PLÄDOYER FÜR… Miley Cyrus – eine unverstandene Heldin der Popmusik


Hinter der Kunstfigur des Nasty Girl steckt ein Charakter mit Verbindungen zur guten Seite und der richtigen Einstellung. Die Provokationen der 21-Jährigen kommen genau bei denen an, für die sie bestimmt sind, bei den Freunden seriöser Rockmusik.

Der Mechanismus ist immer der gleiche: Wenn ein weiblicher Popstar unter starkem Einsatz des Körpers zur Ikone wird, heulen die Anhänger des Guten, Schönen, Wahren reflexartig auf. Miley Cyrus hat mit Robin Thicke auf der Bühne „getwerkt“, ihren Hintern in die Kameras gehalten, ist nackt auf der Abrissbirne durchs Video geschaukelt und veranstaltet in Konzertsälen leichtbekleidet einen gigantischen Kindergeburtstag. Rockspießer regen sich offiziell darüber auf, um sich anschließend inoffiziell einen runterzuholen: mit dem Bild von Miley Cyrus auf der Abrissbirne vor ihren Augen.

Sex im Pop geht immer, aber akzeptiert wird er nur, wenn er von Männern thematisiert wird. Robert Plant durfte das, er durfte sein Geschlechtsteil in enge Jeans quetschen, mit den Hüften kreisen, von seinem Wunsch nach Analsex („I wanna be your back door man“) und über Körpersäfte („The Lemon Song“) singen, das Ziel seiner Begierde im weiblichen Körper lokal bestimmen („way down inside“) und seine Liebe in Zentimetern bemessen („Whole Lotta Love“). Und keiner wird es wagen, Led Zeppelin, die ad nauseam zur besten Band der Welt erklärt werden, unseriöse Absichten zu unterstellen. Weil Rockmusik – männlich heterosexuell, chauvinistisch besetzt – bei „anspruchsvollen Musikhörern“ als ernsthafte Kunstform und damit dem Pop als haushoch überlegen gilt.

Plants Exhibitionismus sollte die männliche Überlegenheit darstellen, der von Miley Cyrus ist Ausdruck weiblicher Selbstbestimmung, Angriff als Verteidigung, als Selbstschutz nach der Karriere als Kinderstar, die von ihren Eltern forciert wurde. Es ist zu spüren, dass hinter der offensiv agierenden Kunstfigur ein zartes Pflänzchen verborgen ist. Trotzdem wird geurteilt: Robert Plant ist der Held und Miley Cyrus die Schlampe.

Die Schlampe hat allerdings einiges auf der Habenseite stehen: Sie kann singen. Sie covert die richtigen Songs (Nirvana, Lana Del Rey, Arctic Monkeys, Jeff Buckley und zuletzt, ja, auch Led Zeppelin). Sie steht mit den Flaming Lips auf der Bühne, singt auf deren SGT.-PEPPER-Coveralbum WITH A LITTLE HELP FROM MY FWENDS „Lucy In The Sky With Diamonds“ und „A Day In The Life“. Sie schenkt Alt-J für deren Song „Hunger Of The Pine“ ein Sample aus ihrem „4×4“, für das sie einen sechsstelligen Betrag hätte fordern können, weil sie Fan der Band aus Leeds ist. Sie postet auf Instagram Bilder von Bikini-Kill-Sängerin Kathleen Hanna, woraufhin die feministische Aktivistin euphorisiert eine Zusammenarbeit mit ihr ins Gespräch bringt. Man kann der Meinung sein, das alles wäre Kalkül, Miley Cyrus tut das nur, um sich Glaubwürdigkeit zu erkaufen. Man muss aber objektiv feststellen, dass sie es überhaupt tut und dass sie The Flaming Lips kennt und Alt-J und Bikini Kill. Miley Cyrus ist stärker und tiefer mit der Lebensrealität im Amerika des 21. Jahrhunderts verbunden als mancher der guten, wahren Singer/Songwriter, die 40, 50 Jahre älter sind als sie und der Vorstellung eines vergangenen Amerika nachtrauern, das wahrscheinlich so, wie sie es darstellen, niemals existiert hat.

Miley Cyrus weiß, wo 2014 ihre Fans zu finden sind und wie sie ihre Freizeit verbringen: gebückt über ihren Smartphones unterwegs in den sozialen Netzwerken. Die Kunst der Selbstpromotion beherrscht sie perfekt, auf Instagram ein Foto mit Karl Lagerfeld posten, ein Tweet mit Herzchen, LOL und Smiley und alles mit automatischer Facebook-Anbindung. Sie erzählt der Zielgruppe von deren Leben, das im Titel ihres Songs „Love, Money, Party“ umfassend beschrieben wird. Die Love ist meistens unglücklich, Money nicht alles und die Party auch nicht so toll, wenn „er“ nicht dabei ist.

Dass das Album BANGERZ gar nicht so gut ist – trotz „Wrecking Ball“, dem Song des Jahres 2013 –, spielt überhaupt keine Rolle. In der großen Inszenierung Pop ist die Musik nur eine der potenziellen Darstellungsoptionen, wie Diedrich Diederichsen in seinem Standardwerk „Über Pop-Musik“ schreibt und von einer musikfreien Popmusik träumt, die nur aus Codes und Fetischen besteht. Überhöhung, Übertreibung und Ikonisierung gehören zum Spiel. Wer Authentizität für ein Qualitätsmerkmal hält, wer möchte, dass sein „Star“ aussieht wie der Fahrer vom Pizzaservice, soll weiter Rock für eine überlegene Kunstform halten und sich bitte zu Miley Cyrus einen runterholen.

Dieser Artikel ist in der November-Ausgabe des MUSIKEXPRESS erschienen.