Kritik

„My Salinger Year“: Die 70. Berlinale startet mit Retro-Feeling


Der Eröffnungsfilm auf dem diesjährigen Filmfestival in Berlin feiert eine alte Liebe: die zu Büchern. Ganz konkret die zu „Der Fänger im Roggen“.

Das ist sicher kein Beginn mit einem Knall. Eher ein Soft-Start für diejenigen, die in letzter Zeit eher Netflix-Serien gebingt haben und nun langsam wieder an das konzentrierte Filmgucken herangeführt werden müssen. „My Salinger Year“ ist der ideale Film dafür. Mit viel Retro-Charme, bekannten Gesichtern und einem Ober-Thema (J. D. Salinger! „Der Fänger im Roggen“!), von dem jeder schon mal irgendwie gehört hat.

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New York, 1995: Alles fängt mit Joanna Rakoff (überragend von Margaret Qualley gespielt) an. Die hat gar keine Lust mehr auf ihr Studium, will viel lieber direkt rein ins echte Leben und sich als Autorin in der City beweisen. Doch erst mal muss sie Geld verdienen, um sich überhaupt eine Wohnung in der Großstadt leisten zu können. Bei der Literaturagentin Margaret (Sigourney Weaver) bekommt sie schließlich eine Stelle als Assistentin. Einer ihrer Job: Sie soll generische Antwortschreiben auf die Fan-Post für J.D. Salinger tippen. Eine Arbeit, die ihre mit der Zeit immer mehr missfällt. Denn auf ehrlich emotionale Momente der Briefschreiber*innen hat Joanna mit vorgefertigten Texten von 1963 zu reagieren. Ihr Wunsch, selbst kreativ und in der Metropole als Schriftstellerin tätig zu werden, gerät im Laufe ihres Aufenthalts im Big Apple weitestgehend in den Hintergrund.

Eine Feier des geschriebenen Wortes

„Bist Du eine Autorin? Dann schreibe jeden Tag. Mindestens für 15 Minuten an jedem Morgen.“ So der Rat, den besagter Salinger Joanna übers Telefon mit auf den Weg. Diese atmet erst mal nur schwer und vielsagend aus, weil sie eben nicht einmal das gemeistert bekommt. Aber tatsächlich schafft es die Verfilmung von Rakoffs Zeit bei der Agentur genau aus diesem Satz einen Aufruf zu machen. Dem nachzugehen, zu dem man sich berufen fühlt. Was sich besser anfühlt, als alles andere, was man so machen könnte. Und Joannas Drang ist groß, ihr Gespür für die richtigen Worte deutlich vorhanden.

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So macht es auch so viel Spaß ihr bei der Entdeckungsreise durch das New York der Neunziger zuzuschauen. Sie begegnet den Dingen voller Neugier, schnuppert beim New Yorker vorbei, geht im Waldorf Kuchen essen und lernt neue Leute in schummrigen Literaturcafés kennen. Dann stößt sie Rachel Cusk mit ihrer Meinung zu ihren Büchern (ungewollt) vor den Kopf, stört sich daran aber nicht weiter und probiert sich auch mal an ganz eigenen Antworten an die Fan-Briefe für Salinger, die ihr selbst so viel bedeuten.

Eine Feier der nach außen getragenen Emotionen

Der essentielle Satz in einem dieser Schreiben lautet „I can get quiet emotional.“ Joanna empfindet es als etwas Herausragendes, das einer von Salingers Fans so ehrlich und gerade heraus sein kann. Eine rare Eigenschaft in einer Gesellschaft, in der es als einem als Schwäche ausgelegt wird, wenn jemand sich so zeigt, wie er ist. Ohne Schnörkel und Attitüde. Joanna ist aber genauso, was dem Film so besonders macht. Ihre Gefühlslage ist stets überdeutlich sichtbar. Die Kamera geht dafür auch gerne mal richtig nah an sie heran.

Die Geschichte über das eine Jahr in der Agentur, die den großen Literaten J. D. Salinger vertritt, ist in der Tat keine über den Autoren selbst. Es gibt auch nicht den enormen Spannungsbogen oder die Wahnsinnskonflikte wie bei „Der Teufel trägt Prada“, an den die Beziehung zwischen Margaret und Joanna schon häufiger erinnert.

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Der Fokus liegt vollkommen auf der unfassbar begabten Schauspielerin Margaret Qualley, die durch ihre Figur die Liebe zum gedruckten und gebundenen Werk beim Zuschauen neu entfachen soll. Das gedämpfte 90er-Jahre-Styling sowie der zurückhaltende Umgang mit der Technik tun ihr Übriges, um positive Nostalgie-Momente zu erzeugen. Und genau das passt doch ideal zu einem Festival, das weiterhin vor allem Filme in einer Zeit feiert, in der im Alltag die Serie zum unangefochtenen Protagonisten in den heimischen Wohnzimmern geworden ist.

„My Salinger Year“ hat bisher noch keinen deutschen Kinostarttermin. Die Berlinale findet noch bis zum 1. März 2020 in Berlin statt. Das gesamte Programm findet Ihr hier.

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