Michael Stipe


Intellektuelles Futter für amerikanische College-Kids — so wurden R.E.M. jahrelang herablassend eingeschätzt. Daß ihr spröder US-Folk-Rock durchaus mit den Charts kompatibel ist, bewies die Band aus Athens/Georgia spätestens mit ihrem letzten Album "Out Of Time". ME/Sounds-Mitarbeiter Steve Lake sprach dort mit Sänger und Sprachrohr Michael Stipe.

ME/SOUNDS. Ist Rockmusik nicht ein etwas zu profanes Betätigungsfeld för rier so gescheite junge Männer wie R£.M. ?

STIPE: (Lacht) Oh, ich betrachte mich nicht als Intellektuellen. Ich bin durchschnittlich intelligent, na ja, vielleicht etwas überdurchschnittlich, aber jedenfalls fühle ich mich mit Popmusik ganz wohl. Das einzige Problem ist, daß manche Leute sie viel zu ernst nehmen. Als Medium sind Pop und Rock nach wie vor interessant: Rock kommt von der Straße — und er ist im Laufe seiner kurzen Geschichte so oft aufgestiegen und wieder dorthin zurückgekehrt, hat sich so oft seiner Wurzeln besonnen und wieder verjüngt, daß er eigentlich noch ganz gesund sein muß. Ich finde nicht, daß Rockmusik grundsätzlich unterbelichtet ist. Man kann Ideen damit transportieren, die durchaus Gehalt haben.

ME/SOUNDS: Andererseits gibt es viele Songs, die unter der Last gut gemeinter Slogans fast zusammenbrechen …

STIPE: Genau, und deswegen hielten wir es für angebracht, ein Album mit Liebesliedern zu machen. Das ist jedenfalls die Idee hinter OUT OF TIME: die Welt eine Weile mit meinen Slogans zu verschonen und mich nicht selbst als „Der Politische Songwriter“ abzustempeln. Trotzdem finde ich, daß politisches Engagement von Musikern keine schlechte Sache ist. Naturlich kann man in drei Minuten keine profunden Aussagen machen: man ist gezwungen, sich simplifizierend auszudrücken. Aber wenn Pop dazu beiträgt, das allgemeine Interesse auf ein wichtiges Thema zu lenken, finde ich das in Ordnung. Und deshalb halte ich Zynismus oder Kritik selbst bei den Künstlern nicht für angebracht, die ganz offensichtlich nur einem Trend hinterherrennen.

ME/SOUNDS: Ist deine Meinung jemals durch etwas beeinflußt worden, das ein Popmusiker gesagt oder gesungen hat?

STIPE: Ja, es gibt Leute, die starken Einfluß auf mein Denken haben — entweder durch persönliche Begegnungen und Gespräche oder durch ihre Musik und ihr Handeln. Als wir anfingen, unsere politischen Überzeugungen ein bißchen deutlicher zu artikulieren, hatten wir keine Ahnung, daß es in der Welt solch drastische Informationsunterschiede gibt. Die meisten Menschen sind so mit ihren Alltagsproblemen beschäftigt, daß sie keine Zeit haben, sich über Umweltfragen auf dem laufenden zu halten. Das bedeutet aber nicht, daß sie sich nicht dafür interessieren! Und deshalb sind es genau diese Leute, an die ich mich heute wende.

Trotzdem ist es manchmal merkwürdig: Als unsere Platten kommerziell erfolgreich wurden, riefen mich auf einmal jede Menge Zeitschriften an, die zu jedem nur denkbaren Umweltthema einen Kommentar wollten. Du wachst eines Morgens auf und bist „politischer Aktivist“. Das bringt eine gewisse Verantwortung mit sich. Wenn die Leute von dir kompetente Antworten erwarten, mußt du wissen, worüber du redest — und von da bis zur Lektüre von Berichten über Giftmüllbeseitigung im Bandbus ist es nur noch ein kleiner Schritt…

Um auf deine Frage zurückzukommen — die Leute, die mich am meisten beeinflußt haben, waren Natalie Merchant (Sängerin von 10.000 Maniacs), Billy Bragg und Peter Garrett (Midnight Oil). Besonders Peter hat Jefferson (Holt, Manager von R.E.M.) und mir klar gemacht, daß man ein Büro wie unseres als eine Art Nachrichtenbörse nutzen kann. Wir liefern Informationen über Greenpeace, haben den Boykott des Exxon-Konzerns unterstützt, der für die Ölpest in Alaska verantwortlich ist…

Was noch? Wir werben für Recycling, die Erhaltung historischer Gebäude und vieles mehr. Ich hänge diese Arbeit nicht an die große Glocke. Wir wollten nur ein bißchen mehr als einen der üblichen Fan-Clubs. ¿

ME/SOUNDS: In Klischees denkende Kritiker werden vermutlich behaupten, daß Rockmusiker anarchistische Desperados sein müssen und keine guten Staatsbürger…

STIPE: Das ist ziemlich abgedroschen, würde ich sagen. Ab und zu mach ich auch Urlaub von meinem Image als Musterknabe. (Lachi) Und. wie gesagt, ich fange an, mich ein bißchen von meiner „politischen Identität“ zu distanzieren. Man braucht soviel Energie, um ständig über die Sorgen und Probleme der Welt inlormiert zu sein.

iMil dünnem Stimmchen) Ich bin Sänger, verstehst du? Manchmal möchte ich einfach nur Unsinn schreiben. ME/SOUNDS:

So wie „Shinv Happv People“?

STIPE: Ja, das ist ziemlich absurd. Ich versuche dauernd, glückliche Songs zu schreiben, aber das ist verdammt schwer.

Traurige Songs sind ein Kinderspiel. Auf einer Schwierigkeitsskala von eins bis zehn würde ein trauriger Song etwa bei fünf rangieren und ein glücklicher bei elf. Auf „Shiny Happy People“ bin ich richtig stolz. Als wir das Video drehten, habe ich mir mit der Präsentation besonders viel Mühe gegeben, um zu zeigen, daß der Song nicht ironisch gemeint ist. Es wäre einfach, so etwas mit einem Augenzwinkern zu spielen, aber genau das wollte ich nicht.

ME/SOUNDS: Kennst du irgendwelche „Shiny Happy People“?

STIPE: Na klar! (Lacht) Viele. Du nicht?

ME/SOUNDS: Nicht in München.

STIPE: Optimisten sind in Europa rarer gesät als in Nordamerika. Keine Ahnung warum. Du hättest bei den Dreharbeiten für das Video hier in Athens dabei sein sollen. Alle haben sie getanzt — jung und alt, schwarz und weiß, dick und dünn. Es war wirklich schön.

ME/SOUNDS: Warum habt ihr solange gebraucht, um euch außerhalb Amerikas zu etablieren?

STIPE: Das hat mehrere Gründe. Erstens haben wir zehn Jahre damit verbracht, durch die Bars, Clubs, Hallen und Stadien Amerikas zu touren. Wir sind einfach nicht so oft nach Europa gekommen, wie wir eigentlich wollten.

Der andere Grund war der nicht gerade phänomenale Vertrieb, als wir noch bei der kleinen Firma IRS waren. Ausschlaggebend für unseren Wechsel zu Warner Brothers (WEA) war, daß die unsere Platten viel besser weltweit vertreiben können. Und darüber sind wir wirklich froh. Nicht wegen des kommerziellen Erfolges, sondern weil es uns überhaupt nicht behagt hat, als rein amerikanisches Phänomen angesehen und abgetan zu werden.

ME/SOUNDS: 1986 habt ihr auf LIFE’S R1CH PAGEANT radikal mit alten Sound-Gewohnheiten gebrochen. Es scheint, als wärst du erst auf diesem Album zum Lead-Sänger geworden. Bis dahin war der Sound manchmal so schwammig, daß deine Stimme kaum zu hören war. Was war die Ursache?

STIPE: Vor allem mehr Selbstbewußtsein. Ein Wendepunkt waren aber auch die drei Songs, die ich ’85 mit den Golden Palominos (Der Gruppe des Schlagzeugers Anton Fier) für VISIONS OF EXCESS machte. Ich hatte mich so an R.E.M.s schwirrenden, nebulösen Sound gewöhnt, daß die Vorstellung, die Stimme ganz in den Vordergrund zu setzen, irgendwie beängstigend war. Ich fühlte mich geradezu nackt. Aber nach einer Weile fing es an. mir zu gefallen, und ich brachte die Idee zu R.E.M. zurück.

ME/SOUNDS: Von vielen preisgekrönten Videoclips abgesehen, habt ihr auch einen „Tourfilm“ gedreht, der allerdings kein allzu positives Echo fand. Die Kritiker meinten, du hättest aus R.E.M. eine Michael-Stipe-Show gemacht…

STIPE: (Tiefer Seufzer) Das liegt mir im Magen, und dabei war es überhaupt nicht meine Absicht. Ich bin tatsächlich viel zu oft im Bild. Der Grund dafür ist, daß wir zu wenig verwendbares Material von den anderen Bandmitgliedern hatten. Wenn du dir den Film genau anschaust, wirst du feststellen, daß beinahe jede Aufnahme von Mike, Bill und Peter in Zeitlupe kommt, um sie so lang wie möglich zu machen. Wir hatten einfach nicht genug Licht auf der Bühne. Wir wollten die Aufmerksamkeit nicht durch Riesenscheinwerfer von der Show ablenken. Das Resultat war, daß außer mir nur die Kulissen einigermaßen gut rauskamen. Mike und Peter wanderten ständig aus dem Scheinwerferlicht. Und (Gast-Gitarrist) Peter Holsapple bestand ohne weitere Begründung darauf, im Dunkeln zu spielen. Er weigerte sich strikt, irgendwelches Licht an sich heranzulassen. Was konnte ich da tun?

ME/SOUNDS. Mal eine triviale Frage: Warum trägst du auf der Bühne dieses starke Augen-Make-up?

STIPE: Naja, weil Sonnenbrillen immer runterfallen, wenn du tanzt und schwitzt. Mit dem Makeup fühle ich mich einfach wohJer. Wie mit einer Maske. Es ist leichter, auf die Bühne zu steigen, wenn man eine Maske trägt. Mit dem weißen Anzug ist es das gleiche. So ein Ding würde ich normalerweise niemals tragen — höchstens als Eisverkäufer. Ich fand den Anzug potthäßlich, aber Weiß reflektiert das Licht sehr gut, und man konnte die Filmsequenzen und Dias darauf sehen. Außerdem gewinnt man in Weiß leichter die Aufmerksamkeit der Leute auf den Rängen. Er hatte also seinen Sinn, dieser Anzug, obwohl ich ihn haßte.

ME/SOUNDS: Maja, gegen Ende der Show hast du dich ja — in klassischer Popstar-Manier — sowieso der meisten Bestandteile entledigt …

STIPE: Richtig. Ich hatte meine Grunde.

(Sarkastischer Unterton, gepaart mit heftig aufund abzuckenden Augenbrauen) Was wäre ¿

Rock „n‘ Roll ohne ein bißchen nackte Haut?

ME/SOUNDS: Die anderen R.E.M.s haben mir erzählt, daß sie hei deinen Texten Veto-Recht haben, daß sie auch mal etwas ablehnen können. Passiert das eigentlich oft?

STIPE: Oh ja. in der Tat. (Lachi) ME/SOUNDS: Bist du dann nicht unweigerlich eingeschnappt?

STIPE: Nein, nie. Wir arbeiten viel mehr zusammen, als die Rockpresse wahrhaben möchte. Die Songs entstehen im Kollektiv, die anderen sehen, wie sich die Texte entwikkeln, und wenn sie meinen, ich wäre auf der falschen Fährte, dann sagen sie mir das auch. Andersherum ist es genauso: Wenn mir eine Harmoniefolge oder ein Rhythmus nicht gefällt, kann ich partout keinen Text dazu schreiben.

Bei „Shiny Happy People“ hatte ich das entgegengesetzte Problem — mir gefiel die Gitarre so gut, daß mir ein Instrumental zuerst lieber gewesen wäre. Wenn ich jemals selbst Musik produzieren und arrangieren sollte — für ein Solo-Projekt —, würde ich wahrscheinlich gar keine Worte einsetzen. Und wenn, dann wären es eher Klangströme als Texte im landläufigen Sinne. Ich denke oft, daß Worte irgendwie Sand ins Getriebe bringen. Der Sänger zwingt seine Persönlichkeit und seine Erzählungen in eine Musik, die vielleicht besser… rein bleiben sollte. Ich kann das nicht richtig erklären.

Laß es mich so sagen: Du kannst eine Band mögen, obwohl du den Gitarristen oder den Drummer nicht gerade begnadet findest, aber könntest du sagen: Ich liebe diese Platte, aber der Sänger ist Scheiße? Ich glaube nicht, daß das möglich ist, weil die Persönlichkeit des Sängers automatisch und zwangsläufig im Mittelpunkt steht.

Ich würde gerne versuchen, Musik zu machen, die nicht derart abhängig ist von diesem notwendigerweise egozentrischen „Leadsänger“-Syndrom. „Endgame“ auf OUT OF TIME war vielleicht ein erster Entwurf für dieses Konzept, mein erster Versuch, ohne Worte zu improvisieren. Man würde zwar von allein nicht drauf kommen, aber dieses Stück wurde durch die Vokalmusik von Arvo Part (estnischer Komponist) inspiriert, obwohl es so klingt wie Kirchenmusik mit einer Prise Country. Im Moment höre ich Part, wo ich gehe und stehe.

ME/SOUNDS: Du hast angedeutet, daß es Musik gibt, die du gerne machen würdest, bei R.E.M. aber nicht verwirklichen kannst. Wilbi du damit sagen, daß R.E.M.s Stil irgendwie begrenzt ist?

STIPE: Ganz sicher, ja. Es gibt ein gewisses Quantum an Flexibilität, aber der Sound und die Identität von R.E.M. sind durch die bisherige Arbeit klar definiert.

ME/SOUNDS: Warum kannst du diese Regeln nicht brechen — du hast sie ja schließlich selbst mit aufgestellt.

STIPE: Weil R.E.M. nun mal nicht die Michael Stipe Band ist. Ich bin nur eine Stimme in einem sechsköpfigen Kommittee, zu dem außer Peter, Mike, Bill auch noch unsere Manager gehören. Das frustriert mich aber ganz und gar nicht. Außerdem bin ich sicher, daß wir niemals so erfolgreich geworden wären, wenn ich in der Vergangenheit das Sagen gehabt hätte. Die anderen Jungs haben wahrscheinlich einen sehr viel besseren Pop-Instinkt als ich.

Jeder von uns verspürt ab und zu den Drang, etwas außerhalb der Gruppe zu machen, und meine Bedürfnisse sind sehr weit gesteckt. Wenn ich in meiner T. Rex-Stimmung bin, singe ich zum Beispiel bei den Chickasaw Mudd Puppies. Und Peter jammt sowieso am laufenden Band, mit allen möglichen Leuten. Er kann einfach nicht aufhören.

ME/SOUNDS: R.E.M. sind in letzter Zeit mit Video-Preisen ßrmlich überschüttet worden. Ist das nicht ein bißchen merkwürdig, wo ihr „R.E.M. Succumbs“, euren ersten Video-Sampler, mit den Worten eingeleitet habt: „Was ihr im folgenden seht, ist ein repräsentativer Querschnitt einer veralteten Kunstform“?

STIPE: (Grinst) Wenn du mit R.E.M. sprichst, bekommst du vier verschiedene Meinungen über den Wert von Videos zu hören. Ich bin ein Film-Freak. Ich habe an der Universität Filme gedreht und führe zusammen mit ein paar anderen Leuten eine kleine Produktionsfirma, C-Hundred Film Corp, die unter anderem Musikvideos für R.E.M. und andere Bands macht. Meine Einstellung ist folglich völlig anders als die von Mike, Peter und Bill.

Man kann gegen die ersten R.E.M.-Videos wahrscheinlich eine Menge einwenden, was ihre PR-Qualitäten anbetrifft. Aber selbst auf „R.E.M. Succumbs“ gibt es ein paar gute Sachen. Das lange Video zum Beispiel, das Jim Herbert zu RECKON1NG gemacht hat. Wir stolpern darin zwar etwas belämmert herum, aber es ist immerhin die umfangreichste Dokumentation von Bill Millers Skulpturen. {Bill Miller ist ein Folk-Art-Künstler aus Georgia.) Und obwohl die Videos noch sehr experimentell waren, haben wir sogar Bon Jovi damit von der Spitze der Video-Charts vertrieben. (Lacht) ‚ Ich glaube, wir spielen heute nicht nur besser, sondern ‚. wir machen auch bessere Videos. Ich finde Videos durchaus interessant, und schließlich muß man sie ja nicht unbedingt auf MTV trimmen. Ich denke, man kann die Beschränkungen dieses ‚ Mediums genauso als Herausforderung an-; sehen wie die Beschränkungen der Drei-Minuten-Single. Alles andere ist ohnehin brotlose Kunst.