Popkolumne, Folge 46

Mit Gurr, Odd Couple und Paris Hilton: Die Popwoche im Überblick


Die Jahresrückblicke sind geschrieben, die Geschenke eingekauft. Zeit für unsere Kolumnistin Julia Lorenz, sich eine der Bands des Jahres nochmal live zu geben, sich über ein neues Video zu freuen und sich an, äh, die Musik von Paris Hilton zu erinnern. Frohe Feiertage!

Irgendwie auch nett, das Popjahr mit ein paar kleinen, feinen, guten Nachrichten beschließen zu können. Unser liebster Silberrücken Kollegah kassierte beim Gericht eine Absage mit seinem Wunsch, man möge einen Podcast, in dem es um eine kritische Recherche zu seinem „Alpha“-Mentoring-Programm geht, doch bitte löschen. Die ewig unterschätzte Mariah Carey steht mit ihrem (ein Vierteljahrhundert alten) Weihnachtshit „All I Want For Christmas Is You“ erstmals an der Spitze der „Billboard Hot 100“. Und immer dran denken: Es gibt seit vergangenem Jahr ein Weihnachtsalbum von William Shatner, das allen Ernstes SHATNER CLAUS heißt und eine grandios bescheuerte „Jingle Bells“-Version mit Henry Rollins enthält. Thank me later.

Was uns 2019 alles angetan hat: Linus Volkmann reicht seinen Kritikern die Hand (und die Pistole)

Konzert der Woche: Gurr

Vor den ersten Akkorden das bekannte, geliebte Geklingel, das einen sofort an Kindheit, Weihnacht und bessere Zeiten denken lässt: Ein süßer Twist, dass Gurr ihr Konzert allen Ernstes mit der Titelmelodie von „Harry Potter“ beginnen. Andreya Casablanca und Laura Lee Jenkins sind ins Berliner Columbia Theater gekommen, um uns zum Jahresabschluss noch einmal zu demonstrieren, was sie von so vielen anderen Bands unterscheidet, die sich ihren Reim auf Garagenrock und Postpunk machen: Gurr referenzieren sich, von den jangelnden Gitarren im Auftaktsong „She Says“ über ein rabiates Cover von Nirvanas „Territorial Pissings“, stilsicher durch die Musikgeschichte, verorten sich und ihr Schaffen aber klar in ihrer Generation. Nach der Harry-Potter-Ouvertüre suchen Gurr nach „Muggel“ im Publikum, singen Gwen Stefanis „Hollaback Girl“ mit dem Publikum und führen ein Tänzchen auf, das sie „auf TikTok gefunden haben“.

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Aber irgendwie ist es seltsam: Obwohl von der Setlist bis zu den Zwischenansagen alles liebevollst und liebenswert ist, scheinen Gurr und ihr Publikum am Anfang zu fremdeln. Ausgerechnet in Berlin, vielleicht aber auch: gerade in Berlin. Schließlich haben sie in den kleinsten Clubs der Stadt begonnen, sind aber längst zum internationalen Phänomen gereift. Mit ihren Raver- und Shag-Frisuren sehen Gurr mittlerweile gründlich glamourisiert aus; die Rockstar-Gesten sitzen. Ein wenig fühlt es sich an, als kämen zwei Weitgereiste an Weihnachten in die Heimatstadt – und müssen beim Glühweintrinken mit den ehemaligen Mitschülern erst einmal tastend abgleichen, wie viel man sich noch zu sagen hat. Als Andreya sich bei ihren Freunden, die Teil der Crew geworden sind, für die jahrelange Unterstützung bedankt, passiert’s schließlich: Die Tränen fließen. Und mit ihnen, so scheint es, verfliegt auch die Anspannung. Gurr spielen furiose Coverversionen und den Titelsong ihres Debüts IN MY HEAD, Andreya lässt sich vom Publikum auf Händen tragen. Schön und seltsam berührend, vor den Feiertagen, die trotz aller Harmoniewünsche so viel Konfliktpotential bergen, noch einmal vorgesungen und -performt zu kriegen: Das mit dem Nachhausekommen kann so wunderbar sein.

Video der Woche: Odd Couple – Fahr ich in den Urlaub rein

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Endlich: die Ehrenrettung des Schlapphuts. Und endlich neue, trippige Musik von Odd Couple. Die besten (und eigensinnigsten) 70er-Jahre-Rockerbe-Verwalter, die Deutschland gerade zu bieten hat, sind am Flughafen von Madrid und tun: nichts. Außer versuchen, nicht zu lachen – wobei sie kurioserweise demonstrieren, dass Gitarrenmusik und Humor keine Kombination aus der Hölle sein müssen.

Verkannte Kunst: Paris Hilton

Googeln Sie mal „Nullerjahre“. Die Bildauswahl, die der Algorithmus Ihnen präsentiert, schlagen in ihrer Präzision jeden Feuilletonbeitrag: Neben einem Foto von 9/11, dem Trauma des Jahrzehnts, findet man Bilder von einem Steißbeintattoo, Anastacia mit getönten Brillengläsern, Britney Spears und Justin Timberlake im All-Denim-Look – und, ganz wichtig, natürlich Hotelerbin Paris Hilton. Obwohl Hundefan Hilton zu jener Zeit die TV- und Popkultur im Würgegriff hatte, hat man mittlerweile fast vergessen: Ja, auch sie hat mal was gesungen.

Im Video zu ihrem Song „Stars Are Blind“ stakst sie in Glitzerkram an einem tropischen Strand herum und lässt sich von einem Typen mit Fedora fotografieren, bevor sie schließlich im Leoprint-Bikini mit einem anderen Model wild rumschmusen darf. Paris Hiltons Ferienschlager ist das Musikvideo gewordene „Impuls“-Deo mit Vanilleduft, der Cherry Lipgloss unter den Sommerhitversuchen, ein fett beringter, solariengebräunter, ausgestreckter Mittelfinger in Richtung des angeblich guten Geschmacks. Und nicht zuletzt: Dokument einer Zeit, in der Pop noch poppig aussehen durfte und sich seiner Campiness bis Kitschigkeit nicht schämte.

https://youtu.be/FYLon-rki10?t=32

Zu Julia Lorenz‘ Popkolumnen-Jahresrückblicksspecial:

Jahresrückblick: Was wir 2019 gelernt haben (Popkolumne-Sonderedition)

Was bisher geschah? Hier alle Popkolumnentexte von Julia Lorenz und Linus Volkmann im Überblick.