Nirvana: Pioniere der Revolution


Anlässlich des 25. Todestags von Kurt Cobain: Tomasso Schultze darüber, was uns Nirvana heute noch zu sagen haben

Sie waren Zünder und Sprengladung für den amerikanischen Underground. Die Explosion war laut. Ein Urknall, der bis heute nachhallt.

Sein Leben konnte der Rock’n’Roll nicht retten. Dafür hat Kurt Cobain den Rock’n’Roll gerettet, hat ihn frei gesprengt und befreit aus einem Jahrzehnt der Bedeutungslosigkeit und Langeweile, hat ihn entmottet, entstaubt und befreit von den Posen und Hülsen, die ihn unerträglich gemacht hatten. Der Schuss wurde rund um die Welt gehört. Und er hallt nach. Immer noch, wann immer ein armer Junge es für nötig hält, seine Gitarre anzustöpseln und in einer Rock’n’Roll-Band zu singen.

Lieber verbrennen als verglimmen

Es war eine Wüste, das sprichwörtliche Teenage Wasteland. Nirvana waren das Wasser. Und ließen die Dämme brechen, in einer Springflut, 1991, the year that punk broke. Ein einfaches Riff, bei „More Than A Feeling“ von Boston geklaut (ausgerechnet!), drei Hiebe auf die Snare, die alleine ausreichten, allen Metalposern von L.A. das Spray aus den Haaren zu blasen, und dann die Druckwelle, die die Achtzigerjahre beendete. Hier sind wir, unterhaltet uns. Hätten Nirvana nur „Smells Like Teen Spirit“ veröffentlicht, hätten sie bereits Musikgeschichte geschrieben. Aber Nirvana waren mehr als der eine Song, der das Gesicht des Rock’n’Roll verjüngte und wieder schön und begehrenswert machte. Nirvana waren auch NEVERMIND, das Album zum Hit, das in seiner Gesamtheit noch besser, ungestümer und tosender war. Nirvana vertraten auch eine Haltung, die von Punk und Hardcore geschult war und es zum Diktum erhob, unentwegt die Hand zu beißen, von der man gefüttert wird. Nirvana stellten den Status quo infrage, die Vergangenheit der Rockmusik und ihre Zukunft – und fortwährend sich selbst: Keiner artikulierte seine Sprachlosigkeit besser als Kurt Cobain, seine fortwährenden Selbstzweifel und seine Rolle als Sprachrohr einer Generation, das er niemals hatte sein wollen – und es genau deshalb war. Seine Unsicherheit und seine Verachtung trafen den Nerv der Zeit. Kommt, wie ihr seid, lud er sein Publikum ein, das sich in ihm wiederentdecken durfte. Er tat es mit einer zerfetzten Stimme, die seine peinigenden Magenschmerzen, die sein Leben zur Hölle machten und ihn in die Drogensucht trieben, nach außen kehrte und für jedermann erlebbar machte. Cobain war ein Mann im Krieg mit sich selbst. Er verabscheute die Posen der Rockmusik und musste schließlich kapitulieren, als er erkannte, dass seine Versuche, unmittelbar und unverstellt zu bleiben, schließlich nichts anderes waren als das, eine Pose, und sein Versuch, die Musikindustrie auf die Hörner zu nehmen, eine Scharade. I hate myself and I want to die. So setzte er einen Schlusspunkt, weil er es besser fand zu verbrennen, als zu verglimmen.

Out with the old, in with the new

Im Januar 1992 stieß NEVERMIND das aktuelle Album von Michael Jackson in den USA vom ersten Platz der Albumcharts. Out with the old, in with the new. Könnte es eine schönere Metapher geben? Wachablösung, Generationenwechsel, Revolution gar vielleicht! Presse und Fernsehen stürzten sich mit so großer Begeisterung darauf, dass man 20 Jahre später leicht den Eindruck gewinnen könnte, vor und während Nirvana hätte es keine andere hörenswerte Musik wider den Mainstream gegeben. Die Heiligsprechung muss warten: Nirvana kamen aus dem Nichts. Will man die wahre Bedeutung und den bis heute andauernden Einfluss des Trios aus Seattle verstehen, muss man begreifen, dass sie nur Zünder und Sprengladung waren, auf die der amerikanische Rockuntergrund zehn Jahre gewartet hatte. Gebrodelt hatte es schon lange, beginnend mit Black Flag aus Hermosa Beach, deren ständiges Touren aus Brachland urbaren Boden gemacht hatte. Wo Flag gespielt hatten, schossen Bands aus dem Boden, die zunächst auf lokaler, dann zunehmend auf nationaler Ebene für Furore sorgten und schließlich auch die Plattenfirmen auf sich aufmerksam machten. The Replacements, Hüsker Dü und ausgerechnet die Independent-Gottväter Sonic Youth wagten als Erste den Schritt aus der Unabhängigkeit, jedes Mal begleitet von endlosen Diskussionen in Fanzines und Collegeradiosendern über künstlerischen Kahlschlag und verkaufte Seelen. Die Verkäufe hielten sich im überschaubaren Rahmen. Dann kamen Nirvana.

Eine Gruppe. die selbst nicht so recht fassen kann, wie gut sie tatsächlich ist

Sie waren anders als die anderen Bands, die von ihren angestammten Indielabels zu einem Major gewechselt waren. Keine arrivierten Pioniere, keine mit allen Wassern gewaschenen Platzhirsche, die sich mit jahrelangen Veröffentlichungen und endlosen Tourneen einen Namen gemacht hatten. Nirvana waren vielmehr selbst mit den genannten Bands aufgewachsen. Kurt Cobain hatte wie viele andere Kids in Amerika die Geschichte der Rockmusik aufgesogen, um der lähmenden Langeweile in seinem Heimatkaff Aberdeen zu entfliehen. Er hatte den Dinosaurier-Rock der 70er-Jahre ebenso studiert wie britische Punkbands, besuchte Konzerte durchreisender Hardcore-Bands und der lokalen Heroen Melvins und entwickelte ein Faible für obskure Acts vom Wegesrand der Yellow Brick Road: Shocking Blue, Thee Headcoats, The Vaselines, Daniel Johnston. Als Nirvana an den Start gingen, waren sie neu, unverbraucht und sexy. Ihr Sound war von Anfang an unverkennbar. Sie hatten gerade einmal eine Single und eine LP veröffentlicht, als Geffen 1990 auf Betreiben von Sonic Youth in den Bieterwettstreit um die Band einstieg: Mit dem neuen Schlagzeuger Dave Grohl als ernst zu nehmendes Rückgrat hatten sie ein Demo aufgenommen, das all die disparaten Elemente, die den Sound der Band so einzigartig machten – die Heaviness von Sabbath, die Wut von Flag, die Laut-Leise-Dynamik der Wipers und den psychedelischen Pop der Beatles -, zusammenführte. Wenn man sich die diversen Aufnahmen der Band aus dieser Zeit anhört (siehe die penibel zusammengestellte With The Lights Out-Box), ist man förmlich geplättet von der unbändigen Spiellaune einer Gruppe, die selbst nicht so recht fassen kann, wie gut sie tatsächlich ist.

Junge Rebellen pissen schadenfroh auf alte Leichen

Als Nevermind erscheint, ist sie nicht die einzige Platte des Jahres, die mit harter Musik in den Charts landet. Metallica ist ein paar Wochen zuvor mit dem schwarzen Album der endgültige Durchbruch zum Stadion-Act gelungen, am selben Tag wie Nirvanas Platte kommt BLOOD SUGAR SEX MAGIK von den Chili Peppers auf den Markt, kurz darauf TEN von Pearl Jam und USE YOUR ILLUSION von Guns N’Roses. Auf der ersten Lollapalooza-Tour füllen Nine Inch Nails, die Rollins Band und Jane’s Addiction bereits landesweit Stadien. Aber NEVERMIND ist die Platte, die sich die Kids als den Soundtrack ihres Lebens aussuchen, die Nationalhymne zur Gründung der Alternative Nation. Das eine Album, das Grunge zum It-Sound macht, Seattle zur neuen Hauptstadt des Rock’n’Roll und unter den Plattenfirmen eine Hausse auslöst, wie es sie in der Geschichte der Musik noch nicht gab. Binnen weniger Monate kommen sämtliche namhafte und fast alles obskure Bands der neuen Independentszene bei der Industrie unter Vertrag. Neue Gruppen und Kopisten folgen. Die Stimmung ist vergleichbar mit dem, was im Filmgeschäft nach dem Erfolg von „Easy Rider“ mit New Hollywood passierte: Das alte System ist irreparabel zerbrochen, die jungen Rebellen pissen schadenfroh auf die alte Leiche und drängen nach vorn, weil die Industrie zu schwerfällig und verunsichert ist, lässt sie die Revolutionäre gewähren. An Nirvana ist es, die Fahne der Revolution zu schwingen. Ausgerechnet. Kurt Cobain kennt nur eine Antwort: lachend in die Kreissäge. Zuerst mit dem gezielten kommerziellen Suizid In Utero und dann mit seinem tatsächlichen Selbstmord wenige Monate später am 8. April 1994. So endet die kurze Phase der Anarchie, in der die Anstalt von den Insassen beherrscht wurde.

Warten auf eine neue Springflut

Es ist mit 20 Jahren Abstand schwer zu vermitteln, wie aufregend diese Zeit war, wie unfertig, wie möglich es erschien, das Unmögliche zu verwirklichen. Dieses Gefühl des allgegenwärtigen Aufbruchs ist passé, der naive Glaube daran, es könne sich mit all der großartigen Musik und nach dem Fall der Mauer und dem Zusammenbruch des Ostblocks alles zum Guten wenden. Es war die allerletzte Revolution der Rockmusik, bevor Internet, mobile Kommunikation und die ständige Verfügbarkeit der Inhalte die Regeln des Spiels für immer veränderten. Trotzdem hört man das Echo von Nirvana immer noch: in den frühen Versuchen der Chemical Brothers und Prodigy oder später Justice, Dancemusic zu erden. In den Verweigerungsstrategien von Radiohead, die aus dem Scheitern der Band gelernt haben. In der Renaissance des Indierock mit all seinen„The“-Bands. Nur die Welt will keine Rockband ernsthaft mehr verändern. Wenn man Nirvana heute hört, gibt man sich aber der Hoffnung hin, es möge doch wieder eine versuchen. Zwanzig Jahre nach Nevermind ist wieder Wüste. Und man wartet auf eine neue Springflut, die den ganzen Schlamm wegspült.

Dieser Artikel erschien erstmals im ME 10/11.