Archie Shepp – St. Louis Blues

Als Pionier des Free Jazz ist Archie Shepp geradezu ein Youngster. Shepp zählt heute knapp 62 Jahre andere Pioniere zählen gar nichts mehr, weil sie längst unter der Erde liegen oder zumindest stramm auf die 70 zugehen. In den 60er Jahren legte der John Coltrane-Schüler Shepp einige wegweisende, in den 70er Jahren einige hervorragende und in den 80er und 90er Jahren einige mittelmäßige Alben vor-zuletzt das stark Blues- und Folk-verwurzelte SOMETHING TO LIVE FOR von 1996. Aber Archie Shepp ist trotz vordergründiger Harmoniesucht stets Visionär geblieben, einer der immer Zeit und Muse fand für Wagnisse, wie etwa seine improvisierten Duoaufnahmen mit Max Roach belegen. Shepps jüngstes Werk ST. LOUIS BLUES ist wieder ein starkes Stück musikalischer Vision geworden, worauf schon allein die Wahl der Begleiter hoffen ließ: Bassist Richard Davis (69) und Schlagzeuger Sunny Murray (61), deren Wege in den vergangenen fünf Jahrzehnten die von Sun Ra, Eric Dolphy, Albert Ayler, Cecil Taylor, Ornette Coleman und Don Cherry kreuzten. Im Standard „St. Louis Blues“ steckt Shepp zunächst die Grenzen seines Tenorsaxophons ab, um dann eine eindringliche Vorstellung als Blues-Sänger zu geben und im weiteren Verlauf des Albums nach und nach alle seine in Bop, Free und freier Improvisation erworbenen Tugenden auszuspielen. ST. LOUIS BLUES besticht mit atemberaubenden Duos von Shepp und Bassist Davis, solistischen Kabinettstückchen (Davis’gestrichene Soli), Murrays polyrhythmischem, variantenreichen Schlagzeugspiel, freiformaler Improvisation und einem Leader, der alles aus seinem Hörn herausholt und sich dabei ebenso als großer Lyriker, wie als Expressionist und Spieler voller Leidenschaft zeigt. ST. LOUIS BLUES ist ein reduziertes, aber keineswegs ein leises Album und Shepps bestes seit 20 Jahren.