Ohne Mix läuft nix


Wenn einem früher ein Song aus der Hitparade gefiel, dann kaufte man sich einfach die entsprechende Single. Heute kann es passieren, daß derselbe Song am Samstagabend in der Disco ganz anders klingt: Da gibt es den „Extended Remix“, die „Dub Version“, den „Club-„, „Dance-“ oder gar „Ultimate Rock’n’Soul-Mix“. ME/Sounds besuchte findige DJs und Bastler, die aus anderer Leute Platten völlig neue Musik machen Am Anfang war die Maxi. Ausgerechnet 1974, als die Scheichs im Nahen Osten plötzlich auf ihren Ölfässern saßen und demzufolge auch das Vinyl für die Plattenproduktion knapp wurde, hatten amerikanische Firmen einen aufwendigen und folgenschweren Einfall: Einzelne, spezielle Songs wurden nicht mehr bloß auf Singles gepreßt, sondern auch im 30 cm/ 12inch-Format einer Langspielplatte. Diese Maxi-Singles waren anfangs nichtmal für den Verkauf bestimmt, sondern wurden exklusiv und kostenlos an ausgewählte Discjockeys verteilt.

Seit der Explosion des Philly-Sounds 1972/73 waren die Leute an den Plattentellern immer wichtiger geworden. In die amerikanischen Discos strömte ein ständig wachsendes Publikum aus Latinos, Rastas, Afro-Kubanern, Schwulen, Farbigen und Weißen aller Rassen und Schattierungen zu sogenannten record parties oder record hops. Diese improvisierten, oft illegalen Tanzveranstaltungen mußten aufgrund des Andrangs aus den kleinen Clubs, in denen sie ursprünglich stattfanden, auf immer größere Keller, Hallen und Fabrik-Etagen ausweichen. Wie es in derartigen Läden um die Akustik bestellt war, läßt sich unschwer vorstellen: lausig. Da konnte der bessere, weil druckvollere und dynamischere Sound einer Maxi-Single die Chancen eines Songs durchaus entscheidend verbessern.

Waren es zunächst die kleinen Plattenfirmen, die limitierte 12inch-Auflagen (heute oft schon teure Raritäten) preßten, so zogen die großen Firmen schnell nach; die musikalische Ereignislosigkeit der Boring Sevenlies gipfelte im „Disco Inferno“, und heute hat die Maxi in Deutschland einen Marktanteil von 17% und damit ihre Position gegenüber Single und LP in den letzten fünf Jahren um fast 100% verbessert.

Kaum hatten sie ihre Soundprobleme halbwegs überwunden, machten sich die DJs an die Lösung eines weiteren, ebenso wesentlichen Problems: des Übergangs von einem Stück zum nächsten. Damit das Publikum nicht plötzlich wie angewurzelt auf der Tanzfläche stehenblieb, mußte etwas gefunden werden, was die Tänzer im Rhythmus und bei Laune hielt.

Der Italiener Franco Grasso, Discjockey im New Yorker Sanctuary (einer zur Disco umgemoMit Platten-Auflegen ist es längst nicht mehr getan! Seit 15 Jahren sind die Discos immer größer und das Publikum immer vielfältiger geworden — da braucht’s mehr als einen „duften Rhythmus“. Wie man heute Tanzhits macht, wissen Discjockeys und Technik-Freaks oft besser als die Musiker selbst.

delten Kirche), war der erste, der versuchte, zwei Platten mit passendem Rhythmus ineinander zu spielen. Grasso wiederum brachte die DJs Walter Gibbons und Bob Moulton auf die Idee, eine schon vorhandene Tanznummer nach Disco- und Mix-Erfordernissen umzubauen. „Ten Per Cent“ von Double Exposure, der erste für jedermann käufliche Remix, war über neun Minuten lang und bot nicht nur deutliche Vorzüge in Einleitung und Schluß, sondern hatte obendrein den entscheidenden Tanz-Kick mehr, da Gibbons und Moulton beim Remixen auch an Percussion und Baß gedreht hatten.

Für viele Musiker bedeutete der Remix damals einen Schlag ins Gesicht, einen Angriff auf die Authentizität ihrer Musik — während sich eine Flut von Technikern, Discjockeys, Studiobastlern und Produzenten eifrig daran machte, dem technischen Zeitalter die Tanzmusik zu verpassen, die es verdient.

Hot Chocolates Comeback geht allein auf Liebrands Konto

„Geh ich dir heule ,Geil gibst du mir morgen ,Turbogeil“ erklärt der gefragte holländische Remixer Ben Liebrand den Stand der Dinge 1987.

„Den x-ten Remix zu machen, ist allerdings nicht gerade kreativ — man sollte dem Song schon etwas Neues, Genrefremdes, etwas Innovatives hinzufügen, das über die Zeit oder den Rahmen des Songs hinausgeht.“

Ein erfolgreiches Beispiel hat Liebrand mit seinen Remixen der Hot Chocolate-Klassiker „You Sexy Thing“ und „Every l’s A Winner“ geliefert, der die Band um Erroll Brown wieder überall in die Hitlisten brachte (und ein Best Of-Album obendrein), „Bei ‚You Sexy Thing‘ habe ich von den 16 Aufnahmespuren der Originalaufnahme nur vier verwendet. Zusätzlich habe ich einen Takt mit einem GoGo-Rhythmus vorproduziert, per Sampler vervielfältigt und schließlich Takt für Takt dazu gespielt. „

Seit seinem „Holiday Rap“, dem Sommerhit des letzten Jahres, stehen Ben Liebrand sämtliche Türen offen. Daß er derart ungeniert in Original-Songs eingreifen kann und darf, verdankt er der Tatsache, daß ihn die Firmen inzwischen mit den originalen Master-Bändern der jeweiligen Aufnahmen arbeiten lassen. Etwas anderes käme für den Holländer auch gar nicht mehr in Frage — mit fertigen Schallplatten und CDs mixt Liebrand nur noch für seine wöchentliche Rundfunk-Sendung (Radio Veronica).

Auch wenn er selbst seine Karriere dem Remix verdankt, so ist Liebrand alles andere als begeistert, daß heute jede noch so schlechte Single fast automatisch auf Maxi-Version gestreckt wird: „Mit den llinchs wird viel zuviel Schindluder getrieben. Früher habe ich auch eine Reihe Songs remixt, die einfach so schlecht waren, daß eine Bearbeitung eigentlich auch nichts mehr nützte. Wenn solch miese Songs dann besser laufen, ist das zwar ein Verdienst des Remixers, aber die Musik wird dadurch auch nicht besser. Heute würde ich sowas nicht mehr machen …“

Liebrand hat gut reden — er hat’s geschafft. Und dabei legte der Hit-Experte den Grundstein zu seiner Blitzkarriere nichtmal im harten Fronteinsatz als Discjockey. sondern mixte zunächst nur zu Hause im stillen Kämmerlein.

Ähnlich hat sein noch populärerer, britischer Kollege Paul Hardcastle angefangen. Der mischte in Heimarbeit verschiedene Rhythmen von Schallplatten zusammen, kaufte sich ein Keyboard und spielte die Melodien selber dazu. Als die Kohle reichte, kam noch ein Rhythmuscomputer dazu — und fertig war das Studio im Wohnzimmer. Hardcastles eigene Nummer „19“ ist heute schon ein Klassiker — etliche seiner Remixe (wie der von George McCraes „Rock Me Baby“) gelten eher als Beispiele, wie man legendäre Songs nachträglich verhunzt.

Vom Aufmöbeln alter Fetzer hält der New Yorker Star-Discjockey John „Jellybean“ Benitez hingegen überhaupt nichts — er arbeitet lieber mit Material aus erster Hand. Mega-Star Madonna wußte schon Anfang der 80er sehr genau, was sie in der US-Metropole zu tun hatte, um groß rauszukommen: Sie freundete sich mit Jellybean an. der überarbeitete ihre Demo-Aufnahmen, knüpfte die nötigen Kontakte und sorgte mit seinen Remix-Maxis auch nach den Studioaufnahmen für einen Tanzhit nach dem anderen. Sein Name prangt wie ein Gütesiegel auf über 100 Maxis, von Five Star über den Breakfast Club bis zu Chaka Khan und Eigen-Produktionen.

Oft weiß die Band nicht, was der Remixer mit ihrer Musik macht

In zahllosen Studios rund um die Welt hocken kleine Tausendsassas und machen sich an anderer Leute Musik zu schaffen, spielen hier was dazu, nehmen da was weg … Manchmal weiß die Band gar nichts davon, daß ein Remixer noch seinen Stempel draufdrückt. Holly Johnson findet es recht amüsant, wenn seine Plattenfirma ZTT immer wieder neue Versionen von Frankie Goes To Hollywood-Hits veröffentlicht, ausgeheckt von ir- ^ gendwelchen Studiofreaks und otjne daß die Band – auch nur gefragt worden wäre. ° Ganz anders verfahren Jimmy Jam und Terry Lewis, derzeit Amerikas erfolgreichstes Produzenten-Team (Janet Jackson. SOS Band. Human League, Herb Alpert etc.). „Produzieren, Komponieren, Abmischen oder Remixen — das gehl bei uns Hand in Hand. “ Terry Lewis käme gar nicht auf die Idee, die Platten seiner Schützlinge außer Haus remixen zu lassen: „Das ist doch der größte Spaß.“

Mit Arthur Baker kehrte die Gitarre in die Disco zurück

Neben Mix- und Remix-Stars wie Bob Clearmountain (Bryan Ferry. Pretenders), Julian Mendelsohn (Scritti Politti. Psychedelic Fürs) oder Art Of Noise-Mann Gary Langan (Billy Idol, Scritti Politti). zählt besonders einer seit Jahren zur absoluten Weltspitze: Arthur Baker. Baker war maßgeblich daran beteiligt, der tödlich langweilig gewordenen Disco-Musik wieder neuen Schwung zu geben, indem er sich auf drei gute alte Zutaten besann: Gitarre, Baß und Schlagzeug. Gemeinsam mit Kult-Discjockey Afrika Bambaataa integrierte er Rock und Blues in schwer groovenden Streel-Funk — und Disco wurde wieder hart und satt.

Plötzlich klingelten auch die Rolling Stones bei Arthur Baker und baten um Remixe („Too Much Blood“ gilt als die Bearbeitung einer Rock-Nummer.) Bob Dylan zog Baker bei seinem Album Empire Burlesque zu Rate, und für Bruce Springsteen ist der Dicke sowieso die Nummer eins.

Nach den unvermeidlichen Drogen- und Finanzproblemen hat Arthur Baker inzwischen sein zweites Plattenlabel gegründet, Criminal Records, auf dem er „die verrücktesten Crossover und bizarrsten Stile schwarzer wie weißer Musik “ zusammenbringen will. Er stammt aus Boston, hat mal als Discjockey angefangen („war aber so schlecht, daß mir die Leute davongelaufen sind“) und arbeitet heute — wenn er nicht gerade in irgendwelchen Studios rund um die Welt Remixe bastelt — in New York. Auf seinem letzten Europa-Trip beschäftigte er sich mit Aufnahmen von Rita Mitsouko. Colourfield und den Fine Young Cannibals, aber nach so vielen Aktivitäten für andere will er jetzt erstmal selbst eine LP einspielen. Und singen.

„Auf Leute wie Arthur Baker und Shep Pettibone (Pet Shop Boys, Run D.M.C.. New Order, Timex Social Club. Nick Kamen) wird man immer schauen“, zieht Ben Liebrand den Hut. „Auch wenn Baker die Idee zu seinem ‚Sler-Remix des Freez-Hits J.O.U: von mir hat …“

5000 Amateur-DJs kämpfen alljährlich um die Weltmeisterschaft

In Konkurrenz zur langjährigen Erfahrung eines Jellybean oder Arthur Baker drängen sich heute allerdings auch immer mehr jugendliche Naseweise in den Vordergrund, mit technischen Fertigkeiten wie sie nur Discjockeys mitbringen können. Die rund um den Globus wohlorganisierte DJ-Szene schläft keineswegs. „Mit einer Grundausstattung für 12 bis 15JHHI Mark ist heute schon fast alles möglich“, rechnet Jens Lissat, DJ in Hamburg und einer der gefragtesten deutschen Remixer. (Die“.Grundausstattung“ umfaßt eine Bandmaschine, eine Rhythmusmaschine, ein, zwei Synthesizer, auf jeden Fall einen Sampler, ein Digital Delay und diverse Effekt-Geräte.) Unter dem Namen J. M. Jay & Hardv hat Jens die erste deutsche House Music-Maxi nach Chicagoer Vorbild veröffentlicht („Work The Housesound“) und sieht sich damit durchaus als Traditionalist: „Die knien großen Stile der schwarzen Musik — Rap und Smitcb, Hip Hop, Heavy Metul Rap und der House Sound Of Chicago — sind allesamt maßgeblich durch üiscjockeys entstanden, die etwas mit Mixen zu tun haben, „

5000 weitere DJs aus aller Herren Länder sehen das genauso und sind Mitglied im Disco Mix Club (DMC, Adresse siehe Kasten), der jährlich eine Weltmeisterschaft organisiert, seine eigene Zeitschrift mit vielen 12inch-Neuheiten herausbringt und monatlich mehrere Remixe und Megamixe auf Schallplatte veröffentlicht.

Viele dieser Jungs (was mixen eigentlich die Mädchen?) betreiben das, was erst Walter Gibbons und später Arthur Baker mit fremden Songs machten, heute mit einer Kreativität und Perfektion, die der eines Musikers kaum noch nachsteht.

Außerdem eröffnet die Computertechnik täglich neue Möglichkeiten, und um Urheberrechte haben sich Remixer noch nie sonderlich geschert. Ihr einziges Medium ist die Maxi, da können sie mit Dub-Versionen, Bonus Beats, Break Downs oder Acapellas hantieren, gesampelte Gitarren und Bläser dazuspielen lassen oder scratchen, bis die Vöglein zwitschern.

Für den diesjährigen DJ-Weltmeister, den britischen Discjockey Chad Jackson (der deutsche Kandidat Westfalia Bambaataa aus Berlin kam nicht unter die ersten drei), öffnen sich nach dem Titelgewinn Tür und Tor: Die Industrie sieht in der Maxi nämlich längst nicht mehr bloß das Nebengeschäft, sondern einen fetten Absatz-Brokken: In den USA erscheinen sogar über 80% mehr Titel auf 12inch als im 7inch-Single-Format.

Und wer noch echte Überraschungen sucht, kommt an der 12inch gar nicht vorbei. Ein echter Rap von Lou Reed („The Original Wrapper“) oder den Housemartins („Rap Around The Clock“) — sowas gibt’s nur auf Maxi.