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DEXYS MIDNIGHT RUNNERS

SEARCHING FOR THE YOUNG SOUL REBELS

EMI

Das Debütalbum der Soul-Popper aus Birmingham in einer weiteren Neuauflage.

2010 feierte SEARCHING FOR THE YOUNG SOUL REBELS, das Debütalbum von Dexys Midnight Runners, 30-jähriges Jubiläum. Aus diesem Anlass förderte man seinerzeit aus Archiven zahllose Preziosen wie Non-Album-Singles, B-Seiten, Demos und Radio-Sessions zutage -insgesamt gab es 21 Tracks auf einer Extra-CD. Drei Jahre später steht der Klassiker von 1980 erneut in den Läden: Anstatt im Digipak nun im Jewel-Case. Geblieben sind die 21 Zusatzsongs mit Coverversionen von Sam & Daves „Hold On! I’m Comin'“, Otis Reddings „Respect“ und „Soul Finger“ von den Bar-Kays. Beides Soul-Klassiker der 60er-Jahre, die das Konzept von Frontmann und Komponist Kevin Rowland, der seine Band nach der Wachmacherkultpille Dexedrine benannte, auf den Punkt bringen: SEARCHING FOR THE YOUNG SOUL REBELS versteht sich als huldvolle Reminiszenz an eine Ära, in der in den USA der Rhythm’n’Blues aus dem Schatten der Segregation trat und unter dem Namen Soul seinen Siegeszug um die Welt antrat. Mit einer fett arrangierten Brass-Sektion dekoriert Rowland seinen britischen White-Fake-Soul, der am effizientesten bei balladesken Mid-Tempo-Songs wie „I’m Just Looking“, „Keep It“, „I Couldn’t Help If I Tried“ sowie der Instrumentalnummer „The Teams That Meet In Caffs“ zur Geltung kommt. Am hellsten strahlt jedoch „Geno“, ohrwurmige UK-Nummer-eins und Hommage an Soul-Pionier Geno Washington, der Rowland und Co. den Aufstieg bescherte und im Zuge des Erfolgs ein Northern-Soul-Revival initiierte.

***** Mike Köhler

JULIAN COPE

SAINT JULIAN DELUXE

Island/Universal

Das zeitlose Pop-Juwel aus dem Jahr 1987 in einer „Expanded Edition“.

Ausgeprägter Druidenspleen, manische Krautrockbesessenheit, unkontrollierte Spielzeugsammelwut, unbändiger Appetit auf Halluzinogenes – Julian Copes Sturm- und Drangzeit war auch noch durch den steten Wechsel geprägt. Einen Gefallen mit seiner Egomanie tat sich der Brite nicht, der zum Karrierebeginn als Frontmann von The Teardrop Explodes in einem Atemzug mit Scott Walker genannt wurde. Unter der Führung des gestrengen Managers Cally Callomons riss sich Cope am Riemen – und gab nach seinem Rauswurf beim Label Mercury 1987 seinen Einstand bei Island mit dem zeitlosem Pop-Juwel: SAINT JULIAN. Angeschoben durch die dynamischen Hit-Singles „Trampolene“, „Eve’s Volcano (Covered In Sin)“ und „World Shut Your Mouth“ überzeugen zehn von Ed Stasium und Warne Livsey glücklicherweise nicht allzu sehr am damaligen Zeitgeist orientierte Tracks durch zweierlei: facettenreiche Arrangements sowie stringente Pop-Beseeltheit im Übermaß. Ein konzentrierter Volltreffer, den Julian Cope weder auf den Vorgängern WORLD SHUT YOUR MOUTH und FRIED, noch auf den zumindest in Ansätzen ähnlichen Nachfolgewerken MY NATION UNDERGROUND und THE PEGGY SUICIDE zu reproduzieren vermochte. Geschuldet ist die klare Linie von SAINT JULIAN, das auf dem Cover Cope in Jesus-Christus-Pose auf einem Schrottplatz zeigt, auch der kompakten Begleitband mit Gitarrist Donald Ross Skinner, Bassist James Eller, Schlagzeuger Chris Whitten sowie Keyboarder Richard Frost bzw. Double De Harrison, ein Pseudonym Copes. 14 zusätzliche Tracks, Singles-bzw. Maxi-B-Seiten, Remixe und Archivfundstücke, darunter „Umpteenth Unnatural Blues“,“Warwick The Kingmaker“ und das 13th-Floor-Elevators-Cover „I’ve Got Levitation“, füllen die zweite CD.

***** Mike Köhler

KLAUS DINGER & JAPANDORF

JAPANDORF

Grönland/Rough Trade (VÖ: 25.3.)

Endlich erscheint das Material, an dem Krautrock-Pionier Klaus Dinger kurz vor seinem Tod arbeitete.

2008 starb Klaus Dinger an einem Herzinfarkt. Fünf Jahre später erscheint jenes Material, an dem eine der zentralen Figuren des Krautrock kurz vor seinem Tod arbeitete. Dinger, der die nach der Auflösung von Neu! gegründeten La Düsseldorf lange im Alleingang betrieb, hatte sich kurz vor seinem Tod in der großen japanischen Community seiner Heimatstadt neue Mitstreiter gesucht. Dieser Einfluss hat nicht nur im Titel von JAPANDORF seine Spuren hinterlassen. Schon der Einstieg „Immermannstraße“, eine Hymne auf die Schlagader der japanischen Gemeinde in Düsseldorf, wird nicht nur mit japanischem Akzent vorgetragen, sondern zitiert mit fröhlich hüpfenden Synthies und mädchenhaftem Gesang die Klischees, mit denen japanische Popmusik zu kämpfen hat. Später werden noch ein Nudelsuppen-Rezept aufgesagt, ein Loblied auf Reiscracker gesungen und der La-Düsseldorf-Klassiker „Cha Cha 2000“ japanisiert. So viel Konzept hinter JAPANDORF steht, so disparat aber ist das Album: Field Recordings stehen neben hypnotischen Gitarrenrock-Improvisationen, lustige Pop-Hits neben avantgardistischen Spielereien. Deutlich zu hören ist, was für ein großartiger musikalischer Querdenker uns 2008 verlassen hat.

**** Thomas Winkler

DIVERSE

DEUTSCHE ELEKTRONISCHE MUSIK 2

Soul Jazz Records/Indigo

Eine essenzielle Zusammenstellung. In der zweiten Ausgabe der Krautund Elektro-Retrospektive werden Pioniere, Außenseiter und nachfolgende new-wave-sozialisierte Musiker vorgestellt.

Von der 68er-Revolte hätten Can eines mitgenommen, hat Holger Czukay einmal gesagt: die Bereitschaft zur musikalischen Selbstermächtigung. Das bedeutete für die Bandmitglieder, mit den Sounds, die sie vorfanden oder im Studio generierten, noch einmal bei Adam & Eva anzufangen -oder bei Karlheinz Stockhausen. Ein aus Neugierde und gehöriger Distanz zur großen angloamerikanischen Rock’n’Roll-Erzählung geborenes Projekt, das so oder ganz ähnlich von vielen deutschen Bands mit Beginn der 1970er-Jahre betrieben wurde und längst eigene Erzählungen generiert hat: die des Krautrock und der elektronischen Musik. Das Schöne daran ist, dass diese Erzählungen sich beständig aus den Archiven weiter schreiben. Neben Can, Neu!, Faust, Amon Düül und Popol Vuh darf das interessierte Publikum Bands wie A. R. & Machines (grandioser Elektro-Western), Niagara (experimenteller Percussion-Workshop feat. Udo Lindenberg) und die Bonner Jam-Combo Electric Sandwich kennenlernen, die futuristische Höhlenmusik von Asmus Tietchens und die edelweiße Heimatmusik von Sergius Golowin bestaunen. Das zweieinhalbstündige Programm der zweiten Ausgabe der Reihe DEUTSCHE ELEKTRONISCHE MUSIK reicht bis hin zu den Vertretern der nachfolgenden new-wave-sozialisierten Elektro-Generation in den frühen 1980er-Jahren (DAF, Pyrolator) und lässt damit Verbindungsstränge über ein ganzes Jahrzehnt hinweg hörbar werden. Die Compiler vom britischen Soul-Jazz-Label haben wieder einen ausgezeichneten Job gemacht, die Sleeve Notes von Krautrockforscher David Stubbs runden die Compilation hervorragend ab. Und der zuletzt mit einer Retrospektive gefeierte Conny Plank taucht hier als Co-Produzent von Eno, Moebius & Roedelius auf.

***** Frank Sawatzki

MARIANNE FAITHFULL

BROKEN ENGLISH – DELUXE EDITION

Universal

Die einstige Stones-Muse raunt zu eisigem New-Wave-Backing mit Grabesstimme von Sex und Gewalt, Drogen und Depression

Shocking, indeed: Dass Marianne Faithfull nicht das durchschnittlich naive Pop-Babe von nebenan ist, war einem schon klar, als sie noch als engelsgleiche Stones-Muse durch das Swinging London der Sechziger schwebte und „As Tears Go By“ wisperte. Doch nichts, aber auch gar nichts hatte einen auf BROKEN ENGLISH vorbereitet. Mit einer durch Kippen, Koks und Cognac gänzlich ruinierten Stimme raspelte sie sich auf diesem 1979 erschienenen Album durch eine Kollektion kühl-kaputter New-Wave-Songs aus der Zwielichtzone von Sex und Gewalt, Drogen und Depression. Es war dies Katharsis, aber auch ein Akt der Selbstvergewisserung der damals 33-Jährigen. Der Titeltrack geriet zur Ode an die RAF-Terroristin Ulrike Meinhof, „Witches‘ Song“, das unfassbar grausame „Why D’Ya Do It“ und das notorische „The Ballad Of Lucy Jordan“ erzählen einem heute noch mehr über die Unterdrückung von Frauen und den Kampf, den sie für ihre Rechte, für ihre Träume, für ein selbstbestimmtes Leben kämpfen, als zehn „Emma“-Jahrgänge. Die Unerbittlichkeit ihrer Adaption von John Lennons „Working Class Hero“ mit der stoischen Bassline und den kristallinen Gitarreneruptionen lässt einen auch mehr als drei Dekaden nach dem ersten Hören noch frösteln. Denken Sie sich einen Mix aus der A-Seite von Bowies LOW, aus Iggy Pops THE IDIOT und TALKING HEADS ’77, dazu die Stimme einer Frau, die in der Hölle war und zurückgekehrt ist, uns davon zu berichten – und Sie haben eine ungefähre Vorstellung von BROKEN ENGLISH, das jetzt als Deluxe-Edition wiederveröffentlicht wurde: mit dem neu abgemischten Originalalbum plus einem Kurzfilm von Derek Jarman auf CD 1 sowie dem Originalmix, einigen Remixen und einem 1982 aufgenommenen Remake des Stones-Klassikers „Sister Morphine“ auf CD 2. Welch ein hypnotischer, faszinierender Trip.

***** Peter Felkel

JIMI HENDRIX

PEOPLE, HELL & ANGELS

Legacy/Sony Music

Rock: Archivauswertung, die gefühlt tausendste: Zum 70. Geburtstag ein weiteres posthumes Werk des Gitarrenvirtuosen.

Als Jimi Hendrix am 18. September 1970 unter noch immer nicht restlos geklärten Umständen in einem Londoner Hotelzimmer mit 27 Jahren starb, hinterließ er eine ganze Menge: Eine seither vakante Stelle als weltbester Gitarrenvirtuose an der Schnittstelle von Rock, Blues und Funk, viele offene Fragen und unzählige unveröffentlichte Aufnahmen. Die Leichenfledderei begann, als im Frühjahr 1971 mit THE CRY OF LOVE das erste von mittlerweile zehn posthumen Alben erschien – obskure Werke der Prä-Experience-Ära, Jam-Sessions und Konzertmitschnitte nicht mitgerechnet. Dem Treiben wurde erst ein Riegel vorgeschoben, als Halbschwester Janie Hendrix die Rechte am Erbe zugesprochen bekam. Unter der Ägide von Eddie Kramer, Toningenieur von Hendrix, Janie Hendrix sowie John McDermott setzt PEOPLE, HELL AND ANGELS da an, wo VALLEYS OF NEPTUNE im Jahr 2010 endete: in der Phase kurz vor und nach Auflösung der originalen Hendrix Experience. Noch unentschlossen, was seine zukünftige Stilausrichtung anbelangt, aber ernorm experimentierfreudig zeichnete Hendrix Hunderte von Stunden Musik in diversen Studios mit zahllosen Gästen auf, darunter Saxofonist Lonnie Youngblood („Let Me Move You“), Stephen Stills („Somewhere“) sowie Pianist James Booker & The Ghetto Fighters. Drei Varianten kristallisierten sich heraus – allesamt mehr oder minder auf Rock-Funk-Fusion geeicht: Kurzlebig blieb sowohl die Woodstock-Besetzung Gypsy Sun And Rainbows mit Zweitgitarrist Larry Lee sowie zwei Percussionisten („Izabella“, „Easy Blues“) als auch die auf Improvisation ausgerichtete Band Of Gypsies mit Bassist Billy Cox und Schlagzeuger Buddy Miles, die sich auf „Hey Gypsy Boy“, „Hear My Train A Comin'“, „Earth Blues“ und Elmore James‘ „Bleeding Heart“ verewigt. Cox zählt mit Ur-Schlagzeuger Mitch Mitchell bis zum Tod von Hendrix zur Zweitauflage der Jimi Hendrix Experience. Auf „Inside Out“ sind allerdings nur Mitchell und Hendrix an Gitarre und Bass zu hören.

***** Mike Köhler

FLEETWOOD MAC

RUMOURS – 35TH ANNIVERSARY EDITION

Rhino/Warner

Wie einmal beinahe der Heilige Gral des Pop gefunden wurde.

Höchstwahrscheinlich werden Fleetwood Mac als die Band mit einem der komplexesten internen Liebesbeziehungsgeflechte in die Geschichte der Popmusik eingehen. Sie alleine darauf zu reduzieren, wäre allerdings ein wenig unfair: Denn neben viel Stoff für die Boulevardpresse und ein paar recht netten Bluesnummern aus ihren ersten Jahren mit Peter Green hat die britisch-amerikanische Band vor allem eine grandiose Platte hinterlassen. RUMOURS aus dem Jahr 1977 verarbeitete nicht nur eine unüberschaubare Anzahl von Trennungen und wurde weltweit über 40 Millionen Mal verkauft, sondern kommt auch tatsächlich ziemlich nah heran an den Heiligen Gral: das perfekte Pop-Album. Zum 35-jährigen Jubiläum erscheint nun eine üppige Wiederveröffentlichung aus drei CDs. Auf der ersten sind die remasterten Album-Versionen, auf der zweiten Live-Aufnahmen von der RUMOURS-Tour 1977 und auf der dritten alternative Aufnahmen aus den Sessions, die Schätze also: Die unglaubliche Intimität einer allein von Klavier gestützten Demo-Version von Christine McVies „Songbird“, das rachenreinigende Husten von Stevie Nicks, bevor sie den zweiten Take von „Dreams“ anstimmt, oder eine frühe Aufnahme von „The Chain“, die zwar auf die großartige Dramatik des Songs verzichtet, aber ihn in akustischer Klarheit erst recht erstrahlen lässt. Was aber vor allem nun zu hören, nachzuvollziehen ist: Wie weit der Weg noch ist von ein paar guten Ideen und ein paar Melodien zu der nahezu perfekten Pop-Platte – und wie unerreichbar er doch bleibt, der Heilige Gral.

****** Thomas Winkler

MOEBIUS &PLANK

EN ROUTE

Bureau B/Indigo

Die analoge Synthie-Avantgarde klingt heute wieder zeitgemäß.

Es konnte ja keiner wissen damals, dass der analoge Synthesizer ein solches Revival erleben würde. 1986, als Dieter Moebius und Conny Plank EN ROUTE aufnahmen, hatte die digitale Konkurrenz begonnen erschwinglich zu werden – und sollte das Klangbild der Popmusik prägen. Das letzte von fünf Alben, die der Elektro-Pionier und der Studiotüftler gemeinsam einspielten, hörte sich in den Achtzigern im Vergleich zum futuristischen Sounddesign, das Synclavier und Fairlight ermöglichten, antiquiert an. Nun aber wirken die Tracks plötzlich wieder zeitgemäß. Moebius & Plank halten mit repetitiven Strukturen tapfer an dem fest, was sie ein Jahrzehnt früher gelernt haben, aber hübschen den Krautrock mit einer gehörigen Portion Humor auf.

**** Thomas Winkler

ROEDELIUS

SELECTED PIECES 1990 TO 2011

Mule Musiq/Kompakt

Zwischen minimalistischer elektronischer Musik und neo-klassischer Kammermusik: Bislang Unveröffentlichtes des Avantgardisten.

Man kann schon mal ins Grübeln kommen in Zusammenhang mit Hans-Joachim Roedelius und der schieren Flut von Wieder- und Neuveröffentlichungen auf den verschiedensten Labels (absolut vorbildlich: Bureau B) und in den unterschiedlichsten künstlerischen Konstellationen. Wo nimmt der Mann die Zeit her? Die Antwort dürfte erstaunlich einfach ausfallen: Wenn ein Künstler seine Kunst ernst nimmt, sie nicht vorrangig als Geschäftsmodell sieht und den „Bedürfnissen des Marktes“ anpasst und sich ihr -sagen wir mal – lediglich sechs Stunden am Tag widmet, sammelt sich einiges an im Lauf von mehr als vier Jahrzehnten. Jetzt hat der 78-jährige Komponist, Musiker und Pianist (Kluster, Cluster, Harmonia, Qluster) elf unveröffentlichte Aufnahmen aus den Jahren 1990 bis 2011 dem Label Mule Musiq zur Verfügung gestellt. Auffällig, aber durchaus erwartbar, dass die Tracks sich der zeitlichen Zuordnung entziehen und als Einheit wirken. Zwischen minimalistischer elektronischer Musik und neo-klassischer Kammermusik, die mal mehr, mal weniger stark dem Experiment verpflichtet ist, aber zu jeder Zeit vollkommen aus allen denkbaren Popkontexten herausgelöst ist.

**** Albert Koch

MARCOS VALLE

MARCOS VALLE GARRA VENTO SUL PREVISAO DO TEMPO

Light In The Attic/Cargo

Hier finden Bossa Nova, Psychedelic Pop und Orchestermusik in der Tradition Jobims wie im Traum zusammen.

Es gibt diese Szene in Pedro Almodovars Film „Sprich mit ihr“, in der Caetano Veloso „Cucurrucucú Paloma“ singt und all die spanischen Damen im Publikum beinahe wegsinken vor Verzauberung. Veloso konnte das Lied so zärtlich wie kaum ein Zweiter gurren, man hätte es gerne von Marcos Valle gehört. Der Sänger und Pianist hat „Cucurrucucú Paloma“ nie aufgenommen, er suchte in den Jahren der Militärdiktatur auch nicht das Exil in Europa wie sein Kollege Veloso. Valle hat aber in der Geschichte der populären brasilianischen Musik eine der Hauptrollen in der Fortschreibung der Tropicália inne, jener von Veloso, Gilberto Gil und Tom Zé 1968 ins Leben gerufenen Kunst-und Kultur-Bewegung, die Bossa Nova und Samba für Rock-Einflüsse öffnete und mit Soul, Funk, Afrobeat und der Musique concrète bekannt machte. Anfang der 1970er-Jahre stellten die Plattenfirmen in Brasilien den Künstlern regelmäßig Orchester zur Verfügung, Valle ließ die Songs auf seinen ersten vier Alben ganz wunderbar von Streichern und Bläsergruppen umspülen. Auf GARRA (1971) wusste er seine politischen Anspielungen und sozialen Kommentare an der Zensur vorbeizuspielen. Mit „Wanda Vidal“ enthält die Platte einen Rare-Groove-Klassiker, mit „Paz e Futebol“ gelingt Valle eine Übersetzung des „Carpe diem“ ins Brasilianische: Genieße dein Leben, in Frieden und mit Fußball. Auf VENTO DO SUL (1972) und PREVISAO DO TEMPO (1973) bewegte Valle sich sachte in Richtung Progressive Rock; jethrotullige Querflöten, E-Gitarren und die Chöre verleihen den Songs eine sanfte psychedelische Brise. Hier entstand eine aus den verschiedenen Stilen zusammenfließende Traummusik. Wie selbstvergessen auch Marcos Valle zu gurren in der Lage war, ist „Paisagem Di Mariana“ zu entnehmen. So lieblich konnte der Prog Rock nur in Brasilien sein.

****1/2 Frank Sawatzki