Radiohead doing the right thing


Diese Band will nicht von den Zinsen vergangener Großtaten leben. Sie will ihr Kapital, Talent und ihre Intelligenz darin investieren, etwas Gültiges über uns selbst zu erzählen. Ein Essay über die wichtigste Band unserer Zeit:

„Baby your mind is a radio / Got a receiver inside my head / Baby I’m tuned to your wavelength / Lemme tell you what it says: / Transmitter! Oh! Picking up something good / Hey, radio head! The sound … of a brand new world.“

(Talking Heads: „Radio Head“)

„Im Zeitalter der Weltnacht muss der Abgrund der Welt erfahren und ausgestanden werden. Dazu ist aber nötig, dass solche sind, die in den Abgrund reichen.“

(Martin Heidegger: „Wozu Dichter?“)

Wenn sie sich für solche Dinge interessieren würden, dann würden Thom Yorke, Ed O’Brien, Phil Selway und die Brüder Jonny und Colin Greenwood in diesem Jahr ihr 25-jähriges Bandbestehen feiern. Vielleicht mit einer „Best of“- und „B-Seiten“-Box, mit opulenter DVD und einem Booklet mit anspruchsvollen Grafiken dazu, wer weiß. Spätestens zum Weihnachtsgeschäft könnte ein solches Paket fertig sein, und es wäre mit Sicherheit ein Bombengeschäft für ihre Plattenfirma. Wenn sie denn eine Plattenfirma hätten. Wahrscheinlich haben Radiohead ihr Jubiläum, immerhin ein Vierteljahrhundert, schon längst gefeiert und einander The King Of Limbs geschenkt, ihr achtes und bisher gewagtestes Studioalbum. Uns, dem Publikum, haben sie dabei den Rücken zugewendet, wie so oft. So muss es sein, denn sonst wären Radiohead nicht Radiohead: die wichtigste Band unserer Zeit.

Wer diese Behauptung so ungeschützt in der Landschaft herumstehen lässt, wird dabei zuschauen können, wie sie in kürzester Zeit in ihre Einzelteile zerpflückt wird. Und dennoch: Radiohead ist die wichtigste Band unserer Zeit. Gut, wir werden uns Verstärkung holen müssen, um diesen Satz zu verteidigen.

Gegründet wurde Radiohead als Schulband im Städtchen Abingdon an der Themse, einem der ältesten Orte auf der Insel. Dort also, wo England noch ganz bei sich ist. Knapp 37.000 Einwohner zählt Abingdon in der Grafschaft Oxfordshire. Die Schülerband probte jeden Freitag, weshalb sie sich den wenig originellen Namen On A Friday gab, und sie probte auch dann weiter, als ein Großteil der Gruppe bereits zum Studium von Kunst und Literatur ins nahe Oxford zog. Dort, in der schnuckeligen Jericho Tavern an der Oxforder Walton Street, gaben On A Friday auch ihr erstes Konzert. Frenetischer Punkrock, schnell gespielt. „Wir trugen alle Schwarz und spielten sehr laut“, erinnerte sich später Colin Greenwood, „weil wir dachten, dass man das so machen müsse.“ Erst 1991, mit dem Abschluss eines sechs Alben umfassenden Plattenvertrages mit der EMI, änderte die Gruppe ihren Namen in Radiohead.

Warum sind diese Anfänge wichtig? Weil es zu dem beliebtesten Argumenten gegen Radiohead zählt, der Band ihre Ursprünge in der studentischen Provinz vorzuhalten. „Ehrliche“ Musik müsse von „ganz unten“ kommen, aus den Arbeitervierteln von Manchester oder Glasgow. Aus dieser Haltung spricht ein jungmännlicher Antiintellektualismus, der im Königreich auch schon gegen Gruppen wie Blur in Stellung gebracht wurde und Oasis für den Gipfel des Möglichen hält. Was aus Oxford kommt, so heißt es, sei Kunststudentenkacke.

Ein Einwand, der nicht ganz von der Hand zu weisen ist. Insofern, als er den Musikern unterstellt, einen reflektierten Zugang zu dem zu haben, was sie machen. Ein Bewusstsein, dass ihre Arbeit mehr als ein Produkt sein könnte. Sondern Kunst. Deshalb brauchen wir uns auch nicht lange mit Adam und Eva aufzuhalten, in unserem Fall also mit Pablo Honey und The Bends. Heute diese Platten zu hören ist, als begegneten wir zwei fast vergessenen Jugendlieben wieder. Undeutlich erkennen wir, was uns einmal an ihnen so fasziniert, angezogen haben muss. Deutlich aber spüren wir die Welten, die uns inzwischen voneinander trennen.

Es ist nicht so, dass Radiohead selbst mit ihrer Sturm-und-Drang-Phase hadern. Es ist vielmehr so, das die Gruppe damals mehrfach zwar vor dem Durchbruch, aber auch vor dem Zusammenbruch stand. Thom Yorke: „Ich habe mich auf das Musikgeschäft eingelassen, weil ich dachte, das wäre radikal, das wäre gar kein Business, es ginge da nur um Leute, die künstlerisch und kreativ sein wollten. Alles falsch, und das machte mich ziemlich depressiv.“ Entsprechend nervtötend und kräftezehrend waren ihre ersten großen Tourneen, im Vorprogramm von Bands wie Tears For Fears oder Catherine Wheel. Yorke wurde rasch bekannt für seine selbstzerstörerische, gewalttätige Performance. Noch heute hat sein Darbietungsstil etwas ungeheuer Intensives, als rüttelten fremde Mächte an ihm, als beobachte man einen Mann in einer Achterbahn, nur ohne Achterbahn.

Damals floss auf der Bühne auch mal Blut, es kam zu Ermüdungsbrüchen, Stimmverlusten und aufreibenden Streitereien innerhalb der Gruppe. Wenn man so will, schweißte sie in dieser Zeit ein damals noch obskurer äußerer Feind zusammen. Yorke erklärte dieses Unbehagen über den Erfolg später so: „Es bedeutete auch, dass wir irgendwie irgendwem etwas schuldeten.“ Sein Kollege, Gitarrist Jonny Greenwood, drückte es nach der Pablo Honey-Tournee so aus: „Wir haben diese Band gegründet, um Songs zu schreiben und Musiker zu sein. Stattdessen haben wir nun ein Jahr als Jukeboxen verbracht.“

Schuld war der Song „Creep“ und die enorme Nachfrage nach diesem durchaus gefährlichen Produkt. Eigentlich ein harmloses Stück mit einem poptypischen Text über unerwidertes Verlangen, harmonisch angelehnt an „The Air That I Breath“ von den Hollies – wäre da nicht, kurz vor dem hymnischen Refrain, dieses dumpf klackende Geräusch, als schnappe etwas ein, einmal, zweimal, dreimal. Es ist das, was Gitarristen eine dead note nennen, ein Schlag auf die Saiten. Jonny Greenwood meinte später, er habe dieses Geräusch aus Frustration darüber erzeugt, dass ihm der Song viel zu leise und zärtlich vorkam. Es ist, wie auch immer, der erste Ton, der auf die spätere, experimentelle Musik verweist. Zugleich war „Creep“ der erste Song, bei dem der Gruppe die Möglichkeiten dämmerten, die ein Studio bietet.

Heute spielen Radiohead „Creep“ nur noch sehr selten. Weniger aus ästhetischem Ennui, sondern wegen der Konsequenzen, den dessen enormer Erfolg gezeitigt hat. Oder, wie Thom Yorke sagt: „Sie wollen, dass du das machst, das ist es, was sie hören wollen. Also machst du mehr davon, weil’s großartig ist … und sie lieben dich! Plötzlich geben dir die Leute auch noch Geld dafür. Also hast du das Geld und gewöhnst dich an den Lebensstil. Und du willst keine Risiken eingehen, weil du dafür nicht die Eier hast, und du hast all die kleinen Sachen, die du dir gekauft hast und an denen dein Herz hängt. Und du fängst an, dein Geld auszugeben … und so ist es, wie sie dich kriegen.“

„Sie“, das könnten die Umstände sein. Es könnte der Kapitalismus sein. Die Verhältnisse. Das System, wie es sich uns allen darstellt. The powers that be, wie der Engländer sagt. Eben die Welt, in der wir leben, und deren Regeln wir uns zu unterwerfen lernen. Man könnte diesen Lernprozess das Erwachsenwerden nennen, wenn man sich darunter eine mentale Verkrustung und Verstümmelung vorstellt. Wir alle arrangieren uns, und dieses Arrangement bringt uns Tag für Tag einem langsamen Erstickungstod näher. Ganz so, wie Thom Yorke es im legendär klaustrophobischen Video zu „No Surprises“ durchspielt, wenn sich sein Taucherhelm allmählich mit Wasser füllt: „Such a pretty house / Such a pretty garden / No alarms and no surprises / Silent, silent.“

Die Überraschung kam 1997, und sie war alles andere als leise: OK Computer. Oft ist das Album mit Pink Floyds The Dark Side Of The Moon verglichen worden. Es zeigte eine Gruppe auf dem eisigen Gipfel ihres Schaffens, jeder Song so klirrend schön und mächtig wie eine Gletscherzunge, so einschüchternd wie eine zerklüftete Steilwand. Und so wahr, dass es weh tat. Denn ebenso wie Pink Floyd schöpften Radiohead hier nicht nur technisch aus dem Vollen, was etwa in „Paranoid Android“ notwendigerweise in die Gefilde des Progrock führt – sie beschäftigten sich auch inhaltlich mit nichts Geringerem als der condito humana, den Bedingungen des Menschseins in einer entfremdeten Welt, die neben irrwitzigen Möglichkeiten auch aberwitzige Abgründe zu bieten hat. Hier hören Radiohead auf, Unterhaltungsmusik zu machen. Hier wird’s ernst.

Denn Yorkes Unbehagen an der Moderne, an unserer spätkapitalistischen Zivilisation spricht auf OK Computer aus jedem einzelnen Song, eingefärbt in die pastellene, manchmal als weinerlich empfundene Melancholie, auf der andere Gruppen – unter Weglassung der Ecken, Kanten und schrundigen Stellen – später ihre Weltkarrieren aufbauen sollten. Das lyrische Herz dieses Albums und zugleich der Schlüssel zur Entzifferung der Kernbotschaft von Radiohead freilich ist ein Song, der kaum als „Song“ wahrgenommen wurde, ein klassischer „Skip“-Kandidat.

„Fitter Happier“ ist ein monotoner Monolog über den zugerichteten Menschen, der nicht einmal merkt, wie sehr er schon seiner menschlichen Möglichkeiten beraubt ist, weil er schon so sehr als Konsument abgerichtet ist, dass er diesen Raub für einen Handel hält und freiwillig zustimmt: „Fitter, happier, more productive / comfortable, not drinking too much / regular exercise at the gym (3 days a week) / getting on better with your associate employee contemporaries, at ease, eating well / (no more microwave dinners and saturated fats) / a patient better driver, a safer car (baby smiling in back seat) / sleeping well (no bad dreams) no paranoia / careful to all animals (never washing spiders down the plughole) / keep in contact with old friends (enjoy a drink now and then) …“, nichts also, was ein moderner Mensch nicht unterschreiben oder wenigstens gut kennen würde – und dann: “ … calm, fitter, healthier and more productive / a pig in a cage on antibiotics“.

Der Mensch: Ein Schwein im Käfig auf Drogen, die alles Leben abtöten. Der Text wäre schon ein starkes Statement gewesen, würde Yorke ihn einfach rezitieren. Stattdessen tippt er ihn in seinen Macintosh und lässt ihn über ein primitives Sprachprogramm namens „Simple Text“ ablaufen. Diese Methode, das Technoide mit dem Humanen zu füttern, wird zu ihrer zentralen Strategie. Wenn Ludwig Wittgensteins berühmter Satz stimmt, nach dem „die Grenzen meiner Sprache“ zugleich „die Grenzen meiner Welt“ bedeuten, dann überschreiten Radiohead diese Grenze zwar nicht, erweitern sie aber auf ganz entscheidende Weise: Hier wird die Technik, die uns von der Welt entfremdet, selbst als Medium eingesetzt, unsere Entfremdung von der Welt zu thematisieren.

Diese Verschiebung der Perspektive ist mehr als ein lustiges Stilmittel. Es ist, als hätten sie die technischen Möglichkeiten von innen durchdrungen und auf menschlichen Kurs gezwungen, anstatt sich ihren unendlichen Verheißungen zu unterwerfen. Ein humanistischer Gestus, den man hören kann. Ein Heilsversprechen. Hier klingt mechanisch, was Menschen machen und warm, was aus den Maschinen kommt. Neu ist das nicht. Neu ist, dass in dieser Musik beide Welten erhalten bleiben, ineinander verschlungen wie das Yin und Yang. Eine solche Musik überschreitet 2000 nicht einfach nur die Schwelle in ein neues Jahrezehnt. Sie IST dieses Jahrzehnt.

In ästhetischer Hinsicht haben wir es mit einem Paradigmenwechsel zu tun, dem entscheidenden Schritt von Radiohead 1.0 zu Radiohead 2.0. Weg von der Gitarre, hin zur Ondes Martenot, einem Protosynthesizer von 1928, wie er schon von Komponisten wie Olivier Messiaen eingesetzt wurde. Raus aus der Mühle, rein in die Freiheit. Dabei waren Radiohead nicht die ersten, die sich und ihrer Musik solche seins- und wahrnehmungstheoretischen Fragen stellten. Der deutsche Krautrock und vor allem Kraftwerk hatten hier Wege bereitet, aber auch akademische Theoretiker und Pioniere wie Paul Lansky, dem es um Kommunikation mit der Maschine ging. Ein Sample aus dessen extrem abstrakter Studie „Mild und Leise“ von 1973 bildet die melodische Grundlage für das verblüffend tanzbare „Idiotheque“.

Auch der Philosoph Theodor W. Adorno hat sich ausgiebig mit der Frage beschäftigt, ob es so etwas wie eine „autonome“ oder „freie“ Kunst im Rahmen kultureller Unfreiheit überhaupt geben kann. Gelten lässt der gestrenge Professor nur Werke der experimentellen Moderne wie etwa die des Zwölftontechnikers Arnold Schönberg. Pop dagegen könne immer nur Produkt sein, also dem Wechselspiel von Angebot und Nachfrage unterworfen, konsumierbar wie ein Fußballspiel oder ein Kinofilm. Die vielen allergischen Reaktionen, die das Album Kid A zunächst hervorrief, scheinen ihm recht zu geben: „Ihr solltet eine Popgruppe sein! Warum zum Teufel schreibt ihr nicht einfach Songs?“ Genau diese Haltung nahm auch der Popschriftsteller Nick Hornby in seiner zwiespältigen Rezension des Albums im „New Yorker“ ein. Er bemängelte, wir gäben Radiohead unser „hart verdientes Geld“, und Radiohead verlangten im Gegenzug frecherweise „die Geduld der Ergebenen“.

Der amerikanische Essayist Curtis White hat darauf hingewiesen, dass Kid A durchaus Kunst im Sinne Adornos ist. Das Album versammele wie ein musikalisches Museum fast sämtliche Strategien, konventionelle Marktmechanismen zu unterwandern. Dissonante Orchester sogenannter Neuer Musik („How To Disappear Completely“), Avantgarde-Jazz („The National Anthem“), surreal-ungegenständliche Lyrics („Treefingers“), das Rohe von Punk und Grunge und die Avantgarde der Beatles, das elektronische Ambiente des Brian Eno und psychedelische Gitarrenläufe, von Dada und avancierter Sample-Technik ganz zu schweigen.

Was Hornby einklagt, ist also genau das, was Radiohead sich demonstrativ abzuliefern weigern: Musik als Gebrauchsgut. Da ist kein „Ich“ mehr, wie noch in „Creep“, mit dem der Hörer sich bequem identifizieren könnte. Und da findet sich auch keine Spur mehr der üblichen Rockdynamik. Stattdessen warnt uns Thom Yorke auf Amnesiac sehr deutlich: „We are the dollars and cents / And the pounds and pence / The mark and the yen / We are going to crack your little souls.“

Denn jetzt, wo es um Dollars und Cents geht, wird es erst richtig interessant. Was passiert, wenn eine so radikale künstlerische Autonomie auf die Wirklichkeit trifft – also auf den Markt? Kurioserweise tauchte Kid A schon drei Monate vor dem offiziellen Veröffentlichungstermin auf der Filesharing-Plattform Napster auf – und ging dennoch, wie alle folgenden Alben der Band, in England mindestens in die Top 5 und in den USA auf Platz 1 der Charts. Anders als andere Gruppen, die eher aus Verzweiflung diesen Weg gehen, entschieden sich Radiohead nach Hail To The Thief und dem Auslaufen ihrer Verbindlichkeiten mit der Plattenfirma EMI bewusst dagegen, einen weiteren Vertrag abzuschließen.

Eine Feuerprobe für diese Entscheidung war die Veröffentlichung von In Rainbows 2007. Das Album wurde ohne Bedingungen zum Download angeboten, der zu entrichtende Kaufpreis dem Käufer anheimgestellt. Trotzdem verdiente die Band noch vor dem physischen Erscheinen der CD mit In Rainbows-Downloads mehr als mit Hail To The Thief insgesamt. Der Tonträger verkaufte sich fast zwei Millionen Mal, mehr als 30.000 Menschen bezahlten in der ersten Woche nach Veröffentlichung bei iTunes den vollen Preis für das Album, und von einer Deluxe-Box (Doppel-Vinyl, CD und Extra-Tracks) für rund 60 Euro gingen immerhin 100.000 Exemplare über die Theke. Radioheads Verhältnis zur Musikindustrie ist nicht revolutionär, sondern das eines Vogels zur Schwerkraft: Sie ist da, aber sie kann überwunden werden.

Das aktuelle Album The King Of Limbs schließlich ist geradezu überfallartig ins Netz gestellt worden, genaue Zahlen kennt man noch nicht. Es dürfte aber nicht gewagt sein, ihr einen ähnlichen Erfolg wie In Rainbows zu prognostizieren. Dass ein solches Geschäftsmodell unter kompletter Umgehung der Musikindustrie generell lohnenswert ist, beweist nicht zuletzt die Entscheidung von Nine Inch Nails, es genauso zu machen. Noch in den 90er-Jahren scheiterte eine Band wie Pearl Jam mit ähnlich ehrgeizigen Befreiungsversuchen daran, dass sie es sich mit Plattenfirmen oder Großhändlern wie Ticketmaster nachhaltig verscherzte.

Der Grund, warum Radiohead überhaupt noch als relevante Band wahrgenommen und nicht schon längst in der Versenkung verschwunden ist, ist ihre Glaubwürdigkeit. Es ist inzwischen üblich, über den Begriff der Authentizität im Pop die Nase zu rümpfen. Das zeigt, wie selten sie geworden ist. Schaut man sich in der musikalischen Landschaft der Nullerjahre um, entdeckt man kaum mehr Künstler, die nicht Vergangenes kapitalisieren würden. Einzig in der Elektronik mit ihren theoretisch unbegrenzten Mitteln gibt es, wenn auch verlangsamt, noch so etwas wie einen künstlerischen Fortschritt. Alles scheint wie eine gewaltige Galaxie, die sich unendlich langsam um sich selbst dreht. Alles bezieht sich auf irgendwas, jeder steht auf den Schultern eines Riesen. Dagegen ist nichts einzuwenden. Jeder klingt wie irgendwer.

Nur Radiohead klingen wie Radiohead. Sie sind integer, weil sie tun, was sie für richtig halten. Weil sie nicht von den Zinsen vergangener Großtaten leben, sondern ihr Kapital und ihr Talent und ihre Intelligenz mit jedem neuen Album in das geradezu prometheische Projekt investieren, etwas Gültiges über uns selbst zu erzählen. Und über die Falle, in der wir alle sitzen, ohne Ausnahme. Über den Abgrund, in den sie reichen. Darin besteht ihre Glaubwürdigkeit. Hinter der nervösen Grundspannung ihrer Musik schwebt dabei aber immer dieses diffuse Gefühl der Zärtlichkeit. Einer Menschlichkeit, deren Wert gerade darin liegt, dass sie sich höchstens in beseelte Musik, nicht aber in Worte fassen lässt. Im Prinzip ist ihre Haltung die des Punk, nur weniger präpotent, eben professioneller.

Dabei versuchen diese fünf Künstler einfach nur zu vermeiden, was Karl Marx als die „Entfremdung“ des Arbeiters von seinem Produkt bezeichnet hat. Diese Entfremdung kann nur vermieden werden, wenn die Arbeit mit Sinn aufgeladen ist. Radiohead geht es darum, das Richtige zu tun – sei’s in den atomisierten Mikrobeats von The King Of Limbs oder im Großen und Ganzen. Auf ihren Tourneen bucht die Gruppe nur solche Hallen, die mit Ökostrom betrieben werden. Es gibt keine Lastwagenflotte, weil das Equipment vor Ort gebucht wird, und sogar auf energiefressende Laser wurde zugunsten sparsamer LED-Tableaus verzichtet. Dieses romantisch-aktivistische „Hey, wir retten unseren Planeten!“ haben auch andere Gruppen im Programm. Bei Radiohead aber ist es nicht romantisch – sondern die logische Konsequenz einer Haltung, die zwischen Leben und Kunst keinen Unterschied macht. Wichtig ist nur, dass beides echt ist.

Radiohead betäuben und vernebeln nicht, sie wecken und klaren auf. Ein kleines Wunder, dass sie damit durchgekommen sind, dass sie sich tatsächlich haben freischwimmen können. Oder, wie Thom Yorke in dem neuen Stück „Codex“ singt: „Jump off the end / Into a clear lake / No one around / Just dragonflies / Flying to the side / No one gets hurt / You’ve done nothing wrong.“

Albumkritik ME 4/11

„Ist das Sondermüll?“

Experte Tim Renner zum Fall Radiohead: Marken und Bands bleiben wichtig, der Fetisch Tonträger wird verschwinden.

Seit der Vorstandsvorsitzende der Universal Music Group Deutschland 2004 das Unternehmen verlassen und mit seinem Buch „Kinder, der Tod ist gar nicht so schlimm“ seine Ansichten über die Musikindustrie verbreitet hat, ist Tim Renner als Kritiker überholter Branchenmechanismen viel zitiert worden. Gerade hat der Gründer der Firmengruppe Motor Entertainment sein neues Werk veröffentlicht: „Digital ist besser“. Das Vorgehen von Radiohead findet er clever und zukunftsorientiert.

Herr Renner, seit sich der Ton von seinem Träger gelöst hat, geht es mit der musikproduzierenden Industrie bergab. Der nachhaltige Erfolg von Radiohead legt nahe, dass es diese Industrie gar nicht mehr braucht. Stimmt das?

Es braucht nicht mehr zwingend jemanden, der CDs fertigt und in die Läden bringt, es braucht aber immer noch Leute, die helfen, Musikaufnahmen zu finanzieren und zu kommunizieren. Eine Musikindustrie in heutiger Form muss das aber nicht mehr sein.

Radiohead haben In Rainbows übers Netz quasi verschenkt – und danach trotzdem noch genügend „physische Exemplare“ verkauft, um in die Charts zu kommen. Wie erklären Sie sich diesen Erfolg?

Die deutsche Musikwirtschaft hat im vorigen Jahr noch 91 Prozent ihrer Umsätze mit physischen Gütern gemacht. Der Bedarf, etwas, das man besonders liebt, auch als CD oder LP zu besitzen, ist in unserer Generation durchaus noch gegeben. Auch ich kaufe mir noch Vinyl, wenn ich ein Album besonders mag. Es ist aber zweifelhaft, ob dieser Fetisch noch für Generationen interessant sein wird, die jetzt mit dem Internet aufwachsen.

Werden solche Aktionen – wie die von Radiohead – in der Musikindustrie überhaupt groß diskutiert? Und werden vielleicht sogar Lehren daraus gezogen?

Diskutiert werden sie, aber genauso schnell werden sie als „Ausnahme von der Regel“ vom Tisch gewischt. Fakt ist, dass die Industrie immer noch Berührungsängste mit dem Internet hat. Bedroht wird sie dort nicht primär von der Piraterie, sondern von der Auflösung des „Bundles“: Der digitale Kunde kauft nur, was ihm gefällt. Statt eines Albums, das man sich „schönhört“, werden nur die Songs heruntergeladen, die einem gefallen. Das ist natürlich weit weniger profitabel.

Für The King Of Limbs verlangen Radiohead nun wieder einen festen Preis. Ein Eingeständnis, dass die Gruppe ihr In Rainbows-Experiment bereut?

Nein, sondern die clevere Erkenntnis, dass es sinnvoll ist, eine Preismarke zu setzen. Bei In Rainbows hatte Radiohead noch den Vorteil, mit der Aktion eine Berichterstattung auszulösen, die zugleich eine gigantische Marketingkampagne für das Album war. Bei einer einfachen Wiederholung der Aktion wäre dieser Effekt ausgeblieben.

Es gibt dieses Argument: „Tja, Radiohead können das machen, weil sie groß genug sind.“ Würden Sie da zustimmen?

Jeder kann und sollte sein Album dann veröffentlichen, wenn es fertig ist, genauso wie Radiohead es tun. Gibt man es zuvor an die Medien, um durch viel Berichterstattung und Airplay möglichst hoch zu charten, zwingt man die Fans in die Tauschbörsen. Sein Album zu verschenken und zugleich zu verkaufen kann auch für Newcomer sehr sinnvoll sein. Die deutsche Gruppe Zoe.Leela ist ein perfektes Beispiel. Ohne die 170.000 Downloads, die sie verschenkt haben, hätte noch niemand von ihr Notiz genommen.

Halten Sie es für möglich, dass es zwischen der Musik und dem Weg, über den sie vertrieben wird, zu Rückkopplungen kommt?

Natürlich verändert das Netz das Werk. Einerseits gibt es die Möglichkeit, ein Album fragmentiert zu erwerben, andererseits einzelne Stücke direkt zu kommentieren. Entweder dort, wo man sie kauft, zum Beispiel bei iTunes, oder wo man sie konsumiert, zum Beispiel bei Soundcloud.

Zerstört das Downloaden von Musik nicht das Album als eigenständige Kunstform? Oder hat sich die ohnehin überlebt?

Das Album ist ein technisches, kein künstlerisches Phänomen. Nur weil die von Dr. Goldmark erfundene Vinylschallplatte schlecht klingt, wenn sie eine Spieldauer von 45 Minuten überschreitet, wurde vor 60 Jahren diese Länge gesetzt. Schellack bot nur für 7,5 Minuten pro Seite Platz. Die ursprüngliche Länge eines Werkes wird eher durch Kunstformen wie die Oper definiert. Da reden wir dann von in der Regel über zwei Stunden.

Pink Floyd haben erwirkt, dass es ihre Alben auch digital nur komplett zu erwerben gibt. Ist das altmodisch?

Das ist einfach nur unklug. Pink Floyd legen damit fest, dass man sie besser illegal herunterladen sollte.

Verve, Harvest, Saddle Creek, Compost – es gab und gibt noch Plattenfirmen, die als Marken wahrgenommen werden. Da wusste man, was man hat. Hat sich das überlebt?

Im Gegenteil, deshalb pflegen wir ja auch unsere Marke Motor. Je mehr Angebot und Möglichkeiten es im Netz gibt, desto wichtiger werden Marken, an denen sich der Konsument orientieren kann. In dieser Hinsicht war es ein fataler Fehler, dass Konzerne wie Universal, Sony, Warner und EMI dazu übergegangen sind, sich kaum mehr als Labels zu kommunizieren. Das soll sie sichtbar für die Aktionäre machen, macht sie aber in ihrer stylistischen Beliebigkeit somit irrelevant für den Konsumenten.

Ist Radiohead in diesem Sinne zu einer Marke geworden?

Jede etablierte Band ist ihre eigene Marke. Die Labels brauchen primär die Bands und Musiker, die sich als Marke erst noch etablieren müssen.

In Ihrem Buch „Kinder, der Tod ist gar nicht so schlimm“ empfehlen Sie unter anderem eine Flatrate zum Downloaden.

Musik ist die emotionalste aller Kunstformen. Wir hören sie schon im Mutterleib und unsere Eltern brachten uns mit Gute-Nacht-Liedern zu Bett. Man sollte aber niemals die Hand aufhalten, wenn es sehr emotional wird, das zerstört den Moment. Zumal: Die Konkurrenz ist auch eine Flatrate. Keine Tauschbörse verlangt, dass sie jedes Mal ans Zahlen denken, wenn sie Musik hören.

In Ihrem neuen Buch „Digital ist besser“ geißeln Sie zusammen mit Ihrem Bruder das Buchregal als Schaufenster des Bildungsbürgertums. Um die Plattensammlung wäre es auch nicht schade?

Doch und ebenso ums Bücherregal. Aber seit meine kleine Tochter mit ihrer CD-Sammlung in meiner Küche stand und mich freundlich fragte, ob das Haus- oder Sondermüll sei, weiß ich, dass diese Generation weder Bücher noch Platten erben will. Im Gegenteil, meine ältere Tochter hält mir gerne vor, dass jede CD, die wir unter das Volk bringen, 1,02 Kilo CO2 für das Klima produziert.

Arno Frankx{2028}

Mehr vom Kuchen

Die Statistik zeigt: Illegale Downloads bleiben ein Problem für die Musikindustrie. Radiohead reagieren effektiv darauf

Jammern gehört zum Handwerk einer Branche, die im Jahr 2002 in Deutschland beim Musikverkauf (physisch und digital) noch einen Gesamtumsatz von 2,2 Milliarden Euro verzeichnen konnte, inzwischen aber nur noch 1,53 Milliarden erzielt (Stand 2009, Quelle Bundesverband Musikindustrie). Das Internet bietet jeden gewünschten Song und jedes Album zum Download an, oft stehen sie bereits vor ihrer Veröffentlichung im Netz. Die jüngste GfK-Brennerstudie, die auf der Grundlage der Befragung von 10.000 Personen zeigen soll, in welchem Umfang widerrechtlich Musik aus dem Netz geladen wird, vermag der Industrie allerdings ein wenig Mut zu machen. Zwar lag demnach im Jahr 2009 der Anteil an illegal heruntergeladenen Songs mit 258 Mio. bei immer noch 70 Prozent aller Downloads, jedoch sind diese im Vergleich zu 2008 (316 Mio. Songs) um 6 Prozent zurückgegangen – der Verkauf auf iTunes & Co. legt laut der Studie stetig zu (38 Mio. Songs 2008 gegenüber 46 Mio. 2009). Erstaunlich: Der Umsatzanteil der physischen Tonträger, allen voran die CD, blieb in Deutschland stabil – 2002: 83 Prozent; 2009: 80 Prozent.

Die Vertriebsexperimente, die Radiohead wagen, sind eine Reaktion auf diese Herausforderungen. Ihre überfallartigen Veröffentlichungen sorgen dafür, dass die Musik nicht schon seit Wochen illegal im Netz steht, bevor der offizielle Verkaufsstart erfolgt. Außerdem entzieht sich die Band – zumindest bis zum nachgeschobenen CD-Release – der Plattenindustrie. Die Engländer treffen also nicht nur alle relevanten Entscheidungen selbst, sie sorgen vor allem dafür, dass es weniger Mitverdiener gibt. Vertrieb, Handel und Label fallen weg – die haben im CD-Zeitalter noch circa 60 Prozent vom Ladenpreis eingenommen. Der Künstler musste sich mit rund 10 Prozent begnügen. kra/ogö