 1993 50.000 Dollar geboten, um Kurt zu ermorden, und sei außer sich vor Wut gewesen, als sie ihn bei einem Anruf um den 30. März 1994 nicht an dem verabredeten Ort (einem Plattenladen in West Hollywood) antraf. Hoke unterzog sich am 6. März 1996 einem Lügendetektortest (den er bestand). Die Polizei lehnte es ab, seine Aussage aufzunehmen. Am 19. April 1997 wurde Hoke unter mysteriösen Umständen von einem Zug überfahren und getötet.

Neid, Missgunst und Hass zieht Courtney Love nicht erst seit Cobains Tod auf sich; doch das Bild der ruhmsüchtigen „Nancy Spungen des Grunge“, die sich ohne eigenes musikalisches Talent durch geschickte Schachzüge und Liasionen mit Stars in Charts, Schlagzeilen und die Showbiz-High-Society hineingekeilt hat, ist nicht frei von Widersprüchen. Kurt Cobain war alles andere als ein Heiliger, und eine Frau, die sich darauf einließ, ihn zu lieben und mit ihm zu leben, verdient Respekt und Gehör für ihre eigene Sicht der Dinge. In einem Webchat schrieb sie 2001:

„Kurt hatte den Entzug abgebrochen. Die Pflegerin sagte, er sei zu einer Röntgenuntersuchung gegangen. Eine Röntgenuntersuchung? Ich habe sofort die Klinikleitung angerufen und Eric in Seattle, er soll die Flugpläne checken. Die Arschlöcher bei Exodus wollen nicht .bestätigen‘, dass Kurt weg ist. Ich glaube, Kurt hat sich was besorgt und ein Flugzeug nach Seattle genommen. Duff McKagan war in dem Flugzeug, der Guns-N‘-Roses-Bassist. Sie haben sich zusammen betrunken, und Duff hat ihm einen Fahrer besorgt. Er lehnte ab und nahm ein Taxi. Ich rufe (John) Silva (Kurts Manager; Anm. d. Red.) an: Finde Krist und bring ihn rüber ins Haus. Und besorg mir einen Privatdetektiv. Silva, jetzt ein reicher Mann, sagt: ,Das ist nicht mein job, ruf einen Anwalt an.‘ Ich rufe die Anwältin an, sie ist in Urlaub. Ich rufe den verdammten Hoteiempfang an, hysterisch. ,Wir haben keine Privatdetektive.‘ Ich schlage die Gelben Seiten auf und wähle einfach eine Nummer: Fahr nach Seattle und finde diesen verdammten Kerl! Ich sage ihmgenau, was er zu tun hat; stell einen Mann zum Haus und lass Kurt in Ruhe. Sag ihm, mir ist alles egal, versuch nicht, Dealer vom Haus fernzuhalten, sonst geht er zu ihnen. Fahr nach Carnation und durchsuch jedes Zimmer, Keller, Garage, alles. Der Idiot fährt los, und ich muss die Bullen anrufen, weil er’s nicht tut. Morgens klopft es an der Tür, es ist Eric. ,lch hab gehört, du seist tot und Kurt sei hier.‘ Eric fährt zum Flughafen zurück, ich rufe Niler (einen Dealer; Anm. d. Red.) an, um in Hergottsnamen ein bisschen Stoff zu kriegen, dann meine Schwiegermutter, damit sie auf mein Kind aufpasst. Niler oder jemand von seinen Leuten kommt und gibt mir ein beschissenes bisschen Zeug, das ich nehme, aber es ist Müll, und mein Arm explodiert. Das Zimmermädchen bringt mir Benedryl, ich nehme es, mein Arm schwillt ab, ich packe und lasse Kurts verdammte Kreditkarte sperren, damit er kein Geld mehr abheben kann und mich anrufen muss. Ich rufe noch mal den verdammten Manager an und sage ihm, dass Kurt sterben wird, und er sagt: `Well, momentan gibt es nichts, was wir tun können.’Frage ihn, ob er Krist zum Haus geschickt hat. ,Krist denkt, das ist nicht mehr seine Verantwortung.‘ Klopf, klopf: die verdammten Bullen. Dem Jungen am Empfang ist mein Zustand aufgefallen. Sie legen mir Handschellen an, karren mich in eine Zelle. Und ich sitze da im Polizeirevier von Beverly Hills und sehe einen Blitz in meinem Kopf. Ich kann das nicht erklären, aber ich SEHE es und FÜHLE es und ich weiß es – ich weiß es ich weiß es ich weiß es. Meine Anwältin taucht auf und bringt mich weg. Ich lasse Frances bei ihr, schlafe ein, wache auf und der Fernseher läuft in der Krebsstation im Krankenhaus. Ein Zaunkönig und ein Sperling in einem goldenen Feld- Bilder, die man sieht, während man stirbt. Ich schreie und schreie und denke, es ist eine Oberdosis, weil Eric doch die Gewehre weggebracht hat. Dass es keine Überdosis ist, erfahre ich erst lange nachdem ihr alle wisst, was der Scheißkerl getan hat. Und übrigens, oh ja, ich stimme zu, dass es mich statt ihn erwischen hätte sollen.Wie oft am Tag glaubt ihr wünsche ich mir, tot zu sein?“

Vieles in diesem Fall bleibt ungeklärt, manches wohl für immer. Nur eines steht unverrückbar fest: Kurt Cobain ist tot. Am 10. April 1994 versammeln sich 6.000 Fans vor dem Flag Pavillon in Seattle, um ihn zu betrauern; am 14. April wird sein Leichnam im Beerdigungsinstitut Bleitz eingeäschert (und Gerüchten zufolge zuvor von Angestellten der Firma misshandelt: Courtney Love klagte später, sie hätten die Leiche verkleidet, ihr den Kopf rasiert und mit ihr getanzt, das Ganze auf Video aufgenommen, ihr zugeschickt und, man wagt kaum, es niederzuschreiben, sich am Ende „Souvenirs“ abgeschnitten).

Auch der Ort, an dem Kurt Cobain starb, existiert nicht mehr: Im Mai 1996 hat Courtney Love die zur Wallfahrtsstätte gewordene Garage samt Gewächshaus abreißen lassen. Was überdauert, sind jedoch letztlich weder schreckliche Begleitumstände noch ungeklärte Details, sondern: seine Musik.