Konzertkritik

Morrissey live in Berlin: „Doch, doch, ihr liebt Angela Merkel“


Morrissey spielte am 11. Oktober 2017 im Rahmen der Arte-Concert-Reihe „Berlin Live“ ein exklusives Konzert – und jammerte über Merkel-Lämmchen und die Single-Charts.

Das Konzert hat exakt einen spannenden Moment. Zwischen zwei Liedern überlässt Morrissey dem Publikum das Mikrofon, genauer gesagt: einem weiblichen Schreihals aus der ersten Reihe. „Fuck AfD, fuck these german Nazis, get out of our parliament“, ruft die Frau unter Jubelstürmen ins Publikum, einige Besucher stimmen mit „Antifascista!“-Bekundungen ein. Hier bietet sich nun also die Chance für Steven Patrick Morrissey. Die Chance, sich etwas von seinen kruden politischen Ansichten zu distanzieren, wenn ihnen nicht sogar gleich zu entsagen.

Er, der schon in den 80ern mit der Symbolik der faschistischen National Front spielte, hatte in den vergangenen Monaten wiederholt den Brexit-Vater Nigel Farage einen „fortschrittlichen Freiheitskämpfer“ genannt, die ultra-rechte Französin Marine Le Pen als die eigentliche Siegern der Präsidentschaftswahl deklariert und eine Verschwörung zu Ungunsten der Ukip-Politikerin Anne Marie Waters herbei fabuliert. Morrissey jedoch versucht sich durch subtiles Establishment-Bashing aus der für ihn ungünstigen Situation zu retten: „Ihr liebt also Angela Merkel. Ihr liebt sie doch, oder? Tut doch nicht so rebellisch. Doch, doch, ihr liebt Angela Merkel.“

Nur ein kurzer Blick in die Vergangenheit

Auch die restliche Stunde, die Morrissey im Rahmen der Berlin-Live-Konzertreihe des deutsch-französischen Kultursenders Arte im Neuköllner SchwuZ füllt, lässt sich als vertane Chance zusammenfassen. Er verpasst es, den Zuschauern des Livestreams, die nicht zu den Anhängern seiner beinahe paramilitärisch agierenden Moz-Army gehören, ins Gedächtnis zu rufen, was für einen großartigen Backkatalog er in seiner 35-jährigen Karriere erschaffen hat. Zwar lässt er die Fans direkt zu Beginn mit „Alma Matters“ und „Speedway“ euphorisch jauchzen, doch dies sollen die einzigen beiden Songs aus der Hochzeit seiner Solo-Karriere bleiben. Stattdessen gilt es an diesem Abend einer Setlist des ergrauten Morrissey der 2000er beizuwohnen.

Zwischen all den neuen Songs seines kommenden Albums LOW IN HIGH-SCHOOL, das er mit dieser exklusiven Show bewirbt, gibt es gleich drei Lieder seines vergangenen Werks WORLD PEACE IS NONE OF YOUR BUSINESS („Istanbul“, „World Peace Is None Of Your Business“, „The Bullfighter Dies“) und eine Spitze gegen sein Publikum: „Unsere neue Single kriecht langsam die Charts hoch. Platz 168 im guten alten England. Du stehst immer hinter mir – mit der Schrotflinte.“ Morrissey ist eine Diva vom alten Schlag, jemand, für den die Charts immer noch der Ort sind, an dem – wortwörtlich – die Musik spielt. Morrissey vergisst in seinem mit dem Alter nur noch giftigeren Zynismus nicht, dass sein ehemaliges Label Harvest ihn während des Releases von WORLD PEACE IS NONE OF YOUR BUSINESS 2014 fallen ließ und ihm so den Einstieg in die von ihm so heiß geliebten Top 40 vermieste.

Vielleicht gelingt es ihm mit LOW IN HIGH-SCHOOL, die Charts wieder zu erklimmen. Man kann über seinen ewigen Compagnon Boz Boorer denken was man will, aber dem als hemdsärmeligen Sidekick belächelten Musiker ist es auch diesmal gelungen, der oftmals recht ungelenken Prosa Morrisseys die passenden Melodien auf den Leib zu schneidern. Sei es im donnernden „My Love, I’d Do Anything For You“ oder der Vorab-Single „Spent The Day In Bed“, die erst nach vermehrtem Hören ihr ganzes Potenzial auszuschöpfen vermag.

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Doch genau dieses „Spent The Day In Bed“ unterstreicht die Krux, die sich allmählich ins Schaffen Morrisseys schleicht. Den Chorus „Stop watching the news!/Because the news contrives/ to frighten you/To make you feel small and alone/To make you feel that your mind isn’t your own“ kann man gut und gerne als resignierte Beobachtung auf die aktuelle weltpolitische Lage, mit all ihren Katastrophen und Verbrechen, lesen – oder eben als Abrechnung mit den „Systemmedien“ und der „Lügenpresse“, denen wir arme Lämmer (ein lyrisches Bild, das Morrissey nur zu gerne bedient) nahezu hilflos ausgeliefert sind.

Nach einer guten Stunde lässt Morrissey einen mit solchen Fragen zurück. Zum Abschluss platziert er noch rasch die für ihn wichtigste Botschaft („Meat Is Murder“) und spielt noch ein nettes Pretenders-Cover („Back On The Chain Gang“), bevor er mit etwas Zögern und einem exaltierten Schweißabwischen die Bühne verlässt. Dieser heutige Promo-Stunt scheint harte Arbeit für ihn gewesen zu sein. Mit 58 Jahren etwas kürzer zu treten, wird für Morrissey, der seine Krebserkrankung vor drei Jahren mit einem lapidaren „If I die, then I die, if I don’t, then I don’t“ verkündete, keine Alternative darstellen. Der alte Mann hat schlichtweg die ungebrochene Hoffnung, uns irgendwann allen die Augen zu öffnen.

Ihr könnt euch Morrisseys Konzert noch bis heute Abend auf der Website von Arte Concert anschauen – und hier könnt ihr nachlesen, wie uns Morrisseys Berlin-Konzert im Sommer 2016 gefiel: